Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sprachlos starrte van Stratton die junge Dame an. Im Augenblick hatte er den Hausherrn vergessen; er befand sich mit dem Mädchen allein. Estelle mochte die Erregung, die ihn am Sprechen hinderte, bemerkt haben, denn sie wandte sich mit leichtem Spott an ihn:
»Na, kommen Sie nur wieder zu sich!«
»Was wollen Sie hier? Wie kommen Sie hier herein?« fragte Mark, heiser vor Erregung.
»Muß ich Ihnen sagen, daß Sie das nichts angeht?« entgegnete sie ruhig. »Nun, Sie werden es bald erfahren, warum ich hier bin. Können Sie boxen?«
»Soll ich Ihretwegen meinen Freund angreifen?« fragte er ironisch.
»Unsinn. Sie und er sollen mich gegen meine Feinde schützen. Horchen Sie!« Sie preßte ihr Ohr gegen die Tür. »Sie werden gleich da sein.«
Aus dem Stockwerk über ihnen erklang ein schwerer Fall, ein Durcheinander heftig streitender Stimmen und endlich ein Schuß. De Fontenay hatte bisher kein Wort gesprochen. Nun holte er aus seinem Schreibtisch zwei Revolver; einen davon reichte er Mark.
»Ich glaube«, prophezeite er, »es wird gut sein, sich zu wappnen. Vielleicht aber sind dir deine Fäuste lieber, Mark?«
»Ja, ich verstehe sie, wenn nötig, zu gebrauchen«, erwiderte er grimmig. »Was soll denn das alles heißen? Was will Miß Dukane in deiner Wohnung?«
Er bekam keine Antwort.
Estelle hielt noch immer ihr Ohr an die Tür gepreßt.
Endlich sagte Raoul:
»Gestatten Sie mir die Frage, Mademoiselle, was Sie überhaupt hier im Haus zu suchen hatten?«
»Das will ich Ihnen gern erklären. Als ich heute nachmittag vom Tanz heimkehrte, fand ich ein Telegramm von meinem Vater. Er bat mich von Paris aus, wo er gegenwärtig weilt, in diesem Haus gegen ein halb sieben Uhr mit einer Geldsumme vorzusprechen. Ein Herr namens Johnson würde mir gegen den Betrag eine Anzahl von Papieren aushändigen.«
Von oben drang der Lärm umgeworfener Möbelstücke an das Ohr der Lauschenden; ein Aufschrei ließ sich hören, der von erregten Auseinandersetzungen gefolgt wurde. Mit gespannter Aufmerksamkeit hatte de Fontenay diesem Durcheinander aus dem Zimmer über seiner Wohnung zugehört.
»Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, uns mitzuteilen, was hier eigentlich vor sich geht?« fragte er die junge Dame.
»Ich hatte mich beim Tanzen etwas verspätet und als ich das Telegramm vorfand, gerade noch Zeit, einen Scheck auszustellen und so schnell wie möglich hierher zu fahren«, setzte Estelle ihre Aufklärungen fort. »Als ich hier vorfuhr, bemerkte ich, daß sich vor der Haustür ein Mann herumtrieb, der mich stark beobachtete. Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn, sondern lief schnell die Treppen hinauf zu jenem Johnson, der mich schon erwartete. Er muß Ausländer sein, denn sein Englisch ist ziemlich fehlerhaft. Während ich mit Johnson verhandelte, stand ein zweiter Mann horchend an der Tür. Als ich um die Papiere bat, und Johnson den Scheck einhändigen wollte, fluchte er wie ein Droschkenkutscher. Er wollte bares Geld und keine Schecks haben, sagte er. Ich klärte ihn auf, warum es mir unmöglich gewesen war, Banknoten zu beschaffen. Nach einer Beratung mit dem anderen Mann ließ er sich endlich herbei, den Scheck anzunehmen und händigte mir die Papiere aus. Ich wollte das Zimmer eben wieder verlassen, als die Türklingel anschlug. Die Männer waren aufs höchste erschrocken. Da der Einlaßbegehrende wie toll an der Klingel zog, blieb den Männern nichts anderes übrig, als zu öffnen. Als Johnson den ersten der Eintretenden erblickte, erbleichte er und griff sofort nach einem auf dem Tisch liegenden Revolver. Ehe er jedoch abdrücken konnte, hatte ihm sein Freund die Waffe entrissen. Während die Eindringenden – es waren mehrere Herren – sich mit den Zimmerinsassen auseinandersetzten, schlüpfte ich hinter den Streitenden aus der Tür und rannte die Treppe hinab. So, nun wissen Sie alles!«
»Sie taten mir also die Ehre an, sich meiner armseligen Behausung zu erinnern, wie?« fragte de Fontenay.
»Ich sah den Namen auf Ihrem Türschild«, gab sie zu.
Oben war es ruhig geworden. Von der Treppe her klangen Schritte, die sich der Wohnung de Fontenays näherten. Kurz darauf klingelte es. Schweigen gebietend, erhob der Franzose die Hand. Vom Korridor klang die Stimme Gastons, Raouls Diener; der schwächliche Protest des Livrierten schien zwecklos gewesen zu sein, denn kurz darauf öffnete sich die Tür zum Salon, und zwei Herren traten ein. Der eine lächelte verächtlich, als er de Fontenays Revolver auf sich gerichtet sah.
»Sie können das Schießeisen ruhig wegstecken«, meinte er zum Hausherrn gewandt. »Wir sind keine Einbrecher.«
»Es ist ja sehr interessant zu erfahren«, entgegnete de Fontenay, ohne der Aufforderung des andern Folge zu leisten, »was Sie nicht sind. Da Sie aber ohne meine Erlaubnis in meine Wohnung eingedrungen sind, würde es mir lieb sein, wenn Sie mir mitteilten, was Sie hier zu suchen haben?«
»Ich bin Kriminalinspektor Grierson von der Yard«, stellte sich der eine Eindringling vor. »Ich bin meinem Kollegen hier beigeordnet, der eine gleiche Stellung einnimmt.«
»Und was wünschen Sie von mir?«
»Von Ihnen nichts, Sir; unsere Wünsche drehen sich um diese junge Dame hier.« Er zeigte auf Estelle.
Mit einem Achselzucken legte Raoul seine Waffe hin.
»Bitte, tun Sie Ihre Pflicht.«
Inspektor Grierson trat zurück, und sein Kollege, der sich bisher schweigsam verhalten hatte, verbeugte sich vor Estelle:
»Sie sind Miß Dukane, nicht wahr?«
»So heiße ich.«
»Vor kurzer Zeit besuchten Sie einen Herrn im nächsten Stockwerk, um von ihm gegen eine Summe von fünftausend Pfund, die Sie durch einen Scheck entrichteten, einige Papiere abzuholen, stimmt das? Ja? Dann darf ich Sie vielleicht bitten, die Papiere an mich auszuhändigen?!«
»Ihr Verlangen überrascht mich. Wenn es mir paßt, Mr. Johnson für Papiere eine Summe Geldes zu bezahlen, dann frage ich mich vergebens, was Sie die Angelegenheit angehen könnte.«
Der Kriminalbeamte hatte geduldig die junge Dame aussprechen lassen. Nun klang seine Stimme strenger:
»Das wird Ihnen sofort klar, wenn Sie erfahren, daß die Dokumente, die Sie von Johnson kauften, aus der Bank von England gestohlen worden sind. Die Regierung dieses Landes kann nicht dulden, daß der Inhalt bekannt wird.«
»Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, ich besäße die Papiere«, verteidigte sich das junge Mädchen.
»Nein, ich glaube nicht, daß wir uns täuschen«, entgegnete der andere ruhig. »Sie haben dem Mann den Scheck ausgehändigt, und da ich der Meinung bin, daß Sie nicht so viel Geld für eine wertlose Sache ausgeben würden, so muß ich Sie schon bitten, mir die Papiere freiwillig zu übergeben. Ich habe sogar Befehl, die Dokumente durch Gewalt an mich zu bringen, wenn ich sie nicht gutwillig bekomme!«
»Dazu wird es aber nötig sein, daß Sie den derzeitigen Besitzer der Papiere kennen«, gab Estelle dem Beamten zu bedenken.
»Das ist mir schon gelungen«, erklärte der Beamte ruhig. »Wegwerfen konnten Sie sie ja nicht, denn man hat Sie vom Augenblick an, wo Sie das Haus betraten, bis jetzt nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Bitte, geben Sie uns die Papiere. Der Scheck, den Sie Johnson gaben, steht Ihnen dann wieder zur Verfügung.«
»Ich weiß nichts von den Papieren, die Sie suchen«, erwiderte Estelle.
»Dann müssen wir Sie durchsuchen lassen, Miß Dukane.«
»Wagen Sie es! Wagen Sie, mich zu berühren, und Sie werden es Zeit Ihres Lebens bereuen. Mein Vater –«
»Ja«, unterbrach sie der Inspektor, »wir wissen, daß Ihr Vater uns die Hölle heiß machen kann, aber – wir haben unsere Befehle und müssen ihnen entsprechend handeln. Wir beide, mein Kollege und ich, werden keine Hand an Sie legen, Sie werden eben hier bleiben müssen, bis wir eine Kollegin von der Yard hier haben, um die Durchsuchung auszuführen.«
Zitternd vor Erregung stand sie vor dem Beamten. Mark hatte die ganze Szene ohne jede Einmischung beobachtet. Er wunderte sich über die tiefen Falten, die sich von den Mundwinkeln Estelles nach dem Kinn zogen.
Das junge Mädchen wandte sich an den Hausherrn.
»Haben die Leute ein Recht, mich zurückzuhalten?« fragte sie flehenden Tones.
De Fontenay breitete mit einer Geste des Bedauerns seine Hände aus:
»Ich fürchte, ja. Kriegsglück, Mademoiselle!«
Mark trat einen Schritt vor und musterte prüfend die beiden Beamten, ob sie ihm wohl an körperlichen Kräften gewachsen sein mochten.
»Was ist zu tun?« fragte er, seine Augen auf Estelle gerichtet.
»Mische dich nicht ein, Mark, ich bitte dich«, unterbrach ihn de Fontenay. »Es lohnt sich in einem zivilisierten Land nicht, den Organen des Gesetzes zu widerstreben. Du wirst nur Unannehmlichkeiten davon haben.«
Mark schien ihn nicht zu hören; er hielt seine fragenden Blicke weiter auf Estelle gerichtet. Sie zuckte die Achseln. Plötzlich griff sie in eine Innentasche ihres Pelzmantels und warf eine Papierrolle auf den Schreibtisch.
»Brutale Gesellschaft«, rief sie zornig aus, und Tränen der Scham über die Niederlage traten in ihre Augen.
Der Mann, der das junge Mädchen ausgefragt hatte, trat einen Schritt vor und prüfte die Papiere. Scheinbar war er nun zufrieden, denn er faltete sie zusammen und verbarg sie in seiner Brusttasche. Dann wandte er sich an die Besiegte:
»Es sind die richtigen Papiere, Miß Dukane. Damit hat sich unsere Mission hier im Haus erledigt. Ehe ich mich entferne, möchte ich Sie auf das Strafbare Ihrer Handlungen aufmerksam machen. Der An- und Verkauf gestohlenen Eigentums – auch Papiere können als ein solches bezeichnet werden – wird mit Gefängnis bestraft. Ich weiß nicht, welche Schritte die Behörde gegen Sie ergreifen wird; wahrscheinlich werden Sie noch davon hören.«
Die Herren verbeugten sich und verließen das Zimmer. Die drei Zurückbleibenden schwiegen, bis die Schritte der Beamten verhallt waren.
»Ich halte drei Cocktails nach diesem Schrecken für angebracht, Gaston«, wandte sich de Fontenay an seinen Diener.
Die Hand Estelles stahl sich langsam der Löschunterlage des Schreibtisches näher. Nun hob sie ihre Rechte, in der sich eine Rolle befand.
»Wir wollen auf das Wohl dieser so intelligenten Besserwisser von der Polizei trinken«, bat sie.