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Zum erstenmal in seinem Leben überschritt Mark die Schwelle des berühmten »Café de France« nicht im Abendanzug, sondern in Reisekleidern. Der Pförtner streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten; der »Maître d'hôtel« schien ihn jedoch wiederzuerkennen, denn er eilte ihm entgegen:
»Monsieur van Stratton?« begrüßte er ihn. »Welche Ehre! Monsieur sind eben angekommen und möchten einen Tisch reserviert haben, n'est ce pas? Für heute oder für morgen?«
Mark zog den Direktor zur Seite:
»Léon«, flüsterte er ihm zu, »es ist dringend notwendig, daß Sie mich umgehend zu Monsieur Deselle führen!«
Der Mann schüttelte abwehrend den Kopf:
»Monsieur Deselle und Madame speisen hier, Monsieur«, gab er zu, »aber es würde mich meine Stelle kosten, wagte ich es, ihn zu stören. Er kommt nur hin und wieder zu uns, wünscht dann aber unerkannt zu bleiben.«
»Léon, Sie wissen, daß ich keiner von jenen Leuten bin, die aus Langeweile andere Leute belästigen würden. Ich muß Monsieur Deselle sprechen. Es liegt in seinem eigenen Interesse. Sie brauchen dabei gar nicht in Erscheinung zu treten, sondern mir den Herrn nur von weitem zeigen. Er speist mit Madame?«
Léon hüstelte verlegen:
»Wenn ich das behauptete«, sagte er, »dann meine ich natürlich Madame sa maîtresse. Sie ist in Paris gut bekannt, wie Sie ja auch wissen werden.«
»Zeigen Sie mir, wo die Herrschaften sitzen.«
»Sie werden nicht erwähnen, daß Ihre Ortskenntnis von mir stammt«, versicherte sich Léon.
»Ich verspreche es Ihnen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf: Monsieur Deselle wird wohl sowieso nicht mehr hier verkehren.«
Mark hatte nicht die Absicht, Gras unter seinen Füßen wachsen zu lassen. Neugierige Blicke folgten ihm, als er sich in seinen Reisekleidern durch die Menge drängte. Es war bereits nach zehn Uhr abends, und der elegante Betrieb des »Café de France«, berühmt wegen seiner Exklusivität, war auf seinem Höhepunkt angelangt. Wie kam jener Mensch in Reisekleidung in dieses elegante Lokal? Aber Mark zerbrach sich nicht den Kopf über die Gedanken der Speisenden. Er schritt durch die Tischreihen, bis er in einem verschwiegenen Winkel zwei Herren und eine Dame sitzen sah, die ihm Léon als Monsieur Deselle und Madame und einen ihrer Gäste bezeichnet hatte. Nun stand er vor dem mächtigen Mann:
»Monsieur Deselle?« fragte er.
»Hier heiße ich nicht so«, kam die etwas unverschämte Antwort zurück. »Ich bin gewohnt, nur von meinen persönlichen Freunden angesprochen zu werden.«
»Ich habe wichtige Dinge mit Ihnen zu besprechen, Monsieur.«
»Dann kommen Sie, bitte, in mein Amtszimmer während der Dienststunden. Bitte, entfernen Sie sich.«
Mark stand unbewegt.
»Es ist wirklich etwas Wichtiges, Monsieur. Vielleicht kennen Sie Mr. Felix Dukane?«
Madames Finger, die bisher nervös mit kleinen Brotkügelchen gespielt hatten, unterbrachen ihre Beschäftigung.
»Ja, ich kenne ihn«, gab der Minister zu.
»Ich komme geschäftlich hierher, und zwar war ich mit Mr. Dukane noch heute morgen zusammen. Ich flog nach Paris und habe Sie seit meiner Ankunft überall gesucht.«
Deselle warf dem jungen Mann, der mit an seinem Tisch saß, einen Blick zu:
»Entschuldigen Sie mich, Herr Baron«, bat er. »Vielleicht hat dieser Mann hier mir doch etwas Wichtiges mitzuteilen.«
Der Baron verschwand, nachdem er Madames Finger geküßt hatte. Auf einen Wink Deselles nahm Mark Platz.
»Ich kenne Sie zwar nicht, mein Herr«, erklärte der Minister, »aber, da Sie von Mr. Dukane kommen, will ich Sie anhören. Haben Sie irgendwelche Empfehlungen Mr. Dukanes?«
»Keine, Monsieur. Meine Botschaft ist wichtig; von ihr hängt Tod und Leben ab. Darf ich vor Madame sprechen oder wollen Sie mir an einem anderen Ort Gehör schenken?«
Deselle blickte sich vorsichtig um. Der Tisch stand in einem Winkel des großen Saales und konnte von keiner Stelle aus eingesehen werden. In Madames Augen war langsam ein Funke aufgetaucht, der ihre Unruhe verriet.
»Ich weiß zwar nicht, wie ich zu der Ehre Ihres Besuches komme«, nahm nun der Minister wieder das Wort, »aber da Sie Mr. Dukanes Namen nennen – sprechen Sie!«
»Meine Botschaft ist eine schlimme. Mr. Dukane ist bereits unterrichtet. Er würde selbst herübergeflogen sein, konnte aber leider nicht abkommen. Sie haben von einem gewissen Brennan gehört, Monsieur?«
»Dem Spion?«
»Ja. Er war erfolgreich. Doch, es wird besser sein, ich zeige Ihnen die Photographie eines Briefes.«
Er zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine unaufgezogene Photographie. Die Hände Madames hatten sich, als sie des Bildes ansichtig wurde, krampfhaft zusammengelegt, daß sich ihre Fingernägel in die Handfläche bohrten. Der Minister hielt seine Augen auf das Bild gerichtet, verriet aber keinerlei Unruhe.
»Wir sind also verraten worden«, flüsterte er.
»Mich geht die ganze Angelegenheit nichts an, Monsieur«, klärte Mark ihn auf. »Diese Beweise einer Verschwörung sind nur durch Zufall in meine Hände gelangt.«
»Und was haben Sie mit ihnen angefangen?« wollte Deselle wissen.
»Sie befinden sich in den Händen des französischen Geheimdienstes. Ich versprach Dukane, Sie rechtzeitig zu warnen.«
»Rechtzeitig!?« gab Deselle bitter zurück, und seine Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne.
»Ihr Antrag sollte morgen im Senat verhandelt werden, nicht wahr?« fragte Mark.
Statt einer Antwort spielte Deselle mit der Photographie. Mark erkannte seine Absicht und schüttelte abwehrend den Kopf:
»Das hätte keinen Zweck, Monsieur, denn das Original hat der Geheimdienst in Händen.«
Deselle blickte seine Tischdame lange fragend an und sah in ihren Augen einen wundervollen Glanz, der ihm die Wahrheit verriet. Noch immer sprach er nicht. Bange Minuten vergingen.
»Ich danke Ihnen, Monsieur«, ließ er sich endlich, zu Mark gewendet, vernehmen, »daß Sie mir die Nachricht brachten, ehe die Presse sie bekam. Gibt es denn keinen Ausweg?«
»Keinen.« Fest klang die Antwort des Unglücksboten. »Dukane hat Menschenmögliches versucht, das Unheil abzuwenden. De Fontenay, der mein Freund ist, hat alles schon weitergegeben. Brennan hat mir sein Geheimnis verkauft, und ich habe es dem Oberst weitergegeben.«
Deselle winkte einem Kellner:
»Zahlen!« befahl er. »Ich glaube nicht, Monsieur, daß wir Sie länger zurückzuhalten brauchen«, verbeugte er sich vor Mark.
»Meine Mission ist erledigt«, antwortete van Stratton. »Es war keine Mission, die mir Freude bereitet hat, aber es erschien mir wichtig, daß Sie vor morgen früh die Tatsachen kennenlernten.«
»Vor morgen früh! Sehr richtig!« entgegnete Deselle und erhob sich.
Mark zog sich zurück, und der Minister wandte sich an seine Begleiterin:
»Ich glaube, Annette, wir werden die nächsten Stunden gemeinsam verbringen.«
*
Mark suchte das kleine Hotel auf, in das er sich bei seiner Ankunft in Paris begeben hatte. Er legte sich sofort zur Ruhe und wachte am nächsten Morgen etwas später als sonst auf. Bei seiner Fahrt nach Le Bourget, wo er sein Flugzeug gelassen hatte, begegneten ihm zahlreiche Zeitungsverkäufer, die aufgeregt durch die Straßen rannten. Endlich hielt Mark den Wagen an, um eine Morgenzeitung zu kaufen. Ein Blick auf die erste Seite verriet ihm die Wahrheit:
Minister Deselle verstorben!
Mark setzte seinen Weg fort. Er war etwas bleicher geworden.