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Vom Wachsen und Reifen der Partei

Aus einer Parteitagsrede.
Chemnitz 1912

Die Aufgaben der Partei werden immer größer und immer schwieriger und jeder Erfolg hängt letzten Endes doch von der Stärke unserer Organisation ab. Unablässig müssen wir deshalb bestrebt sein, die uns noch fernstehenden Arbeitermassen mit Klassenbewußtsein zu erfüllen, sie zu veranlassen, sich mit ihren Klassengenossen eng zusammenzuschließen und gemeinsam den Kampf zu führen. Mehr als je gilt heute das Wort: Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns!

Der Kampf um die Jugend ist bei unserer Rekrutierungsarbeit von größter Bedeutung. Nach dem alten Rezept: Zuckerbrot und Peitsche! versuchen die Bürgerlichen aller Schattierungen im Bunde mit den Regierungen die Arbeiterjugend für ihre Zwecke einzufangen. Das Vereinsgesetz öffnet der behördlichen Willkür Tür und Tor und wird nur gegen die proletarische Jugendbewegung angewendet. Die bürgerliche Jugendbewegung, die in erster Linie der Bekämpfung der Sozialdemokratie dient, die trotz aller Heuchelei ihrem ganzen Wesen nach politisch ist, wird mit den Mitteln des Staates und der Gemeinden geradezu treibhausartig gezüchtet. Den Beamten, Lehrern und Offizieren wird zur ›unabweisbaren Pflicht‹ gemacht, an dieser ›nationalen Aufgabe ersten Ranges‹ mitzuwirken. Fortbildungsschulen und Sportvereine aller Art versucht man vor diesen Karren zu spannen, und nach der ministeriellen Anweisung soll das alles geschehen, »ohne nach außen hin irgendwelches Aufsehen zu machen«. Jeder klassenbewußte Arbeiter muß da erkennen, wohin die Reise geht. Schon werden im gegnerischen Lager Stimmen laut, die neue Zwangsmaßnahmen für die Jugend verlangen. Hier steht also viel auf dem Spiele! Jedem klassenbewußten Arbeiter muß zur dringenden Pflicht gemacht werden, die proletarische Jugendbewegung nach besten Kräften zu fördern. Das treffliche Organ unserer Jugendbewegung, die ›Arbeiter-Jugend‹, darf in keiner Arbeiterfamilie, in der heranwachsende Söhne und Töchter sind, fehlen. Wenn so jeder seine Schuldigkeit tut, dann werden wir gemeinsam mit den Kräften unserer Jungmannschaft in der Lage sein, dem bürgerlichen Vorstoß mit Erfolg zu begegnen.

Recht gut hat sich unsere Frauenbewegung entwickelt. Die aktive Beteiligung: der Frauen am Parteileben steigt erfreulicherweise immer mehr, aber auch im Hause als Mutter und Erzieherin kann die Frau unseren Bestrebungen ungemein große Dienste leisten. Deshalb muß auch hier jedem einzelnen Parteigenossen sowohl als auch den Organisationen zur Pflicht gemacht werden, nach Möglichkeit die Frauenagitation zu fördern. Bei der Gelegenheit muß ich auf einen Auftrag zu sprechen kommen, den bereits der Magdeburger Parteitag dem Parteivorstand zur Erwägung übergab. Es handelt sich um die Herausgabe einer Modezeitung mit Schnittmusterbeilagen, die den Anforderungen der Arbeiterfamilie entsprechen soll. Wir mußten die Sache der Reichstagswahl wegen zurückstellen, haben aber nun Gutachten von Sachverständigen eingefordert, und daraus ergibt sich, daß diese Aufgabe, die unsere Genossinnen aus agitatorischen Gründen eifrig befürworten, doch überaus schwierig ist. Trotzdem hat der Parteivorstand beschlossen, an die Ausführung dieser Aufgabe heranzutreten. Wir hoffen, daß es gelingt, die großen Schwierigkeiten zu bezwingen.

Neben der Organisation ist die Presse von größter Wichtigkeit für die Partei. Die Zahl unserer Tageszeitungen hat sich im letzten Jahre um fünf vermehrt, sie ist auf 86 gestiegen. So sehr das auch zu begrüßen ist, so muß doch immer wieder vor übereilten Blattgründungen gewarnt werden, besonders wenn es sich um die Schaffung selbständiger Zeitungen handelt. In den letzten Jahren sind entgegen sachkundigem Rat mehrfach Unternehmungen geschaffen worden, die nun einen außerordentlich schweren Stand haben, weil die Voraussetzungen für ihre Existenzmöglichkeit eben nicht gegeben sind. Der Parteivorstand muß bei finanzieller Beteiligung an Presseunternehmungen sich von bestimmten Grundsätzen leiten lassen, wenn er nicht geradezu unabsehbare und bedenkliche Konsequenzen schaffen will.

Was ich vorhin über die Mitgliederbewegung gesagt habe, trifft auch im wesentlichen bei der Parteipresse zu. Neben der Zunahme an Abonnenten hat die Parteipresse in den letzten Jahren auch gewaltig an innerem Wert gewonnen, an dem, was sie leistet zur Erweckung des Klassenbewußtseins des Proletariats, zur politischen und wissenschaftlichen Aufklärung. Es muß rühmend anerkannt werden, daß insbesondere während des Reichstagswahlkampfes unsere Parteipresse geradezu Glänzendes geleistet hat. Große Schichten der Arbeiter stehen uns aber heute noch fern; sie betrachten die Zeitungslektüre lediglich als Befriedigung ihrer Neugierde und bilden die Träger der sogenannten farblosen Presse. Hier liegt noch eine große wichtige Arbeit für die Partei. Hier muß mit voller Wucht eingesetzt werden! Je größer die Ausbreitung der Parteipresse, desto mehr kann sie ihrer großen Aufgabe genügen, um so größer wird ihre Leistungsfähigkeit bei der Erfüllung unserer großen Aufklärungsarbeit!

An allgemeiner Agitation ist alles geschehen, was das Interesse der Arbeiterklasse gebot und was geeignet war, das Parteileben zu befruchten. Gegen die imperialistische Raubpolitik, gegen den Wahnwitz der Rüstungssteigerung, gegen die Kriegshetzereien sowie gegen die wucherische Aushungerungspolitik sind von uns Massenaktionen eingeleitet worden, die sich mehrfach zu wuchtigen Demonstrationen gestalteten. Die sogenannte Aufhebung der Schnapsliebesgabe, die in Wirklichkeit nur eine Erhöhung der Branntweinsteuer, eine Verteuerung des Branntweinpreises und eine Mehrbelastung der Ärmsten der Armen war, beantworteten wir mit der Aufforderung zu energischer Durchführung des Schnapsboykotts. Es liegen Anträge vor, die eine neue Agitation für den Schnapsboykott fordern. Ich glaube, wir führen am besten darüber keine lange Verhandlung, sondern bekräftigen aufs neue den Leipziger Beschluß. Ein einmütiger Appell an die Arbeiterklasse, aus moralischen und politischen Gründen den Schnapsgenuß zu meiden, wird draußen im Lande großen Widerhall finden und die beste Wirkung haben.

Zu allen politischen Aktionen ist von uns Agitationsmaterial herausgegeben worden, und zwar Musterflugblätter, Rednermaterial u. a. m. Zur Reichstagswahl allein sind 68 verschiedene Flugblätter den Organisationen angeboten worden. Dabei ist auf die verschiedensten Verhältnisse Rücksicht genommen worden. Die Bezirks- und Landesvorstände sind seit dem letzten Parteitag dreimal zusammenberufen worden, auch eine Konferenz der Redakteure hat getagt. Mit der Kontrollkommission haben wir alle Vierteljahre konferiert. Bei diesen Konferenzen sind alle wichtigen Parteifragen und die zu treffenden Maßnahmen erörtert, Anregungen und Erfahrungen ausgetauscht worden. Wenn früher hin und wieder geklagt wurde, daß es an Agitationsmaterial mangele, so ist jetzt wiederholt von einer Fülle, sogar von Überfülle an Material gesprochen worden. Ich habe darauf hingewiesen, weil wieder einzelne Genossen dem Vorstand den Vorwurf der mangelnden Initiative und Aktivität machen. In der Organisationskommission, wo doch Genossen sitzen, die langjährige Erfahrungen haben, ist einmütig erklärt worden, daß dieser Vorwurf durchaus unberechtigt sei.

So glaube ich sagen zu dürfen, daß das hinter uns liegende Jahr an die Tatkraft und Opferfreude der Parteigenossen die größten Anforderungen gestellt hat. Unser Freund Seitz hat vorhin gesagt, es sei ein Ehrenjahr der Partei gewesen. Ja, es war ein Kampfjahr, aber auch ein Jahr des Sieges! Außer der großen Steigerung der Mitgliederzahl, der erfreulichen Vermehrung der Abonnenten unserer Presse ist die Zahl unserer Gemeindevertreter von 8900 auf 10 432 gestiegen. In den Landtagen sitzen heute 244 Sozialdemokraten gegen 188 im Vorjahre. Die 4 ¼ Millionen Stimmen bei der Reichstagswahl sind ein glänzendes Vertrauensvotum für die Partei und ihre Politik. Diese gewaltige Wählermasse mit sozialistischer Erkenntnis zu erfüllen, sie zu überzeugten und kampfbereiten Sozialdemokraten zu machen, muß unsere wichtigste Arbeit für die nächste Zeit sein.

Und nun, am Schluß, noch etwas über die Art der Arbeitserledigung im Vorstande oder, wenn ich so sagen darf, über die Richtlinien, die er dabei beachtete. Unsere Arbeit im Vorstand war getragen von übereinstimmender Auffassung in allen wichtigen Fragen und von schöner Kollegialität. Wir haben mit den Gewerkschaften gute Fühlung gehalten und standen zur Leitung der Gewerkschaftsbewegung, zur Generalkommission, fortdauernd in engen, von gegenseitigem Vertrauen getragenen Beziehungen. Zu den auftretenden Parteistreitfragen hat der Parteivorstand jederzeit klar und entschieden Stellung genommen. Bei prinzipiellen Fragen stellte er sich rückhaltlos auf den Boden der Grundsätze des Erfurter Programms, bei taktischen Fragen ließen wir uns bestimmen durch unsere Klassenkampftaktik und durch die Beschlüsse unserer Parteitage. Freilich hat die Parteileitung kein Interesse an der Verschärfung der Meinungsstreitigkeiten. Wir waren daher bestrebt, daß bei aller Gegensätzlichkeit in der Meinung die Zusammengehörigkeit, die Kameradschaft immer über das Trennende zu setzen ist. Vor allem waren wir bestrebt, die Geschlossenheit und Einheit unserer Kampffront zu erhalten, die mit ganzer Wucht gegen den Feind, die kapitalistische Gesellschaftsordnung, zu richten ist. So bitte ich Sie, an die Kritik unserer Tätigkeit heranzutreten und erkläre, daß eine offene, rückhaltlose Aussprache niemandem mehr erwünscht ist als dem Parteivorstand. Wird die Kritik nicht der Kritik wegen, sondern des Interesses an der Sache wegen geführt, dann muß sie zum Vorteil der Partei ausschlagen, dann muß sie die Kampfesfreude und Siegessicherheit unserer Parteigenossen stärken!


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