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1907.

Fragen der sozialistischen Organisation und Agitation

Aus einer Parteitagsrede.
Essen 1907

In der bürgerlichen Presse ist der Einwand erhoben worden, daß die Zahl unserer Organisationsmitglieder zur Zahl der abgegebenen Stimmen für uns immer noch in einem recht schlechten Verhältnisse stehe. Es wird auch von uns niemand bestreiten, daß es nach der Richtung hin noch bedeutend besser werden muß. Andererseits aber glaube ich sagen zu können, daß dieses Verhältnis bei uns den bürgerlichen Parteien gegenüber das weitaus bessere ist. Die bürgerlichen Parteien sollten doch einmal erklären, wie es in dieser Hinsicht bei ihnen aussieht. Dabei kommt in Betracht, daß unsere Parteigenossen durchweg wirtschaftlich abhängig und infolgedessen vielfach gar nicht in der Lage sind, Mitglieder unserer Organisation zu werden, wenn sie ihre Existenz nicht aufs Spiel setzen wollen, insbesondere da, wo die Mitgliederlisten unserer Organisation der Behörde eingereicht werden müssen. Ist doch erst kürzlich in einem Parteiblatt mitgeteilt worden, daß der Vorstand des Braunschweiger Landwehrverbandes in der »Landwehrzeitung« eine Bekanntmachung erlassen hat, in der es hieß, daß aus der seitens der herzoglichen Staatsbehörde mitgeteilten Liste sich ergeben habe, daß vier Mitglieder des Krieger- und Landwehrvereins in Heimburg auch dem sozialdemokratischen Verein angehören. In Stade ist mehreren Arbeitern von einem Kriegervereinsvorstand mitgeteilt worden, daß sie nach der von der Polizei gemachten Anzeige einem sozialdemokratischen Verein angehören, solche Mitglieder könnten aber nach dem Statut im Kriegerverein nicht geduldet werden. Die »Greizer Zeitung« hat kürzlich die Mitgliederliste unserer Organisation, die bei der Behörde eingereicht war, einer eingehenden Besprechung unterzogen, sie kann die Informationen nur von der Behörde erhalten haben. Die Kreisleitung des Kreises Essen hat kürzlich mitgeteilt, daß in Rotthausen und Borbeck bei neuaufgenommenen Mitgliedern unserer Organisation die Polizei erschienen sei, um ihre Personalien aufzunehmen. Diese wenigen Tatsachen, die man vielfach vermehren könnte, genügen, um klar zu machen, daß diese beschämende vereinsgesetzliche Bestimmung, wonach die Mitgliederlisten unserer Organisation einzureichen sind, der behördlichen Willkür Tür und Tor öffnet und es daher vielen Parteigenossen erschwert, Mitglieder der Organisation zu werden. Das wird auch dadurch bestätigt, daß an unsere Kreisorganisationen über 11 000 Parteigenossen zwar regelmäßig Gelder für die Partei zahlen, aber nicht Mitglieder der Parteiorganisation sind. Davon entfallen allein über 70 % auf Preußen und bezeichnenderweise hauptsächlich auf Bezirke, wo die Abhängigkeit der Arbeiter besonders groß ist. Natürlich haben wir diese 11 000 Parteigenossen nicht als Mitglieder registriert.

Wenn ich einige Ausführungen über die Organisation im allgemeinen mache, so glaube ich, mich in Übereinstimmung mit Ihnen zu befinden, wenn ich sage, daß die Parteiorganisation sich auch während des Wahlkampfes nach jeder Richtung hin bewährt hat. Deshalb sollte man auch nicht wegen dieser oder jener nebensächlichen Dinge zu einer Änderung des Organisationsstatuts schreiten. Es ist uns ja angekündigt, daß wir als Frucht der konservativ-liberalen Paarung auch ein Reichsvereinsgesetz zu erwarten haben. Ob davon etwas wird, ist ja noch sehr zweifelhaft. Jedenfalls sollten wir schon aus diesem Grunde jetzt von einer Änderung des Organisationsstatuts absehen. Die Kreisorganisation ist in Südbayern und einigen anderen Wahlkreisen noch nicht durchgeführt. In Südbayern soll dies nun geschehen. Die weiter hier in Betracht kommenden Kreise sind aufzufordern, sich ebenfalls dem Organisationsstatut anzupassen. Bis auf einen Bezirk ist die Bezirksorganisation jetzt im ganzen Reich durchgeführt.

Für den inneren Ausbau unserer Organisation bleibt aber noch viel zu tun übrig. Ich beziehe mich da auf die Ausführungen im schriftlichen Bericht über die wahltechnische Organisation unserer Gegner. Es wäre ein großer Fehler, wollten wir das unterschätzen, zumal da die Gegner eifrig bestrebt sind, diese Organisationen auch über die Zeit des Wahlkampfes hinaus für den allgemeinen Kampf gegen uns aufrechtzuerhalten. Wir müssen es uns überall zur Pflicht machen, unsere Organisation nach der amtlichen Einteilung der Wahlbezirke zur Reichstagswahl zu gliedern. In jedem Bezirk müßten wir eine genaue Übersicht über die soziale Stellung der Einwohner des Bezirks haben, es müssen uns erfahrene Genossen in jedem Bezirk zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe wir in der Lage wären, jederzeit mit den uns sozial nahestehenden Schichten der Bevölkerung des Bezirks in persönliche Berührung zu treten. Dann werden wir der Art des Kampfes, wie ihn unsere Gegner führen, erfolgreich begegnen können. Wichtig für den Ausbau der Organisation ist auch die Beitragsleistung. Der schriftliche Bericht zeigt, wie weit wir von einer einheitlichen Beitragsleistung noch entfernt sind. Erfreulicherweise haben ja verschiedene Organisationen ihre Beiträge erhöht. Die sächsische Landeskonferenz hat einen einheitlichen Wochenbeitrag von 10 Pf. beschlossen. Unsere Aufstellung zeigt, daß wir noch 120 Wahlkreisorganisationen haben, in denen der monatliche Beitrag 20 Pf. nicht übersteigt. Ein solcher Beitrag ist heute nicht mehr ausreichend, um die gesteigerten Aufgaben erfüllen zu können. Wir müssen deshalb überall einen Wochenbeitrag von 10 Pf. anstreben. Wenn es unseren sächsischen Genossen, die doch eine ganze Anzahl armer Bezirke haben, gelingt, ihren Beschluß durchzuführen, dann, glaube ich, ist der Nachweis geführt, daß der Wochenbeitrag von 10 Pf. somit im ganzen Reich durchgeführt werden kann.

Ich komme nun zur Agitation. Es scheint mir, daß in einzelnen Bezirken die Saalabtreiberei nicht mit der notwendigen Energie bekämpft wird. Wo aber der Kampf gegen den Terrorismus der Behörden und Gegner mit Hartnäckigkeit aufgenommen wird, da ist er auch erfolgreich. Wir müssen in dieser Beziehung energisch vorgehen, weil zweifellos die mündliche Agitation am wirksamsten ist. Inzwischen ist unser Handbuch ja erschienen, das die Wahllügen der Gegner systematisch zusammenstellt und zurückweist. Wir glauben damit eine wertvolle Waffe geschaffen zu haben. In dem in allernächster Zeit erscheinenden Leitfaden zum Selbststudium haben wir ein wertvolles Hilfsmittel zur Heranbildung von Agitatoren geschaffen.

Auch die schriftliche Agitation muß noch intensiver gestaltet werden. Hier ist die Hauptsache die Ausbreitung der Parteipresse. Wohl haben wir auch hier große Erfolge erzielt; aber immer kommen wir noch nicht genug gerade an die Schichten der Bevölkerung heran, die wir bearbeiten wollen. Hier muß mit Flugblättern nachgeholfen werden. Wir waren bestrebt, ein möglichst großes Agitationsmaterial bereitzustellen. Diese Agitation muß sich nicht nur an die Landbevölkerung wenden, sondern auch diejenigen Arbeiterschichten fassen, die noch die Generalanzeiger lesen. Einige Wahlkreise haben Anträge gestellt, die den Anschein erwecken könnten, als ob die Partei der Landagitation nicht genügende Aufmerksamkeit schenkt. Das ist aber nicht zutreffend. Die Bezirksorganisationen geben periodisch erscheinende Agitationsschriften, sorgfältig vorbereitete Monatsblätter heraus, deren Inhalt auf die Landbevölkerung berechnet ist. In allen Bezirken werden Agitationskalender verbreitet, die der Agitation unter der ländlichen Bevölkerung dienen. Aus den Berichten der Bezirksorganisationen und der Parteisekretäre geht hervor, daß hier ein erhebliches Stück Arbeit geleistet wird. Allerdings tritt diese Agitation nicht so in die Erscheinung wie die allgemeine Parteiagitation. Aber nichts wäre törichter, als wenn die Landagitation nach einem einheitlichen Schema im ganzen Reiche oder gar mit einer einzigen Agitationsschrift betrieben werden sollte. Die Verhältnisse sind überall verschieden und nach ihnen muß die Agitation auf dem Lande eingerichtet werden.

Im allgemeinen glaube ich, daß wir bei der Agitation unser Augenmerk in erster Linie auf die Gewinnung unserer natürlichen Anhänger, auf das Industrieproletariat, zu richten haben. Hier ist noch außerordentlich viel zu tun. Gerade die Verhältnisse dieses Bezirkes zeigen uns, was wir da noch zu leisten haben. Die Agitation des Zentrums und des Reichsverbandes wendet sich vorwiegend an die indifferenten Industriearbeiter. Hier haben wir mit aller Energie für gründliche und systematische Aufklärung zu sorgen, um diese Schichten mit Klassenbewußtsein zu erfüllen und für den Klassenkampf zu gewinnen.

Auf die Reichstagswahlen brauche ich nicht näher einzugehen, da uns diese noch besonders beschäftigen werden. Wenn wir auch diesmal nicht wie seither seit dem Fall des Sozialistengesetzes mit Stolz einen bei der Wahl errungenen Mandatsgewinn verkünden können, so sind wir doch überzeugt, nach unseren besten Kräften unsere Schuldigkeit getan zu haben. Wenn ich auch durchaus nicht die große Bedeutung einer starken Reichstagsfraktion verkennen möchte, so ist doch eine starke Fraktion nicht gleichbedeutend mit der Macht und Aktionsfähigkeit der Partei. Diese wurzelt vielmehr in der Stärke ihrer Organisationen, in der Ausbreitung ihrer Parteipresse. Und nach der Richtung hin hat das abgelaufene Jahr uns recht erfreuliche Erfolge gebracht. Fortschritte, die beweisen, daß die Sozialdemokratie unaufhaltsam siegreich vorwärtsdringt. Wir verkennen nicht, daß unser Kampf immer heftiger und schwieriger wird. Das Verhalten unserer Gegner, der Regierung und der behördlichen Organe zeigt uns, daß heute das A und O ihrer Politik der Kampf gegen die Sozialdemokratie, das Niederhalten der aufstrebenden Arbeiterklasse ist. Dieser Kampf wird sich verschärfen, je mächtiger sich die Sozialdemokratie entfaltet, je nachdrücklicher die Arbeiter für ihre Forderungen eintreten. Trotzdem können wir aber siegesfroh und wohlgemut in die Zukunft blicken. Wenn die Partei alle ihre Kräfte auch künftighin konzentriert auf systematische rastlose Organisationsarbeit, auf einmütige gründliche Aufklärungsarbeit und Propaganda unserer Grundsätze und Forderungen, dann wird die Sozialdemokratie auch in Zukunft ihren Siegeslauf fortsetzen.

Ich möchte nicht zum Schluß kommen, ohne mit einigen Worten der Lücke zu gedenken, die im vergangenen Jahre in den Reihen des Parteivorstandes entstanden ist. Sie alle waren gewiß ebenso wie wir im Parteivorstande außerordentlich schmerzlich ergriffen, als der Draht den Tod unseres Genossen Ignaz Auer verkündete. Was Auer für die Partei, was er der Parteileitung gewesen ist, läßt sich mit wenig Worten nicht schildern; wir haben in unserem schriftlichen Bericht und die Parteipresse hat in längeren Artikeln auf die große Bedeutung Auers für die Sozialdemokratie hingewiesen, und auch wir auf dem Parteitage können nur einmütig und dankbar all dessen gedenken, was Auer in der Partei geleistet hat. Wir alle wollen es uns zur Pflicht machen, in seinem Sinne zu streben und zu wirken für die Sozialdemokratie, für die Befreiung des Proletariats.


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