Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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204 Enzio an Caecilie.

Ich habe kaum Zeit zum Schreiben. Aber ich muß Dir sagen, wie glücklich ich jetzt bin. Mein früheres Schwanken ist vorüber, ich fühle, daß ich in meinem richtigen Berufe lebe. Meine Professoren mögen mich sämtlich gern und scheinen viel von mir zu halten. Meinem Kompositionslehrer habe ich die besten von meinen letzten Arbeiten vorgespielt, er hat sich ähnlich darüber geäußert wie Richard, nur sicherer, bestimmter, denn inzwischen bin ich ja wieder ein großes Stück vorwärtsgekommen. Ich soll aber vorläufig nicht an eigene Musik denken. Das will ich auch nicht, aber ich kann nicht anders. Auf einem Spazierweg fiel mir ein grandioses Thema ein, und gestern abend im Bett eine Adagio-Melodie, die so herrlich war, daß ich sofort aufsprang, Licht machte und sie genau so klar aufschrieb, wie sie mir gekommen war. Ich konnte lange nicht einschlafen. Heute zeigte ich beide vor, meinem Lehrer gefielen sie sehr gut als Einfall, aber wie ich sagte, ich wolle sie für eine Symphonie verwenden, lachte er, als wenn ich einen Witz gemacht hätte. Ich soll höchstens kleinere Sachen komponieren, Lieder etwa. Ich lerne Partituren lesen und spielen, und Instrumentation. Alles geht mir zu langsam. Mir ist, als tränke ich an einem riesigen Becher und müßte ihn 205 gleich auf einmal austrinken. Alles ist so unübersehbar, und man möchte es doch gleich übersehn können! Abends gehe ich viel in Konzerte und Theater, ich bekomme jetzt erst einen Begriff, was ein Orchester ist. Das unsrige zu Hause, am Hoftheater, kommt mir beinah vor wie eine etwas erweiterte Kammermusik, so gemütlich und ahnungslos. Ich schreibe Dir bald wieder, ich kann jetzt nicht mehr.

Caecilie an Enzio.

Deine Briefe beglücken mich! Ich weiß es ja so genau, Enzio, daß Du für keinen andern Beruf bestimmt bist als für den Musiker! Ich wußte es auch, daß Deine Lehrer erkennen würden, daß etwas in Dir steckt!

Deine Wohnung ist sehr teuer, aber wenn sie dafür schön ist, so schadet es nichts. Zwei Zimmer mußt Du natürlich haben. Und da Du einen Flügel brauchst, mußte das eine auch recht groß sein. Daß es einen langen Balkon hat, auf dem Du morgens frühstückst, und daß die ganze Wohnung nicht in der Stadt ist, sondern draußen, mit Aussicht in den Wald hinunter, freut mich besonders. Bitte, stelle mir aber eine endgültige Liste zusammen von den Dingen, die ich Dir schicken soll, und erbitte nicht jedes Stück immer einzeln auf einer Postkarte. Das können wir einfacher haben. 206 Eine große Markise für den Balkon ist notwendig, wenn keine da ist; frag mich nicht nach solchen Dingen. Ich schicke Dir eine neue Postanweisung.

Wie freue ich mich, daß Du Richard kennen gelernt hast! Wir sind oft zusammen, erst kam er manchmal deinetwegen, aber jetzt kommt er auch ohne Anlaß. Mit Deinem Vater steht er längst nicht so gut wie mit mir. Ich glaube, die beiden mögen sich heimlich nicht, obgleich Richard natürlich viel zu taktvoll ist, je ein Wort über ihn zu sprechen, das nicht voll Respekt und Anerkennung wäre. Aber in seiner Gegenwart ist er stiller, und das steckt mich dann unwillkürlich an. Es ist merkwürdig, was für eine Reife des Urteils er hat. Und dann fühle ich immer wieder: Er ist eine durch und durch vornehme, reine Natur.

Richard war krank, eine ganze Woche lang. Ich besuchte ihn oft und habe seine Mutter kennen gelernt. Eine sonderbare Frau! Sie sah mich mehrmals an, als wenn sie sagen wollte: Nachdem Sie Ihr Hühnchen in Gelee gebracht haben, könnten Sie nun wieder fortgehen! Ich glaube, sie hängt mit leidenschaftlicher Liebe an diesem Sohne, sie hat etwas von einer Adlermutter an sich. Ihre tiefliegenden Augen sind beinah fanatisch in ihrem Blick. Wie bescheiden leben sie, und aus was für hochkultivierten Verhältnissen stammen sie ursprünglich! Du hast mir auch niemals von dem Bild 207 erzählt, das über dem Sofa hängt, von dem Ritter mit dem Stahlhelm und dem hellblonden Haar. Du wußtest wahrscheinlich nicht, daß das ein Selbstporträt von Richards Vater ist; ich erkannte ihn sofort an der Ähnlichkeit der Augenstellung. Wie eng und klein und ohne Licht sind ihre Räumlichkeiten! Wie gerne möchte ich ihnen meine Hilfe anbieten! Aber das wage ich nicht. Sie benehmen sich in dieser ärmlichen Umgebung mit einer Selbstverständlichkeit, als wenn es schöne, weite Räume wären, ich habe sogar das Gefühl, als wenn Richards Mutter irgendwie versessen wäre auf diese Eingeschränktheit, und auch nicht anders leben würde, wenn sie es könnte. Die letzten Male, als ich fortging, war sie etwas freundlicher. Ich habe eine Idee, als wenn Richard sie darum gebeten hätte. Nach Dir hat sie sich zuweilen erkundigt, mit einem fernen Wohlwollen, das aber im Grunde doch wohl Gleichgültigkeit ist. Ich nehme ihr das nicht übel. Mütter sind verschieden, und sie hat das Recht, diesen Sohn ausschließlich und so fanatisch zu lieben wie sie tut.

Denke Dir, Irene hat jetzt einen Drachen. Ich war am Vorabend ihres Geburtstages dort und brachte ihr eine Blume. Da fragte ihre Mutter sie, ob sie nicht noch einen Wunsch habe. Du weißt, Irene äußert sich so wenig! Jetzt dachte sie nach und sagte: Ich möchte einen Drachen! Das 208 klang bei ihr ganz selbstverständlich. Ihre Mutter meinte: So, einen Drachen willst du . . . Ja, das denke ich mir ganz schön! – so, als ob sie ihn schon irgendwo im Blauen schweben sähe. Für diese Familie gelten ganz andere Voraussetzungen als für andere. Weißt Du, daß es die Lieblingsbeschäftigung ihres Vaters ist, nach »Feierabend«, wie er sagt, Seifenblasen steigen zu lassen von der Veranda aus? – Irene versteht es nicht, ihrem Drachen den ersten Auftrieb zu geben. Deshalb muß Richard manchmal mit. Er sagt, es sähe schön aus, wenn Irene so hoch in den Himmel schaute nach dem kleinen weißen Ding dort oben, und den Faden immer weiter gehen ließe. Ihr Vater hat zu ihr gesagt, sie müsse den Drachen taufen, so wie ein Schiff, und hat sie halb neckend gefragt, ob sie ihn nicht Enzio nennen wolle. Da sagte sie ganz ernsthaft: Wenn er einen Namen haben muß, heißt er natürlich Enzio. Das wird Dich freuen.

Richard hat mir etwas Niedliches erzählt: Kürzlich begegnet er auf der Straße einem jungen Mädchen, das ihn mit verlegenen und runden Augen ansieht, stehen bleibt und fragt: Nicht wahr, Sie sind der Freund von Enzio? Dann erkundigt sie sich nach Dir, ob Du denn nicht mehr in der Stadt seiest, sie sähe Dich ja nie mehr mit ihm zusammen. Schließlich bekam er heraus, daß dies die Pimpernell war, von der Du ihm früher wohl erzählt 209 hast. Sie sagte, Du kennest sie schon längst nicht mehr, sie habe einmal etwas Schreckliches getan. Jetzt habe sie sich innerlich und äußerlich verändert: Sie mache Puppen, für ein Geschäft, das ihr diese Arbeiten recht gut bezahle. Die Trennung von ihren Eltern habe durchaus »in Güte« stattgefunden, sie sähe sie noch Sonntags zum Mittagessen; sie wäre eine »solide Arbeiterin in ihrem Fach geworden«. Er fragte sie, ob sie Deine Adresse haben wolle, aber sie antwortete: Grüßen Sie ihn, wenn Sie das wollen, mehr kann ich nicht zugestehn. Und dann, als sie ihm adieu sagte, grüßte sie ihn selbst plötzlich auf eine so gemessene und beinah schroffe Weise, als hätte er sich ihr vorher auf eine zudringliche Art genähert. Eine komische Person!

Enzio an den Kapellmeister.

Daß Du mir vorwirfst, ich gäbe soviel Geld aus, macht mich traurig. Ich weiß nicht, wo ich sparen soll. Ich habe nur zwei Zimmer, nicht einmal ein Badezimmer, so daß ich mir eine Gummiwanne und einen englischen Waschapparat kaufen mußte. Im Essen kann ich auch nicht sparen, da man sich anständig nähren muß. Ich würde bald kaput sein, wenn ich in diese kleinen billigen Restaurants gehen müßte, in denen die Konservatoristen meistens essen. Alle sagen, essen sei die Hauptsache und Grundbedingung für gleichbleibende 210 Leistungsfähigkeit, die sie natürlich nicht haben, weil sie zu wenig essen. Mittags Wein trinken bin ich von zu Hause gewöhnt. Gut kleiden muß ich mich doch ebenfalls, ich mag nun einmal nur Allerbestes, und bin auch so erzogen worden. Das übrige geht für Konzerte und Theater drauf, was zu meinem Studium gehört. Lieber gehe ich gar nicht, als auf schlechte Plätze. Ich lebe wirklich nicht kostspieliger, als ich von zu Hause gewöhnt bin. Ich kann jetzt nicht mehr schreiben, ich habe eine Verabredung, und der Brief soll schnell fort.

Enzio an Richard.

Richard, ich begreife nicht, daß Du mir nicht schreibst! Du bist doch längst wieder gesund! Ist irgend etwas vorgefallen? Wie ich erfahre, siehst Du jetzt Irene häufig. Ist das der Grund, weswegen Du mir nicht schreibst? Du mußt ganz offen zu mir sein; ich bin nicht mehr so kindisch wie früher. Außerdem kenne ich Dich jetzt zu gut.

Ich dachte gar nicht daran, daß es Pimpernell noch gibt. Ich habe immer das Gefühl, als müßten alle Menschen so bleiben, wie man sie selbst gekannt hat. Sie war übrigens reizend! Es ist, glaube ich, mehr hinter ihr als man denkt. Es würde mich sehr freuen, wenn Du näher mit ihr bekannt würdest.

211 Ich war diese Tage in einer wahnsinnigen Verfassung und ich bin es noch. Ich habe die Nibelungen gehört, vier Abende hintereinander. Ich hatte keine Ahnung, daß es so etwas gibt! Daß eine Musik soweit in ihren »Ausdrucksmöglichkeiten« gehen kann, um ein Wort zu gebrauchen, das man hier überall hört unter den Musikern. Ich war wie betrunken, habe mir sofort die Klavierauszüge gekauft, die Partituren geliehen, und kann kaum noch etwas anderes denken als diese Tonwelt! Bei uns zu Haus am Theater kam man ja nie über den Lohengrin hinaus, höchstens noch die Meistersinger, die ich ganz früher einmal gehört habe und damals nicht verstand, und die außerdem schrecklich zurecht geschnitten waren, wie mein Vater selber sagte, wegen unserer primitiven Mittel am Theater.

Ich fange an, mühsam die Partituren zu lesen. Den Don Juan hörte ich neulich wieder, aber ich weiß nicht, diese Musik sagt mir fast nichts. Sie kommt mir recht antiquiert vor. Vielleicht fehlen mir aber nur die richtigen Zugänge zu Mozart. Ich bewundere die Kunst, mit der das alles gemacht ist, aber sie berührt mich innerlich nicht. Die Zeit muß doch eine große Macht ausüben auf alles was geschaffen wird. An ein paar Stellen allerdings hat es mich durchschauert, da war mir plötzlich, als sähe ich anstatt in ein frohes, heiteres 212 Gesicht in ein furchtbares, ewiges, unerbittliches, beinah unmenschliches, ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.

Ich muß jetzt viel Bach studieren, um das Kontrapunktliche zu lernen; das habe ich ja schon bei meinem Vater durchgemacht, muß es aber noch einmal und gründlicher. Ich werde wieder geelendet mit Fugenschreiben. Haben die heutzutage wohl noch einen Sinn?

Meine Mutter schrieb mir, daß Du sie zuweilen besuchst; auch, daß sie bei Euch war. Geh nur recht oft zu ihr.

Richard an Enzio.

Zunächst: daß ich bis jetzt nicht schrieb, lag an meiner Krankheit, auch daran, daß ich Deine Mutter so oft sehe, und Du weißt, ich habe nicht viel freie Zeit. Was hast Du für eine gute Mutter, Enzio! Sie lebt nur in Dir, jede Zeile von Dir ist ihr eine Reliquie, und wenn sie gern mit mir zusammen ist, so ist es zum größten Teil deshalb, weil ich Dein Freund bin. Als ich krank war, kam sie täglich; ich brauche nicht zu sagen, welche Wohltat und Erleichterung das für uns bedeutete. Sie dachte an alles, nicht nur an das Nächste und Nähere, sondern an Dinge, an die eben nur ein Mensch denkt, der sich ganz mit den Sorgen eines 213 andern identifiziert. Und wie vieles ist sonst in ihr, von dem ich keine Ahnung hatte! Welche Frische und Jugendlichkeit kann sie zuweilen haben, als sei sie eigentlich ein anderer Mensch, als sie sich gewöhnlich zeigt. Ich habe das Gefühl, als sei manche Seite ihres Wesens bis jetzt nur noch nicht recht zum Entfalten gekommen. Sie hat viel gelesen, aber von moderner Literatur kennt sie fast nichts. Ich habe sie auf manches hingewiesen, was mich selbst beschäftigt, und ich bin erstaunt über ihre Aufnahmefähigkeit. Ein paarmal las ich ihr zufällig vor, daraus sind allmählich feste Stunden geworden. Meine Mutter sieht es, glaube ich, nicht gerne und denkt, ich zersplittere mich zu viel, aber das ist meine Sache. Ich weiß nicht, was Dein Vater gegen mich hat. Er ist sonderbar in seinem Wesen. Vor ein paar Tagen begegnete ich ihm mit der Battoni im Park. Kurz, ehe ich an ihnen vorbeikam, sagte er irgend etwas zu ihr, was sich auf mich zu beziehen schien, und beide sahen mich dann halb verlegen an. Vielleicht dachten sie, ich hätte es gehört.

Neulich hatten wir einen Konzertabend, an dem eine »unvollendete Symphonie in H-Moll« von Deinem Vater aufgeführt ward. Der Titel und auch das »H-Moll« forderte unwillkürlich zu einem gewissen Vergleich heraus, der für ihn nicht günstig ausfiel.

214 Stürz Dich nur jetzt in die Musik der Nibelungen und berausche Dich an ihr, – man kann sie nicht anders als im Rausch genießen. Wagner ist ein Magier, ein Zauberer, sein Name schließt eine Welt in sich, die einzig dasteht. Aber um diese Welt liegt keine reine, himmlische Atmosphäre, es ist, als entstiegen aus allen ihren Poren narkotisierende, betäubende, süße Dämpfe, die die Seele einhüllen; sie knechtet die Empfindungen anstatt sie zu befreien. Und in diesem Geknechtetsein liegt die ganze Wollust ihres Zaubers, der etwas Verruchtes an sich hat. Der Venusberg des Tannhäusers ist mir ein Symbol für Wagners Kunst; es ist, als sei sie gleichsam unterirdisch abgeschlossen, dumpf umwölbt von einer Riesenhöhle, die den Himmel nicht mehr sehn läßt. Und der Tannhäuser selbst kommt mir vor wie einer, der sich gewaltsam aus dieser Welt, die ihn zu ersticken droht, befreit – es hat etwas Erschütterndes an sich, wie er wieder zum erstenmal die Hirtenflöte des freien Tales hört, wie wenn Wagner sich selbst den Rücken kehren möchte zu einer andern Welt hin. Solche Töne der Natur hat er öfter getroffen und jedesmal wirken sie auf mich wie die Rufe eines Träumenden, der sich befreien möchte von dem Alpdruck seines Traumes, wie ein visionärer Blick in ein verschlossenes, fernes Paradies. Das Erlebnis »Wagner« ist ganz anders als alle andern 215 künstlerischen Erlebnisse. Es wirkt nicht rein als Kunst, es wirkt persönlich. Wie wenn man jahrelang unter dem Einfluß eines dämonischen Menschen gestanden hätte, bis man aus Selbsterhaltungstrieb diesen Einfluß endlich von sich abschüttelt. Und ist es gelungen, ist einmal der Bann gebrochen, dann sehen einen wieder wie aus der Ferne zwei Menschenaugen an, die zu fragen scheinen: Wo bist du geblieben? Dann kann es einem gehen wie dem Tannhäuser, der sich in die verlassene Welt zurücksehnt, der in sie zurückkehren würde, wenn ihn nicht andere, reinere Kräfte hielten. Das unterirdische Reich dauert weiter, – so, wie Wagners Kunst bestehen bleibt, auch wenn man sie negiert. Sie ist eine feste Tatsache, eine Welt für sich, ein Riesenleuchtturm, dessen Licht magisch anziehende Strahlen versendet für alles, was in der Luft herumfliegt. Wer sich einmal fast den Kopf an ihm zerstoßen hat, der meidet ihn. Wagner gegenüber muß man, wenn man sich selbst noch nicht gefunden hat, sich freiwillig in Fesseln schlagen, wie Odysseus sich an den Mast binden ließ, als er an der Insel der Sirenen vorbeifuhr. Seine Kunst macht glücklich-unglücklich, und wirkt auch am meisten auf Menschen, in deren Leben und Wollen eine Disharmonie besteht. In sich ist er vollkommen, und es ist Wahnsinn, ihm die Berechtigung des Daseins abzusprechen, wo es doch besteht 216 wie in den Pyramiden Ägyptens. Man kann ihn nicht nach fremden Gesetzen messen, er hat sein eignes Gesetz in sich, das er sich selbst geschaffen hat. Das Parteigezänk um ihn herum kommt mir vor wie die Wellen, die ein großes Schiff umplätschern, und ihm doch nicht das Geringste anhaben können.

Die Frage wird sofort anders, wenn man seine Kunst als »reine Musik« betrachtet. Da ist es, als sähe man auf einmal einen Fisch auf dem Lande. Als »reine Musik« ist sie das Formloseste, Unmöglichste was sich denken läßt. Wenn man ihr die Bühne wegnimmt, ist sie verloren und fällt auseinander. Wagner hat das größte Unheil angerichtet in der Musik, dadurch, daß man ihn falsch verstand. In seinen Werken war bis zur letzten Note das Poetische das Zeugende, und von hier aus gewann er auch für die musikalische Seite seiner Werke eine Form, die zwar nicht aus der Musik selber kam, aber doch eben immerhin eine Form war, das letzte, in unserer Musik, was wirklich nach Beherrschung, Gestaltungskraft aussah. Und das haben seine Nachfolger und Nachahmer übersehen. Ihre eigene Musik, soweit sie reine Instrumentalmusik ist, hängt vollkommen in der Luft. Man will alles sein: wild, grenzenlos, zart, lyrisch-empfindsam, moralisch-asketisch, sinnlich, geistreich, frivol, und hat es verlernt, an die tief drinnen schlummernden, in sich gesammelten, 217 ursprünglichen Empfindungen zu rühren. Was an der heutigen Musik echt ist, ist nie länger als ein paar Takte. Alles übrige, der ganze Aufbau und was sonst dazu gehört, ist gemacht, zusammengestellt und darum erlogen. Die heutigen Musiker sind erfüllt von dem grotesken Wahnsinn, die Liedform, das heißt die der Musik von Natur gegebene, ihre eigenste, eigentliche Form, überwinden und ausschalten zu können. Das ist freilich leichter als das andere: diese Form neu zu erleben und neu durchzufühlen.

Mit Deiner Abneigung gegen Fugenschreiben hast Du recht. Gewiß muß man wissen, wie man Fugen baut, aber man kann sie nicht mehr, so wie Bach, um ihrer selbst willen schreiben, da man nicht mehr an sie glaubt. Man kann sie nur zu einer Absicht außerhalb ihrer selbst gebrauchen, zum Zweck einer größten Steigerung etwa, so wie es Beethoven tat in dem »Gloria« seiner Messe, um einen höchsten Jubel auszudrücken. Bach bannt die Empfindung in eine starre, riesige Form. Mir ist immer, als wenn er für gar keine Zuhörer geschrieben hätte; wenn er seine großen Werke, etwa die Matthäuspassion, anfängt, ist man stets gleich mitten drin, es gibt keine Einleitung, keine Entwicklung, seine Stücke sind so gebaut, daß er beinah in jedem Moment enden könnte. Er schließt nicht ab, er hört auf; er hat keine 218 Steigerung, keine Kontraste innerhalb eines Stückes, nur Ausbau. Er ist großartiger als irgendein anderer, aber auch einseitiger. In kaum einer andern Musik empfindet man so stark das Musikalische um des Musiktechnischen willen, bei keinem andern fühlt man so wie bei ihm das »Handwerk«. Seine Sachen gut zu spielen, hat eine ähnliche, stählende Wirkung auf die musikalische Seele, wie eine gesunde, gymnastische Tätigkeit auf den Körper. Der ungeheure ethische Gehalt ergibt sich scheinbar ganz nebenbei. Es ist, als sei seine Musik ebenso selbstverständlich gewachsen wie irgendein Naturgebilde, das der liebe Gott geschaffen hat, wobei man sich auch nicht fragt: Warum hat er das gemacht? Er ist für uns heutige Menschen wie das Land für den Städter.

Dein Gefühl für Mozart kann ich verstehen, wenigstens weiß ich, was ihm zugrunde liegt. Er ist so in sich und seiner Zeit, daß man ihn hinnehmen muß so wie er ist. Es fehlt uns jeder Maßstab für ihn. Wäre ich kein Musiker, würde ich ihn vielleicht mehr lieben als jeden andern; so aber hüte ich mich vor ihm und gehe ihm aus dem Wege. In ihm ist nichts, was mich auf mich selbst zurückweist, was meine eigenen Kräfte erhöht. Bedingungslose Hingabe ist ihm gegenüber das einzig mögliche, und dazu bin ich nur selten imstande. Aber es ist falsch, ihn immer nur als den heiteren 219 Rokokokünstler hinzustellen, wie man es tut. Ich weiß, welche Stellen aus dem Don Juan Du meinst, wo Du von dem »furchtbaren, unerbittlichen Gesichte« sprichst. Du hast es sehr schön ausgesprochen. In der Zauberflöte gibt es eine Stelle, die auch dahin gehört; es ist, als habe Mozart einmal in einer Vorexistenz Blicke in ein Gorgonenantlitz, in leere Abgründe des Grauens und des Entsetzens getan, deren unbewußt nachhallende Erinnerung ihn später Töne finden ließ, denen noch eine leise Wirkung von jener versteinernden Gewalt innewohnt.

Ich sagte vorhin, in Mozart sei nichts, was mich auf mich selbst zurückweist, was meine eigenen Kräfte stärkt. Für mich gibt es – auch trotz aller modernen Musik, trotz Wagner, Berlioz, Bruckner, Brahms nur einen Musiker, – nicht der auf mich wirkt, aber der mich befruchtet, über sein eigenes Werk hinaushebt, wenn Du das richtig auffaßt: Beethoven.

Er ist der einzige, der wirkliche, absolute Musik schreiben konnte, wenn man einen strengen, das heißt: seinen Maßstab anlegt. Bei ihm ist die Musik rein auf sich selbst gestellt und spricht nur aus sich. Er hat trotz der großen Wildheit und Kraft seines Temperaments eine ungeheure Leidenschaft für das Direkte, Gesetzmäßige, Natürliche, keiner hat mehr über die Launen seiner Natur gewacht, als 220 er, und aus eben diesem Trieb heraus. Er hat nicht geruht, bis er einen Gedanken auf den einfachsten, selbstverständlichsten, natürlichen Ausdruck gebracht hat; das ist den Heutigen grade entgegengesetzt, und deshalb kann man mehr von ihm lernen als von einem andern. Dein Vater nennt ihn immer den »wilden, ungebändigten Titanen«, und ich hatte neulich einen Streit mit ihm darüber. Denn das ist nicht wahr. In dieses ungebändigte Titanentum ist er von seinen Zeitgenossen und Nachfolgern hineinstilisiert worden, weil er ihnen vielleicht in seinem persönlichen Leben so erschienen ist. Bei ihm bedeutet das Persönliche aber nichts. Es gab in ihm eine viel tiefere und wichtigere Seite, die ihn befähigte, Werke von einer frommen, seligen Harmonie und Glückseligkeit zu schreiben, wie sie auf der Welt nie da waren. Vor allem, er hatte im Grunde nichts Tragisches, Unausgeglichenes in sich, wie es moderne Neurastheniker bei ihm so gerne suchen.

Caecilie an Enzio.

Ich wollte über alles dieses, was mit Deinem Vater in Beziehung steht, schweigen, aber da Du mich danach fragst und mir eine Stelle aus Richards Brief mitteilst, will ich Dir nicht die Unwahrheit sagen.

Es ist alles, wie Du denkst, wie ich es zwischen 221 Deinen Zeilen lese. Ich habe es von vornherein so kommen sehen, und es berührt mich fast nicht mehr. Ich bin heiter und zufrieden, wir leben still und freundschaftlich nebeneinander.

Richard an Enzio.

Enzio, ich muß Dir etwas sagen, ehe Du es vielleicht von andern erfährst: Hier in der Stadt laufen Klatschgeschichten über mich und Deine Mutter um. Ich habe keine Ahnung, ob sie etwas davon weiß, glaube es aber nicht, da ihr Wesen nicht die geringste Änderung zeigt. Ich bin in einer unangenehmen Lage. Ich halte es für notwendig, daß sie hiervon weiß, damit sie, wenn sie will, den Verkehr mit mir abbricht. Anderseits kann ich ihr unmöglich davon sprechen; wünsche auch zu vermeiden, daß zwischen den Beteiligten irgendein Wort ausgesprochen wird. Ich möchte gern, daß Du selbst an Deine Mutter hierüber schreibst.

Caecilie an Enzio.

Du hast recht, wenn Du vermutest, daß ich hierüber Bescheid wußte, und ebenso recht: daß es mir gleichgültig sein darf. Wäre ich um zehn Jahre jünger, so würde ich mich vielleicht entschließen, etwas Schönes aufzugeben, das meinem Namen im Munde der Menge einen Anstoß gibt; ja, vielleicht hätte ich mich noch vor ein paar Monaten 222 dazu entschlossen, jetzt nicht mehr. Mögen die Menschen denken, was sie wollen. Die besseren unter ihnen werden doch das Richtige denken, und auf die andern darf man herabsehn, wenn man eine Frau in meinen Jahren ist, die durch ihr ganzes Leben grade ihren Weg gemacht hat. Was die Leute sagen, kann ich nicht abwägen und ins Gleichgewicht setzen zu dem, was ich am Verkehr mit Richard verlieren würde. Ich bin diese letzten Monate innerlich jung geworden, nehme wieder Anteil an allem, was einem frische Kräfte zuführt, und fühle mich so ausgeglichen und wunschlos wie nie in meinem Leben. Ich könnte mehr Verkehr mit gleichaltrigen Menschen haben. Aber ich habe irgendeine Stufe meiner Jugend übersprungen, mir ist, als sei mir etwas genommen gewesen, was andere gehabt haben, das hole ich nun nach, und bin dem Geschick dankbar dafür, daß ich es darf. Ich glaube nicht, daß dies unbescheiden und zuviel gefordert ist.

Enzio an Richard.

Liebster, teuerster und einziger Freund!

Ich weiß nicht, aber ich habe Dich jetzt noch viel lieber als früher. Mir ist, als seist Du außer meinem Freund auch noch mein Bruder. Tu nichts, laß alles wie es ist, meine Mutter weiß Bescheid. Heute nur dies kurze Wort, ich schreibe später mehr.

223 Der Kapellmeister an Caecilie.

Nachdem Du mir gesagt hast, daß Du kein Wort mehr über jene Angelegenheit mit mir reden würdest, muß ich Dir diese schriftlichen Worte auf Deinen Schreibtisch legen. Du weißt, ich selber sehe dies Verhältnis so an wie es ist. Aber es kann mir nicht gleichgültig sein, was man über Dich redet. Ein Argument habe ich bisher vergessen vor Dir anzuführen: Bedenke, wir wohnen in einer kleinen Stadt, in der man private Angelegenheiten mit öffentlichen Ämtern viel zu sehr verquickt. Du weißt, was für Menschen an den maßgebenden Stellen sitzen, die mich in mein Amt eingesetzt haben und mich aus ihm entfernen können. Ich will nicht sagen, daß mir etwas zu Ohren gekommen sei, aber die Gefahr ist da! Bedenke das! Es wird mir schwer, Dir nochmals zureden zu müssen, da ich weiß, wieviel Dir an diesem Verkehr liegt, was ich übrigens noch immer nicht begreife. Doch das ist einmal so, und Frauen haben ihren eigenen Geschmack. Aber Du wirst es verstehen, daß ich mich diesem Menschen gegenüber nicht äußern kann, daß ich ihm gegenüber tun muß, als wisse ich von nichts. Denke nun nochmals über alles nach, und lege mir, wenn Du Dich nicht noch einmal mündlich aussprechen willst, die schriftliche Antwort in mein Zimmer. Bedenke, daß ich 224 selbst schon genug Anlaß zu bösen Reden gegeben habe. Aber ein Mann hat andere Freiheiten als eine Frau. Bedenke, daß ich eines Tages tatsächlich meine Entlassung bekommen könnte, daß es in Deiner Hand liegt, dies zu verhindern. Ich komme Dir noch mehr entgegen: Ich verspreche Dir, für den Fall, daß Du mir nachgibst, meinerseits nachzugeben – obgleich ich das schon oft versprochen habe. Aber diesmal würde ich mir selbst den Weg abschneiden: durch einen Personalwechsel im Theater. Du weißt, wie ich mit dem Intendanten stehe, ich kann das machen.

Caecilie an den Kapellmeister.

Ich könnte Dir noch einmal mündlich antworten, so, wie es mir natürlicher wäre. Aber ich will es nicht, da ich allein reden und alles kürzer machen will.

Deine Andeutung über eine mögliche Enthebung aus Deinem Posten glaube ich Dir nicht. Deine letzten Andeutungen wirken ebenfalls nicht auf mich. Außerdem – lieber Heinrich – ein solcher Schritt enthält nicht mehr das Erlösende für mich, das Du in ihm enthalten glaubst. Wir sind zwei Freunde geworden, die in nicht allzu großer Nähe nebeneinander hinleben, ich habe mich daran gewöhnt und entbehre nichts mehr dabei. Und schließlich: Dies wäre eine Schlechtigkeit, eine Undankbarkeit 225 von Dir gegen eine Frau, die Dir so nahestand und noch immer nahesteht, dagegen verwahre ich mich aus einer Art von Solidaritätsgefühl. Nun laß uns, bitte, schweigen über diese Angelegenheit, mündlich wie schriftlich. Ich antworte auf nichts mehr, soweit es sie betrifft.

Enzio an Caecilie.

Ich bin froh, daß Du Richard hast! Was Du schreibst, ist mir zu Herzen gegangen. Mich selbst berührt jenes auch nicht mehr so stark, weil es Dich nicht mehr so stark berührt. Ich bin an einem langen Brief für Richard beschäftigt. Sieh ihn als Fortsetzung zu diesem an. Laß Dir vorlesen, was ich über mich darin schreibe. Nicht wahr, wir drei bilden jetzt so eine Art Triumvirat?

Enzio an Richard.

Ich schrieb Dir: Laß alles wie es ist, und ich denke noch heute so. Die besseren unter den Menschen werden doch das Richtige annehmen, und auf die andern darf man herabsehn, wenn man eine Frau ist in den Jahren meiner Mutter, die ihr ganzes Leben lang grade ihren Weg gegangen ist. Ich bin so froh, daß sie diesen Verkehr mit Dir hat! Gleichaltrige Menschen könnten ihr gar nicht 226 soviel geben wie jüngere; jetzt holt sie nach, was andere in früheren Jahren gehabt haben und was ihr selbst irgendwie genommen gewesen ist; ich kann Dir das nicht so erklären.

Letzte Nacht träumte ich, ich säße irgendwo in einem Hause, in dem ein großer Tisch gedeckt wurde für lauter junge Mädchen. Ich sollte auch dabei sein. Ich saß in einem Winkel, während ich das Klappern der Messer und Teller hörte, die man auf die Tafel legte. Da dachte ich auf einmal an Irene und begann zu schluchzen, so daß ich aufwachte. Ich denke wochenlang überhaupt nicht an Irene, da berührte mich dieser Traum um so sonderbarer. Ich danke Dir noch für Deinen langen Brief neulich, über Musikfragen. Aber ich finde doch: mit solchen Dingen verwirrst Du mich nur. Es mag ja alles richtig sein, was Du schreibst, aber vielleicht doch nur für Dich richtig. Jedenfalls erscheint es mir falsch, einen Standpunkt, den man hat, für alle verallgemeinern zu wollen. Ich empfinde ganz anders als Du. Jetzt habe ich mich entschlossen, eine Art Symphonie zu schreiben, und zwar soll es eine dramatische Symphonie werden. Die Themen, von denen ich neulich schrieb, verwende ich dafür. Der erste Teil soll heißen: Der Held! Ich denke mir alles mögliche in diesem Satze, und bin mir nicht klar darüber, ob ich nicht auch eine Worterklärung dazu machen soll, damit man 227 besser versteht, was ich meine. Das erste Allegrothema habe ich etwas verändert. Merkwürdig, wie ein paar Tage, an denen man nicht an einer Sache arbeitet, den Blick schärfer und frischer machen. Jetzt hat es einen großen, starken Schwung, gar nicht zu vergleichen mit seiner allerersten Form, die mir nun fast langweilig erscheint. Zeitweilig arbeite ich auch an dem Adagio. Es hat fast einen Largo-Charakter bekommen, etwas Grüblerisches. Dieser Satz drückt so viel aus, daß ich es in Kürze gar nicht sagen kann. Es gibt viel Chromatik darin, der man durch Veränderung der wechselnden Harmonieabfolgen stets neue Beleuchtung, einen neuen seelischen Charakter geben kann; eine Fundgrube ohne Boden! Ich habe Wendungen gefunden, wie sie mir sonst nirgends bekannt sind. Das Scherzo werde ich aus dem Adagio entwickeln. Es soll den Kampf des Helden mit sich selbst darstellen, oder vielmehr eine verzweifelte Ironisierung und Verneinung alles vorangegangenen Grübelns. Es muß klingen wie ein Spott alles vorher Gehörten, bis der Held sich dann im Schlußsatz durchringt zu einer neuen Wahrheit! Wie wundervoll ist es, solche Aufgaben vor sich zu wissen! Wenn mir jemand heute zehn Millionen, hundert Millionen oder noch viel mehr anbieten würde, unter der Bedingung, daß ich einen andern Beruf ergriffe, ich würde ihn mit Fußtritten die Treppe hinabbefördern! Und ihm von 228 oben seine Kisten mit Gold auf den Kopf werfen, daß er nicht wieder aufstände! Und wenn ich keinen Pfennig Geld hätte, dann würde ich in die Schenken ziehen und dort aufspielen, und ein künstlerisches Vagabundenleben führen, mit offenem Hemd und einer Nelke hinterm Ohr. Man lernt dann irgendwo Zigeuner kennen und tanzt nachts unter dem Sternenhimmel mit einem schönen Mädchen! Ach Gott, die Mädchen! Allmählich denke ich wieder mehr an sie, aber ich dränge die Gedanken zurück. – Aber auch wenn ich ganz einsam leben müßte, so täte ich es lieber, als von dem Gelde dieses verfluchten Kerls mit seinen kurzen Beinen leben! Ich sehe ihn deutlich vor mir, obgleich er noch gar nicht da war (und wohl auch nie kommt). Gegen fette Menschen mit kurzen Beinen habe ich überhaupt ein Mißtrauen, ganz nebenbei gesagt. Lieber noch fette mit langen. Ich fange an, dummes Zeug zu schwatzen. Leb wohl.

Richard an Enzio.

Ich glaube, daß ich jene ganze Sache viel zu schwer aufgefaßt habe, und es würde mich ärgern, Dir davon geschrieben zu haben, wenn mein Brief mir nicht so schöne und warme Worte von Dir eingebracht hätte. – Was Du über Irene schreibst, hat mich nachdenklich gemacht. Du bist ein 229 sonderbarer Mensch, wenigstens in bezug auf sie bist Du es. Eigentlich ist es eine ganz glückliche Veranlagung. Sie hat jetzt die kuriose Idee, daß sie Krankenpflegerin werden möchte. Natürlich legen dem ihre Eltern kein Gewicht bei. Ihr Vater nennt sie manchmal scherzhaft »Schwester«. Wundervoll denke ich es mir zwar, mich von einem Mädchen wie Irene verpflegen zu lassen, ich glaube, ich würde schon aus Sehnsucht danach krank, aber es wäre doch ein schrecklicher Beruf. Neulich hat der Professor, als er auf Irene zum Kahnfahren wartete, mit Kohle deine ganze Gestalt und deinen Kopf, sehr porträtähnlich, auf die hintere Seite des Bootshauses gezeichnet. Das hat sie aber am selben Tage mit einem Lappen wieder fortgewischt. Schade, es war wirklich ein Kunstwerk.

Du hast schließlich recht: Es ist falsch von mir, wenn ich dich in Deiner Kunst nach irgendeiner Seite hin zu beeinflussen suche. Ich ärgere mich auch jedesmal, wenn ich es tue, aber es kommt mir nun einmal so in den Mund und in die Feder. Deshalb verzeih, wenn ich auch jetzt noch ein kleines Wort über Deine Symphonie hinzufüge: Komponiere drauf los, wie du mußt, aber laß alle »Entwicklung«, wie Du sie mir da erzählt hast. Absolute Musik kann nun einmal keinen »Verlauf« darstellen, der außer ihren rein musikalischen Mitteln liegt. Versuchst Du es trotzdem, so wird jeder, der 230 Deine Sache nachher hört, immer alles erst mit dem außermusikalischen Verstand zurechtrücken müssen. Programmusik ist von vornherein eine verfehlte Sache.

Enzio an Irene.

Du willst ins Ausland? Krankenschwester werden? Das darf nicht geschehen! Du weißt nicht, wie ekelhaft das ist! Du hast die Pflicht, Dich für das Leben zu erhalten! Nicht von zu Hause fortzugehn, oder gar aus unserer Stadt! Ich habe Richard sehr lieb, ich freue mich auch, daß Du ihn gern hast. Aber ich will nicht, daß er von Dir was weiß, was ich nicht weiß. So etwas kränkt mich; ich habe nie ein Geheimnis vor Dir gehabt, Du sollst auch keine vor mir haben. Du mußt ganz so zu mir bleiben, wie Du gewesen bist, sonst halte ich es nicht aus. Versprichst Du mir das? Warum antwortest Du mir nie auf meine Briefe? Bist Du gar nicht traurig, daß ich fort bin?

Enzio an Richard.

Den Plan, Krankenschwester zu werden, habe ich Irene schon ausgeredet. Übrigens, was ist das für eine komische Idee von Dir, daß Du gern krank werden möchtest, nur um Dich von ihr verpflegen zu lassen. Ich habe mich darüber geärgert!

231 Die Symphonie schreitet vorwärts. Der erste Satz ist vollendet. Was Du über Programmusik schreibst, scheint mir doch nicht richtig. Berlioz zum Beispiel hat auch welche geschrieben! Wie wundervoll ist die Liebesszene aus Romeo und Julia! Da fehlt nichts drin, diese Musik entkräftet alles, was Du prinzipiell dagegen sagen kannst. Liszt und andere haben ebenfalls Programmusik geschrieben; also kann ich es doch auch versuchen! Und wenn sie nicht eine berechtigte Kunstform wäre wie jede andere, wie kommt es denn, daß sie in der letzten Entwicklung der Musik eine so ungeheure Stellung eingenommen hat? Mein Lehrer lachte erst, als ich ihm von meiner Arbeit erzählte, dann sagte er, man müsse alles probieren, um hinterher einzusehn, daß man es noch nicht kann. Daß aber Programmusik von vornherein ein Fehler sei, gibt er nicht zu. Ich weiß wirklich nicht, was ich nach Deiner Ansicht nun eigentlich schreiben soll! Keine Programmusik. Gut. Aber auch keine Musik, die irgendeine Entwicklung, irgendeinen »Verlauf« hat. Ich kann mir nicht denken, was Du Dir dann unter Musik vorstellst.

Ich bin hier in einen Verein von Konservatoristen eingetreten. Wir haben ein kleines Orchester zusammengebracht, ich habe aber bis jetzt keinen einzigen gefunden, dessen Musik irgend etwas Besonderes wäre.

232 Irene an Enzio.

Ich finde Deine Briefe komisch! Ich verstehe auch nicht, was Du alles meinst. Ich habe nie gesagt, daß ich ins Ausland will. Vielleicht werde ich gar nicht Krankenschwester. Aber ich ekle mich vor nichts, ich fasse alles an, wenn es nur nicht heiß ist. Du frägst, ob ich nicht traurig wäre, weil Du fort bist. Ich habe Dich nicht vergessen, aber ich bin auch nicht traurig. Traurig sein heißt doch: daß einem etwas weh tut, und mir tut nichts weh. Mama und ich spielen manchmal Kompositionen von Dir; das letzte, was Du hierließest, ehe Du abreistest, kann ich fast auswendig, und ich singe es manchmal für mich, wenn ich arbeite. Dein Freund Richard kommt zuweilen zu uns.

Sei nicht böse, daß ich schon schließe, aber es fällt mir nichts mehr ein. Ich komme mir recht langweilig vor. Richard findet mich, glaube ich, auch sehr langweilig. Er selbst ist sehr interessant und redet manchmal stundenlang mit Papa. Ich weiß nicht, was ich Dir weiter schreiben soll. Es kommt mir so dumm vor, einen Brief zu schreiben. Bis er ankommt, denkt man ja doch längst an andere Dinge, während der andere den Brief liest.

Nachschrift ihrer Mutter.

Aber ich bin traurig, Enzio, daß Du fort bist, und wenn nachmittags um fünf jemand läutet, denke 233 ich, daß Du es bist; dann fällt mir ein, daß Du es ja gar nicht sein kannst, und dann öffne ich trotzdem und denke: Vielleicht ist er es doch.

Aus Richards Brief an Enzio.

Du frägst, wie es denn kommt, daß die Programmusik in unseren Zeiten so stark in den Vordergrund getreten ist, und ich will Dir darüber so gut antworten, wie ich kann.

Zunächst: Programmusik ist keine Regel, kein Prinzip, keine Form, sie ist eine Ausnahme. Daß sie mit Berlioz und Liszt auf einmal in den Mittelpunkt zu treten schien, hat, glaube ich, mehrere Gründe: Man fühlte, daß die Macht der Musik, gewisse Empfindungen, Bilder auszudrücken, noch einer großen Steigerung fähig sei. Dann kommt als zweites in Betracht, daß die Musik in ihrem eigentlichsten Bereich durch die Vorgänger – besonders Beethoven – in der Ausbildung der rein musikalischen Mittel und Möglichkeiten so weit gebracht worden ist, daß fast nichts zu tun übrig zu bleiben schien. Berlioz schrieb noch Programmsymphonien, das heißt: er suchte den poetischen Inhalt wirklich soviel wie möglich in die Musik zu übertragen und aus eben dieser Musik mit ihren eigensten Mitteln wieder neu heraus zu gebären. Das zeigt sich schon an der Wahl der Themen, die eben einer musikalischen Behandlung zugänglich und 234 erschöpfbar sind. So hast Du mit Deinem Beispiel aus der Romeo-Symphonie auch recht. Er konnte jene Liebesszene wirklich wahr und vollständig mit musikalischen Mitteln darstellen, weil ihm von außen nichts als die musikalische Situation gegeben war, und er im übrigen die Musik sprechen ließ. Ebenso ist es mit manchen andern seiner Werke. Aber beachte wohl: Unter der Hand gruppiert sich ihm unwillkürlich das Ganze nach Art der alten Symphonie, das heißt: Er stellt die einzelnen Sätze nach Art der Bewegung und des Charakters einander gegenüber, was durchaus dem Wesen der Musik entspricht. Anders machen es Liszt und die übrigen Modernen. Daß man ihn und seine Nachfolger ihm an die Seite stellte, geschah aus Parteipolitik, oder aus gedankenloser, traditioneller Gewohnheit, die das Wesentliche übersah. Denn diese Neueren wollen eine realistische Art von Entwicklung und Schilderung geben, die vielleicht mit dem Gegenstande alles, mit der Musik aber nichts mehr zu tun hat – als ob es auf den Gegenstand ankäme, statt auf seine musikalische Verwirklichung und Erschöpfung. Die scheint überhaupt nur gewisse Motive zuzulassen, welche der Empfindung und nur der Empfindung Spielraum geben. »Handlung, Entwicklung« ist Sache der Musik, sofern sie gänzlich in die Empfindung aufgelöst werden kann – zum Beispiel das Rezitativische, Sprechende, 235 sich Aufzwingende, Ermattende. Eine reale Handlung führt zur Berechnung und künstlichen Zusammenstellung der musikalischen Stimmungen und Motive. Daran ist die moderne Programmusik zugrunde gegangen. Die ganze Frage ist eine Formfrage, eine Frage des Aufbaus; es sind ihr einzelne wirklich erfundene Farben und Erfindungen wohl gelungen, aber der ganze Aufbau ist nicht durchgefühlt, denn er ist zusammengedacht, was soviel heißt, wie: zusammengestückelt, zusammengelogen. Man hat heute kein Gefühl mehr dafür, daß dem Musiker ebenso notwendig wie die lebendige Vorstellung des Gegenstandes auch das deutliche Bewußtsein ist, ob und wie weit dieser Gegenstand musikalisch zu erschöpfen ist. Vollends naturalistische Kunststücke, wie sie in der letzten Zeit gemacht wurden, ernst zu nehmen, bringt nur ein Publikum fertig, das das Unterscheidungsvermögen eines Tempels von einem Stall verloren hat. So etwas gehört allerhöchstens in den Zirkus. Gewiß: man kann Kinderquäken imitieren, belästigt man aber die Symphonie mit solchen Dingen, so ist es eine Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst. Es ist, als unterstände sich einer, mit dem heiligen Weihwedel der Kirche Nachtgeschirre zu reinigen. Ich fürchte, Du verstehst irgend etwas falsch von dem, was ich geschrieben habe: Selbstverständlich gibt es auch in der reinen Instrumentalmusik einen Verlauf, eine 236 Steigerung, eine Entwicklung von einer Stimmung in die andere. Aber diese Entwicklung stammt aus den Tiefen der nur musikalisch denk- und fühlbaren Idee, die den Komponisten leitet. Sie hängt ab von den merkwürdigen Verhältnissen der Tonarten unter sich, der Entwicklung der einzelnen Themen und Motive, das heißt nur von rein musikalischen Qualitäten.

Caecilie an Enzio.

Ich warte immer auf einen längeren Brief von Dir, aber er trifft nie ein. Ich habe das sichere Gefühl, daß sich diese Zeilen mit Deinen kreuzen. Deshalb nur so kurz; ich werde länger schreiben, wenn ich sie in Händen halte. Mir ist, als müßten sie um sechs Uhr im Kasten liegen. Trotzdem schicke ich dies ab.

Irene an Enzio.

Ich habe vor ein paar Wochen einen wirklich langen Brief an Dich geschrieben, und noch immer keine Antwort. Da Du an der Reihe bist zu schreiben, schreibe ich selbst so wenig.

Postkarte Richards an Enzio.

Was ist mit Dir? Du läßt nichts mehr von Dir hören?

237 Caecilie an Enzio.

Wieder sind acht Tage vergangen, noch immer bin ich ohne Nachricht. Es beunruhigt mich! Bist Du krank?

Telegramm Caecilies an Enzio.

Bitte telegraphiere umgehend, was mit Dir ist; ich bin in höchster Besorgnis.

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