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Die Weltanschauung Eberts

Die großen Begründer der modernen sozialistischen Arbeiterbewegung in Deutschland betrachteten diese als eine den ganzen Menschen sittlich und geistig emporhebende Kulturbewegung. »Ich bin der erste, zu erklären«, so rief Lassalle mit tiefer Überzeugung aus, »daß jede soziale Verbesserung nicht einmal der Mühe wert wäre, wenn auch nach derselben – was zum Glück objektiv ganz unmöglich – die Arbeiter persönlich das blieben, was sie in ihrer großen Masse heute sind.«

In dem sozialistischen Grundgedanken ist die Beseitigung jedes Klassenrechts, ist die Aufhebung der sozialen Klassen, die Befreiung der Menschheit eingeschlossen. Nach dem Erfurter Programm bedeutet die durch den Sozialismus erstrebte »gesellschaftliche Umwandlung die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet«. Der Sozialismus erscheint als die allgemeine, von der geschichtlichen Entwicklung selbst getragene Menschheitssache. Für diese Entwicklung suchten die Begründer des Sozialismus die Augen ihren Anhängern zu öffnen; aus der vorliegenden Tatsachenwelt sollte sich diesen die neue werdende sozialistische Wirklichkeit erschließen. Marx kehrte sich mit grundsätzlicher Schärfe gegen einen Utopismus, der sich von der Wirklichkeit loslöste und aus dem Handgelenk die ganze zukünftige Gesellschaft konstruierte.

Durch das Studium der populären Schriften von Marx und Engels dringt nun Fritz Ebert in das Verständnis der Grundlehre des Marxismus ein, daß in der ökonomischen Gegenwart die Keime der ökonomischen Zukunft liegen. Aus der bestehenden Welt sucht er an der Hand von Marx die Bewegungsgesetze zu schöpfen, nach denen sich der Kapitalismus im Zusammenprall schärfster wirtschaftlicher und sozialer Gegensätze in den Sozialismus umformt. In der Produktion der Gegenwart regt sich bereits die Produktion der Zukunft. Im Zusammenarbeiten der Arbeiter zu Hunderten und Tausenden in der Fabrik kündet sich die neue gesellschaftliche Produktionsform an.

Der Marxismus vermittelt dem jungen Ebert eine neue Weltanschauung: Die Gesellschaft betrachtet er mit Marx als einen beständig im Prozeß der Umwandlung begriffenen »Organismus«. Die Geschichte ist ihm nicht ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, sondern ein im harten Ringen der Gegensätze zur Höhe emporführender organischer Entwicklungsprozeß. Durch die sozialen Zwangsinstitutionen der Sklaverei, Leibeigenschaft, Hörigkeit usw., die ständig die Produktion steigern und damit den Nahrungsspielraum für die Menschheit erweitern, wächst diese zu einem sozialen Zustand hinauf, in dem alle Arbeitenden einen ausreichenden Lebensunterhalt und freie Muße für wissenschaftliche, künstlerische und sportliche Betätigung finden.

Die proletarische Lebenslage der großen Masse der deutschen Arbeiterschaft war nach seiner durch Marx gefestigten Überzeugung das Resultat einer ungeheuren, die Grundtiefen der Gesellschaft erschütternden wirtschaftlichen Revolution. Er sprach im Jahre 1892 in seiner Streitschrift: »Die Lage der Arbeiter im Bremer Bäckergewerbe und die notwendigsten Aufgaben der Bäckerbewegung« (Verlag von P. Sandhoff 1892) den Gedanken aus, daß diese Revolution die ganzen Lebensverhältnisse des Menschen völlig neugestalten werde. Ebert schrieb in seiner Broschüre: »Die Menschheit ist in ein neues Zeitalter eingetreten, welches der Wissenschaft gehört. Wenn unsere Voreltern auferstehen könnten aus ihren Gräbern und die technischen Errungenschaften unserer Zeit in Augenschein nehmen, wie würden sie staunen! Wie ein Ungeheuer, wie ein Drache aus der Sagenzeit, würde ihnen die rauch- und feuerspeiende, blitzschnell dahersausende Lokomotive erscheinen, oder der haushohe, gewaltig die Wogen durchflutende Dampfer; an Hexenspuk würden sie glauben, könnten sie vernehmen, wie wir uns mit Hilfe des Telephons auf eine Entfernung von mehreren Meilen gemütlich unterhalten, oder sähen sie, wie wir Ströme elektrischen Lichts, Tageshelle verbreitend, dahinfluten lassen. Wie würde unser Großvater, der Spinn- oder Webemeister, staunen, wenn er heute in das Etablissement einer mechanischen Spinnerei oder Weberei käme, wo ein menschenähnlicher Mechanismus mit Hunderten und Tausenden von Händen in Bewegung ist, wie die Arbeiter oder Arbeiterinnen nur als Aufseher an der Maschine stehen, und wenn er dann hörte, daß sein früher so erträgliches Handwerk voll und ganz von der Bildfläche verschwunden ist. Die großartigen Entdeckungen und Erfindungen der Naturwissenschaft und Technik werden in den Dienst der Industrie gestellt. Große Fabriken mit turmhohen Schornsteinen und großartige Bankhäuser deuten an, daß sich die Produktion heute in anderen Händen befindet als vor einem Menschenalter. Wo eine Fabrik entstand, ist die Existenz von Hunderten von kleinen Handwerksmeistern begraben worden, er hat seine Selbständigkeit verloren, er ist zum Fabrikarbeiter gestempelt, und keine Leiter ist vorhanden, auf deren Sprossen er wieder zu dem heraufsteigen könnte, was er war. In ununterbrochenem Siegeslauf schreitet diese Entwicklung vorwärts und alle widerstrebenden Kräfte stellt sie in ihren Dienst; mit demselben Arbeitsaufwand bringt sie Produkte in ungeahnter Fülle hervor, und wenn die Menschheit dieselbe Lebensweise führen wollte, wie vor zwanzig oder dreißig Jahren, so braucht sie heute unendlich Arbeit weniger auf sich nehmen,«

In voller Hingabe an den Gedanken einer sieghaft fortschreitenden ökonomisch-technischen Entwicklung der Gesellschaft schaut Fritz Ebert frohgestimmt in die Zukunft, Muß sie doch den sicheren Triumph des völkerbefreienden Sozialismus bringen! Er spricht in dem Vorwort zu seinem Schriftchen: »Die Lage der Arbeiter im Bremer Bäckergewerbe usw. begeistert von der im Proletariat flammenden, heißen Sehnsucht nach Erlösung«. »Die Lehre vom Vorrecht des Besitzes ist erschüttert. Die Behauptung alter Philosophen, der Arme sei auf ewig zur Knechtschaft bestimmt, findet heute keinen Glauben mehr, und überall regt sich der Unterdrückte in unablässigem Ringen um ein besseres Los. Das Morgenrot der allgemeinen Menschenrechte dringt auch in die Reihen der Bäcker, und der Ruf nach Gerechtigkeit, der über die weite Erde hallt, hat auch in jenen Kreisen Widerhall gefunden.«

In Ebert ist die Idee von dem naturnotwendigen Aufstieg der Menschheit zu einer gerechten, den allgemeinen Wohlstand begründenden Gesellschaftsordnung zu einer alles mit sich fortreißenden Elementarkraft geworden. Das Werden der Welt ist kein bloßes mechanisches Nacheinander, es ist ein organischer, zur höchsten Sittlichkeit emporführender Prozeß. Das »allgemeine Menschenrecht« verwirklicht sich nach Ebert »unter einem unablässigen Ringen«. Das »allgemeine Menschenrecht« bringt hier den Gedanken zum Ausdruck: Der Mensch ist Selbstzweck und nicht Mittel für fremde Zwecke. Mit der vollen Verwirklichung der Unantastbarkeit der Persönlichkeit des Menschen erfüllt sich aber noch nicht das ethische Ideal des Sozialismus vollständig. Die Persönlichkeit soll nicht nur außerhalb der Sphäre aller ausbeuterischen Eingriffe gestellt werden, nein, sie soll in ihrer Entwicklung auch positiv durch schöpferische Betätigung des Solidaritätsprinzips, durch gegenseitige Verpflichtung und Hilfe gefördert werden. Zu der »sittlichen Idee der individuellen Kräfte«, die dem Liberalismus entspringt, tritt nach Lassalle die Idee der »Solidarität der Interessen, der Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit in der Entwicklung«.

Ebert spricht von »einem unablässigen Ringen« der Gesellschaft. Unter schweren sozialen Kämpfen rankt sich die Menschheit zum Sozialismus aufwärts. Auf eine heroische Weltanschauung, auf die Weltanschauung einer sich empor »ringenden« Menschheit ist der ganze Sozialismus gestimmt, nicht auf einen lässigen, passiven Optimismus, Der Sozialismus fordert gebieterisch die selbstgewählte Unterordnung des Individuums unter das Gemeinschaftsinteresse, das Aufgehen des kämpfenden Proletariats in den Gedanken des »Arbeiterstandes« (Lassalle). Die Ethik des Sozialismus legt ein bestimmtes sittliches Verhalten der arbeitenden Klasse auf; ihr Klassenprinzip fällt ja mit dem höchsten sittlichen Menschheitsprinzip zusammen. Aus dieser ethischen Idee des Sozialismus heraus richtet Ferdinand Lassalle folgendes sittliches Postulat an die Arbeiterschaft: »Nichts ist mehr geeignet, einem Stand ein würdevolles und tief sittliches Gepräge aufzudrücken, als das Bewußtsein, daß er zum herrschenden Stande bestimmt, daß er berufen ist, das Prinzip seines Standes zum Prinzip des gesamten Zeitalters zu erheben, seine Idee zur leitenden Idee der ganzen Gesellschaft zu machen und diese wiederum zu einem Abbild seines eigenen Gepräges zu machen. Die hohe Ehre dieser Bestimmung muß alle Ihre Gedanken in Anspruch nehmen. Es ziemen Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten, noch die müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harmlose Leichtsinn der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchem die Kirche der Gegenwart gebaut ist.«

Die ethische Seele, die Lassalle dem Sozialismus einhauchte, webt und lebt in der sozialdemokratischen Bewegung. In dieser Hinsicht ist die sozialdemokratische Bewegung »lassalleanisch«.

So ist es auch im Hinblick auf den von ihr betriebenen hohen Kultus der Wissenschaft. Ebert spricht zum Beispiel begeistert von dem »Zeitalter der Wissenschaft«, in das die Menschheit getreten ist. Die Lösung der Arbeiterfrage im sozialistischen Sinne ist an die technische Anwendung der Wissenschaft gebunden. In einer gewissen Hochstimmung schildert Ebert die wissenschaftlich-technische Vervollkommnung der Arbeit, die wachsende Bedeutung der Zusammenarbeit in der Fabrik, den werdenden kollektivistischen Charakter der Arbeit. Der Arbeiter als der Repräsentant des heranreifenden Kollektivismus, des kämpfenden Gestalters der »Idee des Arbeiterstandes« muß sich mit der Wissenschaft verbinden, damit sich der Sozialismus verwirklicht. Auch Ebert bekennt sich zu dem großen Gedanken Lassalles, daß die »Allianz der Wissenschaft und der Arbeiter ...« »alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen erdrücken« werde.

Fritz Ebert würdigt in seiner Broschüre: »Die Lage der Arbeiter im Bremer Bäckergewerbe usw.« kurz die technischen Fortschritte in der Bäckerei und stellt den schwankenden Boden dar, auf dem das ganze Bäcker-Innungswesen steht. Er stellt realisierbare Forderungen auf, die sich genau an die bestehenden Verhältnisse anlehnen, und er benutzt geschickt die Sympathien weiter Kreise für die Bäcker, um das schwere Los dieser Mühseligen und Beladenen zu erleichtern. Er ruft vor allem auch die Hilfe der Konsumenten auf, deren Gesundheit ja selbst durch die unreinlichen, unhygienischen Werkstätten der Bäcker gefährdet ist.

Die Broschüre: »Die Lage der Arbeiter im Bremer Bäckergewerbe« charakterisiert die ganze Persönlichkeit Eberts. Hochideale sittliche Ziele stehen vor seinen Augen, aber diese sucht er nicht durch ein erdfernes, himmelstürmendes Schwärmen zu verwirklichen, sondern durch ein festes Fußen in der greifbaren Wirklichkeit.


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