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Soziales Pflichtgefühl

Aus einer Reichstagsrede.
7.5.1914

Es ist charakteristisch, daß der Herr Reichsschatzsekretär in der Kommission bei der ersten Lesung der Vorlage erklären konnte, die Regierung werde jede Änderung ihrer Vorlage, die von materieller Bedeutung sei, ablehnen. Das ist ganz unverblümt der Standpunkt: Vogel friß oder stirb! Wo bleibt da die verfassungsrechtliche Stellung des Deutschen Reichstags? Da muß doch endlich die Frage aufgeworfen werden, wie lange der Reichstag sich eine solche Behandlung noch gefallen lassen will? Diese Taktik des Bundesrats wächst sich geradezu zu einem System aus, das darauf hinausläuft, den Reichstag völlig auszuschalten! Es ist unseres Erachtens Pflicht des Reichstages, Sorge zu tragen, daß diesem unwürdigen Zustande endlich ein Ende bereitet wird. Finanzielle Bedenken können für die Haltung des Bundesrates nicht entscheidend gewesen sein; denn dazu ist das Objekt angesichts des Hundertmillionen-Überschusses der Reichspostverwaltung denn doch zu geringfügig. Weitere Konsequenzen für andere Reichsbeamte können aus den Beschlüssen der Kommission auch nicht gefolgert werden. Und soll denn schließlich die Rücksicht auf Preußen so weit gehen, daß die preußische Regierung dem Reichstage seine Beschlüsse diktiert? Wenn Preußen es an dem nötigen sozialen Verständnis, an dem nötigen Pflichtgefühl gegenüber seinen Beamten fehlen läßt, so kann doch der Reichstag nicht gezwungen sein, in denselben Fehler zu verfallen und ebenso zu verfahren.

Die Kommissionsbeschlüsse sind nach jeder Hinsicht sorgfältig geprüft und durchaus gerechtfertigt. Läßt die Regierung trotzdem die Besoldungsvorlage an diesen Beschlüssen scheitern, dann setzt sie ihre so viel gerühmte Beamtenfreundlichkeit eben selbst in das richtige Licht. Der Herr Schatzsekretär hat vorhin gesagt, die Reichsregierung lasse sich in der Fürsorge für die Beamten von niemandem übertreffen. Ja, meine Herren, an schönen und billigen Redensarten für die Beamten hat es die Reichsregierung allerdings nie fehlen lassen. Jetzt aber, wo es sich darum handelt, den wirtschaftlich hart bedrängten Unterbeamten tatsächliche Hilfe zu leisten, wo es sich darum handelt, die Worte in die Tat umzusetzen, da versagt die Reichsregierung gänzlich. Wenn es sich um Forderungen für den Militarismus handelt, dann kommt es auf einige Dutzend Millionen Mark mehr oder weniger nicht an. Hier aber, wo es sich um eine verhältnismäßig geringfügige Aufwendung für durchaus notwendige und gerechtfertigte soziale Zwecke handelt, da knöpft die Regierung ihre Taschen zu und weist den Beamten die Tür!


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