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Nach strenger Lehrzeit greift Fritz Ebert zum Wanderstab. Zunächst wendet er sich nach Karlsruhe und München, dann nach Mannheim, der mächtig aufblühenden Industrie- und Handelsstadt Badens. Aus der poetischen Romantik Heidelbergs wird er in die prosaische Nüchternheit einer Handels- und Industriestadt geschleudert. Wie auf einem Reißbrett gezeichnet, liegt Mannheim vor ihm: Schnurgerade Straßen schneiden sich rechtwinklig und setzen sich regelrecht zu Quadraten zusammen, nach denen sich die ganze Stadt gliedert. Alles Historisch-Traditionelle scheint von dieser Stadt abgestreift zu sein. Der rechnende Zahlenmensch ist hier zu Hause; Zahlen und Buchstaben bezeichnen in Mannheim die Wohnviertel und Straßen.
Ebert wird in Mannheim von dem gewaltigen Strom modernen Großstadtlebens gepackt. Fast drei Jahrzehnte pulst hier eine an Kämpfen und Siegen reiche Arbeiterbewegung. Vor einem Vierteljahrhundert wurde in Mannheim von Dreesbach das »Badisch-Pfälzische Volksblatt« gegründet. Im Stadtrat hatte sich die Arbeiterschaft bereits 1878 eine gewisse Machtposition erobert.
In enge Berührung mit der Arbeiterbewegung Mannheims kam Ebert durch den Stiefbruder seines Vaters, durch den Schneider Strötz. Dieser war ein sehr rühriger Sozialdemokrat, der in den Ideengängen des Sozialismus heimisch war. Im allgemeinen wurzelte wohl die Sozialdemokratie Mannheims noch stark im Lassalleanismus. Dreesbach, der Mannheim in unermüdlicher Werbetätigkeit für die Sozialdemokratie gewann, war ein alter Lassalleaner. Der Lassalleanismus betont vor allem die Bedeutung des Staates für den Befreiungskampf der arbeitenden Klasse. Der Staat war einem Lassalle nicht nur ein Herrschaftsinstrument der besitzenden Klassen, er war ihm auch ein Organ der ganzen Gesellschaft zur Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben. Durch den Staat setzte sich das allgemeine Interesse durch, und, den Spuren Hegels folgend, übertrug der große Agitator dem Staate die große Mission, die Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit zu vollbringen. Der Staat des allgemeinen Wahlrechts sollte die wirtschaftlichen Mittel vorstrecken, um die kapitalistische Wirtschaft in die sozialistische umzuwandeln.
Lassalle begeisterte die Arbeiter stürmisch für ihre weltgeschichtliche Mission, eine neue Kulturepoche heraufzuführen. Ihr Ziel wurde zu einem allgemeinen Menschheitsziel, ihr Interesse zum großen Menschheitsinteresse. Lassalle gab nach Oncken den Arbeitern den »Gott«, für den sie sterben konnten, er trug einen neuen idealen Inhalt in ihre ganzen Kämpfe hinein.
Der Lassalleanismus vermittelte den Arbeitern eine hohe Meinung von der schöpferischen, Staat und Wirtschaft umgestaltenden Kraft des allgemeinen Wahlrechts. Eine sozialistische Seele strömte dadurch in die Wahlkämpfe der Arbeiter über, sie schlugen sich in diesen Kämpfen, gerade als wenn es sich um den Sozialismus selbst handelte.
Der Marxismus sieht in dem Staat nur das Geschöpf der wirtschaftenden Gesellschaft. Der Staat formt nicht die Wirtschaft, nein, die Wirtschaft formt den Staat. In der kapitalistischen Gesellschaft reift eine neue gesellschaftliche Produktion, die nun mit Naturnotwendigkeit die kapitalistische Hülle, die alte Produktionsform sprengt. Das neue revolutionäre Moment liegt nicht im Staat, sondern in der Wirtschaft. Für den ›Staatskultus‹ eines Lassalle hatte Karl Marx nur derbe spöttische Bemerkungen übrig.
Die kritisch-wegwerfende Behandlung, die Marx dem Staate angedeihen ließ, paßte zunächst nicht in den Rahmen einer Bewegung hinein, die zum ersten Male die Arbeiter zu einer politischen Partei mit bestimmten politischen Zielen vereinigte. Gerade weil diesen Arbeitern der Staat mit dem allgemeinen Wahlrecht von so entscheidender Bedeutung für ihren ganzen Emanzipationskampf erschien, legten sie eine elementare Wucht und einen begeisterungsvollen Schwung in ihre Wahlkämpfe hinein.
Der Marxismus mit seiner eigenartigen Wertung der Wirtschaft für die staatliche Entwicklung, mit seiner Lehre vom Klassenkampf und Klassenstaat begann erst mit dem Erscheinen der ›Neuen Zeit‹ (Januar 1883) seinen Vormarsch, Erst das Jahr 1891 brachte mit dem Erfurter Programm den wirklichen Sieg des Marxismus.
Jedenfalls gab es 1889 in Mannheim nur wenige Sozialdemokraten, die sich als sattelfeste Marxisten aufspielen und den jungen Ebert in die Grundlehren von Karl Marx einführen konnten. Und so schwangen denn wohl Lassallesche Ideen in seinem Denken, das ein schärferes sozialistisches Gepräge erst durch seine Beteiligung an den praktischen Arbeiterkämpfen erhielt.
In den Jahren 1889 und 1890, in diesen zwei letzten Jahren der Handhabung des ›Sozialistengesetzes‹, regte sich nämlich kräftig die Fachvereinsbewegung. Die Arbeiter, über denen drohend das Sozialistengesetz schwebte, konnten es noch nicht wagen, sich zu großen zentralen Gewerkschaftsverbänden zusammenzuschließen. Sie gründeten daher Fachvereine, Vereine der Tischler, Zimmerer, Sattler usw. Dieser Fachvereinsbewegung schloß sich der junge Ebert in Mannheim an.
Als Pfälzer war Ebert von vornherein nicht stark in seiner inneren Entwicklung vom katholischen Dogma beeinflußt worden. Seine Befreiung von der Kirche vollzog sich daher ohne jede innere Hemmung.
Katholiken, die aus dem mystischen Halbdunkel der Kirche den Weg ›ins Freie‹ finden, werden häufig fanatische ›Freidenker‹. Der erste sozialdemokratische Redner, den Fritz Ebert in einer Mannheimer Versammlung hörte, war der ›Freidenker‹ Dr. Rüdt. Dieser war ein sehr wirksamer Massenredner, in dessen Ansprachen und Vorträgen der Kampf gegen die Religion und Kirche eine große Rolle spielte. Gerade dieser beredte Mann übte häufig auf Katholiken, die an ihrem Glauben irre geworden waren, eine große Suggestivkraft aus. Sie gaben sich mit voller Leidenschaft der freireligiösen Bewegung hin und vergaßen über die Propaganda des freireligiösen Gedankens das Werben für den Sozialismus. In Dr. Rüdt steckte viel Kulturkämpferisches. Er war mehr Freireligiöser als Sozialdemokrat. Sein freireligiöses Bekenntnis, das im wesentlichen wohl der Apothekerweisheit des Kraft- und Stoffphilosophen Ludwig Büchner entstammte, trug er offen in die Tagespolitik hinein. Dadurch schädigte er schwer den klugen realpolitischen Kurs der sozialdemokratischen Partei in Baden, der trefflich von dem Stadtrat Dreesbach gesteuert wurde. Dr. Rüdt verschwand bald aus dem badischen Landtag und widmete sich ganz der freireligiösen Bewegung. Er ist als Hauptsprecher der ›proletarischen Freidenker‹ in München gestorben.
Es ist bezeichnend, daß sich der junge Ebert nicht von der freireligiösen Musik des Menschenfängers Rüdt betören ließ. Mit klaren Augen erkannte er das, was vor allem einer aufstrebenden Klasse nottut: Brot und Freiheit. Ihn zog die politische und gewerkschaftliche Bewegung an, die den breiten Massen als Ziel eine menschenwürdige Existenz vor Augen stellt. In seinen Reden finden sich keine Spuren eines kulturkämpferischen Draufgängertums, einer grundsätzlichen Kriegsansage gegen Religion und Kirche.
Der im Katholizismus erzogene junge Mensch begreift im allgemeinen die sich in vielen Menschenherzen regenden metaphysischen Bedürfnisse viel klarer als der Protestant, dessen Religion im allgemeinen fest auf den Rationalismus eingestellt ist. Der Katholizismus umschließt das ganze menschliche Leben mit der Mystik seiner Sakramente und verschmilzt den ganzen Menschen innig mit einer einheitlichen, weltbeherrschenden kirchlichen Organisation.
Fritz Ebert, als er in sich die katholische Weltanschauung überwunden hatte, huldigte nicht der Illusion, er könne mit einigen Kraftsprüchlein aus dem ›Pfaffenspiegel‹ das Fundament einer Machtinstitution erschüttern, das standhaft den Stürmen der Reformation und vieler Revolutionen getrotzt hatte,
Ebert ist für die Kraftphrase unempfänglich, sie umnebelt seine Sinne nicht. Für die wirklichen Dimensionen der Dinge hat er ein angeborenes feines Schätzungsvermögen, Seine Vorstellungskraft ruht auf der festen Erde und schweift nicht in blaue Fernen. Er ist ein Wirklichkeitsmensch, ein kräftiger Pfälzer, Der Pfälzer will alles im klaren Lichte des Tages sehen, und nicht im mystischen Halbdunkel der Kirche oder in den schreienden Farben einer künstlichen Theaterbeleuchtung. Gleichsam mit den Händen tastet er die Dinge ab, er prüft mit allen fünf Sinnen. Nach Riehl wurzelt der Geist des Selbstprüfens, Selbsturteilens, Selbstentscheidens bei keiner deutschen Volksgruppe tiefer als bei den Badensern und Pfälzern. »Mit diesem Geiste der Kritik und des Widerspruches sind«, so schreibt Riehl, »viele der leuchtendsten Vorzüge der Pfälzer verbrüdert: ihre Aufgewecktheit, Rührigkeit, ihr Fortschrittseifer, ihre unverwüstliche Schnellkraft ...«
Der kritische Zug des Pfälzers und Badensers, der sich im ganzen Wesen Fritz Eberts ausprägt, macht ihn besonders empfänglich für den sozialkritischen Geist der modernen Arbeiterbewegung,
Der junge Ebert betätigt sich Anfang 1889 vorwiegend gewerkschaftlich. Der leidenschaftliche achtzehnjährige junge Mensch marschiert seinen älteren Arbeitskameraden voran, um die Arbeits- und Lebensverhältnisse des Sattlergewerbes planmäßig zu heben.
Unleugbar muß in dem jungen Stürmer ein sehr tüchtiger Organisator und Agitator gesteckt haben, denn sehr verantwortliche Arbeiten werden ihm schon in Hannover von seinen Kameraden auf die Schultern gepackt. Im August 1889 tut sich dort die erste Zahlstelle des Sattlerverbandes auf, und Fritz Ebert wird schon zum Schriftführer dieser Stelle erkoren! Aber nicht nur im engen Rahmen des Sattlerverbandes wirkt er sich als eifriger Propagandist des Gewerkschaftsgedankens aus. In zahlreichen Gewerkschaftsversammlungen spricht er zu seinen Klassengenossen. In einer Riesenversammlung im Odeon Hannovers hebt er den Kampfesmut streikender Former.
In Hannover stürmte 1889 auch die populäre wissenschaftliche Literatur des Sozialismus, die der Guillotine des Ausnahmegesetzes verfallen war, auf den jungen Ebert ein. Diese Literatur brachte besonders plastisch den Entwicklungsgedanken zum Ausdruck. Mit dramatischer Wucht wälzte sich in dieser Literatur die ganze Gesellschaft, ihre wirtschaftlichen und staatlichen Institutionen, ihre Welt- und Lebensanschauung mit der technisch-wirtschaftlichen Umgestaltung der Produktionsmittel um.
Die illegale, die verbotene Literatur der Sozialdemokratie flutete in starken Strömen nach Deutschland. Der ›rote Postmeister‹, Julius Motteler, versorgte von Zürich und London aus die heißhungrigen Leser der verfolgten Presse mit den schwersten Sendungen des verbotenen ›Sozialdemokrat‹. Das war ein gepfefferter ›Schweizer Käse‹, so hieß in Arbeiterkreisen vielfach der von der Polizei verfemte ›Sozialdemokrat‹, der da den kämpfenden deutschen sozialistischen Proletariern geboten wurde!
Das verbotene Blatt lief in den Werkstätten herum, und in den Wirtschaften zog wohl dann und wann ein Arbeiter den ›Sozialdemokrat‹ aus der Rocktasche und vertrieb ihn an Gesinnungsgenossen. Eine Hochflut von Broschüren ergoß sich überdies aus der Druckerei des ›Sozialdemokrat‹ in Zürich-Holtingen über die deutschen Arbeiter.
Im Gesangverein ›Waldesgrün‹ erhielt Ebert mit der verbotenen sozialistischen Literatur enge Fühlung. Mit gutem Menschenkennerblick entdeckten die Leiter des Vereins in Ebert die Charaktereigenschaften, die ihn zur Ausführung vertraulicher politischer Aufgaben befähigten. Und der neunzehnjährige junge Mensch führte mit größter Gewissenhaftigkeit die verschwiegenen Arbeiten aus, die ihn bei der drakonischen Handhabung des Sozialistengesetzes einige Monate hinter Schloß und Riegel setzen konnten.
Die revolutionär-sozialistische Literatur, in der das Feuer des ›Kommunistischen Manifests‹ brannte, trieb zwar den jungen Brausekopf in die Reihen der entschlossensten und wagemutigsten Kämpfer, aber nicht in die Konventikel eines unfruchtbaren Radikalismus, der, auf das dreimal heilige Prinzip eingeschworen, in jeder praktisch-parlamentarischen Politik einen leibhaftigen Verrat des Sozialismus sah.
Ebert ist in diesen Zeiten ein leidenschaftlicher Sturmgeselle, der sein elementar durchbrechendes Temperament noch nicht recht meistern kann. Sein Arbeitsfeld ist aber im wesentlichen der gesetzliche Boden der Gewerkschaftsbewegung. Die gewerkschaftliche Tätigkeit trägt ihm scharfe Maßregelungen ein. Seine wirtschaftliche Position wird in Hannover unmöglich. Er muß sich eine neue Arbeitsstätte außerhalb Hannovers suchen. Und das gerade in einer Zeit, in der die Hochflut der Wahlbewegung durch diese Industriestadt (1890) braust. Er muß Hannover verlassen, das seinem ganzen Leben eine in die Zukunft weisende Richtung gegeben hat.