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Der bahnbrechende Pädagoge Wyneken sagt einmal: »Der Jugend eigenes Leben galt nichts und wurde rücksichtslos dem sozialen Zweck geopfert.« Die Jugend wurde nur als Vorbereitung für die erwerbstätige Zeit angeschaut, sie war nicht Selbstzweck. Die Jugend selbst schämte sich fast ihres knospenden, prächtig unreifen Zustandes, sie gebärdete sich als erwachsen und nahm alle Arten und Unarten der Lebensführung der »Alten« an. Das »nützliche Mitglied der menschlichen Gesellschaft« lief gleichsam schon in Kinderhosen herum. Aber nicht alle Knaben und Mädchen vergaßen, daß sie noch grün unter der Nase waren und daß sie ihre eigenen Bocksprünge und jugendlichen Tollheiten machen mußten. Sie wollten nicht immer an Vaters Hand wohlgesittet einhergehen. Sie besannen sich auf sich selbst, scharten sich zusammen und wanderten wie die Scholaren des Mittelalters in die Welt hinaus. Der »Wandervogel« entstand im Spätherbst 1901. Diese Jugend wollte jung und von den Existenzkämpfen des Alters noch unbelastet sein. Zwischen dem Elternhaus und dem jugendlichen Tummelplatz bildeten sich scharfe Gegensätze heraus. Die Jugend sehnte sich nach freier Selbstgestaltung ihres Lebens, nach eigenen Freuden und Leiden. An den Fundamenten der väterlichen Autorität, die das werdende Geschlecht nach den Grundsätzen erwachsener Menschen meistern wollte, gruben emsig rührige jugendliche Hände.
Der »Wandervogel« umfaßte vorwiegend jugendliche Elemente der bürgerlichen Klassen, er entwickelte Formen der Geselligkeit, die später von der proletarischen Jugend übernommen und weiter ausgebildet wurden. Die Geschichte der Bewegung dieser Jugend, die aus schweren wirtschaftlichen Ängsten und Nöten zur Freiheit der Selbstbehauptung emporstieg, ist allerdings aus anderem Stoff geformt als die des bürgerlichen Wandervogels.
An der Schwelle der proletarischen Jugendbewegung stand ein sehr ernstes soziales Ereignis. Im Frühling 1904 fand man im Grunewald die durch blutige Striemen verunstaltete Leiche eines Lehrlings, der sich durch Selbstmord vor den grausamen Züchtigungen eines brutalen Meisters gerettet hatte. Der Tod jenes Unglücklichen wirkte wahrhaft aufrüttelnd auf die proletarische Jugend Berlins. Im Herbst 1904 schlossen sich Lehrlinge zum »Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins« zusammen. Gar manches Spottwort fiel wohl über den Verein der »Säuglinge«, aber der Verein blühte auf – trotz strenger Eingriffe der Polizei in sein junges Leben. Im Jahre 1907 wurden in Berlin acht Versammlungen verboten und elf aufgelöst. Die Jugendorganisationen rankten sich aber weiter lustig empor.
Die Jugend hatte sich also auf die eigenen Füße gestellt, hatte eigene Abwehrmaßnahmen geschaffen und wirksame Einrichtungen zu ihrer Bildung und politischen Aufklärung gegründet. Da besannen sich die Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei auf ihre Verpflichtungen gegenüber der ernst ringenden Jugend. Am 13. September 1908 trat in Nürnberg der sozialdemokratische Parteikongreß zusammen, der zu der Frage der Arbeiterjugendbewegung Stellung nehmen sollte. Die leitenden Köpfe der Partei waren sich darüber einig, daß man die Jugendlichen nicht von oben schulmeistern dürfe, sondern ihnen den nötigen Spielraum für ihre eigene Bewegung, für die Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten lassen müsse. Alte und Junge sollten gemeinsam die Jugendbewegung fördern. Der Parteivorsitzende Haase fand auf dem Parteitage überall Verständnis, als er den Satz aussprach: »Nur Persönlichkeiten, die sich in die jugendliche Seele zu versenken vermögen, die liebevoll mit den Jugendlichen zusammenarbeiten können und wollen, dürfen zu dieser Arbeit berufen werden!« Der Parteitag beschloß, in den einzelnen Orten Kommissionen aus Vertretern der örtlichen Parteiorganisationen und der Gewerkschaftskartelle unter Hinzuziehung von Vertrauenspersonen der jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen zu bilden, um die Arbeiterjugend im Sinne der proletarischen Weltanschauung zu erziehen. Der Parteitag entschied sich für die Herausgabe eines Organs zur Aufklärung der jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen.
Gemeinsam mit der Generalkommission der freien Gewerkschaften und Vertretern der Jugend schuf die Sozialdemokratie »die Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands«. Den Vorsitz in der Zentralstelle führte Fritz Ebert, der für diesen Posten besonders geeignet war, da er als einstiger Stürmer und Dränger die Wünsche und Forderungen der Jugend aus eigenen Erlebnissen kannte. Ihm gelang es trefflich, den Gedanken der Jugendbewegung mit dem der Jugendpflege harmonisch zu vereinigen. Mit bewundernswerter Ruhe hielt er auf der ersten Reichskonferenz der Jugendausschüsse in Berlin am 18. und 19. April 1910 den Anstürmen der jungen Draufgänger stand. Er entwarf ein in aller Sachlichkeit lebendiges Bild von den Arbeiten der Zentralstelle zur Förderung der Jugendbewegung. Er hatte ein Ohr für den Ruf der Jugend nach größerer Bewegungsfreiheit, er verstand es, wenn Hitzköpfe gegen die »Gängelei von oben« lärmten. Dem Anschluß der Zentralstelle an die Jugendinternationale widerstrebte er energisch, weil dieser Anschluß die Jugendbewegung der Willkür der Polizei ausgeliefert hätte.
Dem Programm, das sich die Jugend in den Resolutionen zur Bildungsarbeit und zum Jugendschutz gab, konnte er mit ganzem Herzen zustimmen. Es forderte die Erziehung der proletarischen Jugend zur tätigen Anteilnahme an dem praktischen und geistigen Leben der arbeitenden Klasse. Die wesentlichsten Stoffe zu dieser Heranbildung sollten die Geschichte (namentlich der Perioden, die am unmittelbarsten das Verständnis für das Leben der Gegenwart erschließen), die Gesellschaftswissenschaften und die in den Entwicklungsgedanken einführende Naturerkenntnis bieten. Die Bildungsarbeit sollte dem Verständnis und der Eigenart der Jugendlichen angepaßt und durch Veranstaltungen geselliger und künstlerischer Art ergänzt werden. Das Programm ging dann ausführlich auf den Schutz der Jugend vor kapitalistischer Ausbeutung ein.
Zehn Jahre hat Fritz Ebert der Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands vorgestanden und damit eine hochwertige Kulturarbeit geleistet. Im letzten Vorkriegsjahre bestanden 800 Jugendausschüsse und mehr als 100 000 Jugendliche bezogen die »Arbeiterjugend«, das durch den Nürnberger Beschluß geschaffene Organ für die proletarische Jugend.
In der »Zentralstelle« hat Ebert jung und alt zu wahrhaft schöpferischer Zusammenarbeit vereinigt. Und so stellt denn Karl Korn in seiner trefflichen Schrift: »Die Arbeiterjugendbewegung« fest, »daß in all den Jahren, seitdem die Zentralstelle bestand, bis zur Spaltung in der Kriegszeit zwischen ihren erwachsenen und jugendlichen Mitgliedern das kameradschaftlichste Einverständnis geherrscht hat. Nie, in keinem einzigen Fall, haben sich Differenzen der Art bemerkbar gemacht, wie sie beim Übergang von der organisierten zur freien Bewegung von den Anhängern der selbständigen Organisationen befürchtet worden waren. In keinem einzigen Beschluß von prinzipieller oder taktischer Tragweite sind etwa die Vertreter der Jugend von den Erwachsenen majorisiert worden ... Soweit die Zentralstelle in Betracht kommt, war jedenfalls die vielberufene Frage ›Pflege oder Bewegung‹ durch die gemeinsame Arbeit in der Bewegung nach kurzer Frist für beide Teile gegenstandslos geworden.«
Diese schlichten Worte des besten Kenners der Arbeiterjugendbewegung sind das beste und ehrenvollste Zeugnis für die fruchtbare Tätigkeit Eberts in der deutschen Jugendbewegung, die sich zu einer großen Kulturbewegung auswächst. Will sie doch die sich in der Jugend regenden edlen moralischen, intellektuellen und körperlichen Kräfte zur vollen Entfaltung bringen. Der Gemeinschaftsmensch, der Sozialist, soll sich bewußt erziehen.
Die ältere Generation der Arbeiterschaft war noch zu stark in dem Glauben befangen, daß der äußere Zwang der Verhältnisse, daß die wachsende Vergesellschaftung der Arbeit und des Lebens den Gemeinschaftsmenschen von selbst formen werde, und sie vernachlässigte die planvolle Erziehung des Menschen zum Sozialisten. In diesem wichtigen Punkte setzte nun die Jugendbewegung kraftvoll ein. Sie schuf neue Formen des Zusammenlebens, die das Gemeinschaftsinteresse in ganz anderer Weise pflegte als in der früheren, streng autoritären Familie, die das Individuum rücksichtslos der Vormundschaft der Eltern unterstellte und seine ganze Betätigung in einen sehr engen Lebenskreis bannte. In der Jugendbewegung erfolgte der Bruch mit überkommenen Sitten und Gepflogenheiten. Die Trinksitten wurden in Jugendkreisen abgestellt, das Rauchen eingeschränkt oder ganz ausgeschaltet. Gegen die Modenarrheiten führte die Arbeiterjugend einen zielklaren Kampf. Einfach und gesundheitlich zweckmäßig sollte das Gewand der Jugend sein. »Die Jugend«, so stellte Elisabeth Röhl in ihrem Aufsatz: »Revolution und Mode« (Vorwärts-Almanach 1922) fest, »der neue Mensch will sein eigenes Kleid haben. Wer hat sie nicht schon bewundern können, die jungen Mädels und die jungen Burschen, die in ihren schlichten Kleidern und Kitteln, ungehemmt und nicht gezwickt und gezwängt, sich ihre Formen und Farben suchten. Was die verhältnismäßig kleine Zahl von Frauen, Führerinnen der Frauenkleidungsreform, in mühevoller, jahrzehntelanger Arbeit erstrebten, heute ist es da, die Jugend will es. Sie lehnt die Fesseln ab, auch die der Moden.«
In engster Verbindung mit der Arbeiterjugendbewegung steht der »Jungsozialismus«, die Bewegung der Jugendlichen über 18 Jahre. In ihr ist die Überzeugung, daß der Mensch zum Größten und Höchsten bestimmt ist, eine formende, aufbauende Kraft geworden. Und diese Kraft soll sich bewußt, verstärkt, geläutert auswirken. Der jugendliche Arbeiter beider Bewegungen sucht seine Seele zu erziehen, zu veredeln.
In den andachtsvollen Naturfeiern der Arbeiterjugend und der Jungsozialisten, in ihren begeisterten Friedensdemonstrationen pulst ein starkes religiöses Gefühl. Unvergeßlich werden für alle jungen Herzen die erhebenden Jugendtage von Weimar und Bielefeld sein, die gemeinsam von den Jungsozialisten und der Arbeiterjugend begangen waren. In dem Festspiel: »Der Aufbruch«, das in Bielefeld zur Aufführung gelangte, kam die an das Edelste im Menschen appellierende ethische Tendenz der Arbeiterjugendbewegung plastisch in den Worten zum Ausdruck:
Ein neuer Mensch,
Ein neues Sein,
Das ist die ganze Wandlung.
Ein Aufbruch in dem Menschen selbst,
Der bringt euch die Befreiung.
Und diesen inneren ethischen Sinn der Arbeiterjugendbewegung hat Fritz Ebert klar erkannt und erfolgreich gefördert.
Die proletarische Jugend Deutschlands schloß sich nun nicht allein der »Arbeiterjugend«bewegung an, sie trat auch massenhaft den Arbeitersportverbänden bei. Der »Arbeiter-Turn- und Sportbund« wurde bereits 1893 ins Leben gerufen. Er zählte damals nur 4000 Mitglieder. Am 1. Januar 1919 musterte er 4195 Vereine mit 448 913 Mitgliedern. Die Zahl der Fußballspieler betrug 58 450, die der Turnerinnen 35 899. Nicht eingerechnet sind 139 827 Kinder, die an dem Turnen der Vereine teilnahmen. Der »Arbeiter-Radfahrerbund Solidarität« hatte am 31. Dezember 1920 insgesamt 149 818 Mitglieder, der »Arbeiter-Wassersportverband« 60 000 Mitglieder, der »Bund der Naturfreunde« 40 000 Mitglieder. Im ganzen geboten die Arbeitersportvereine im Jahre 1922 schon über eine Million Mitglieder. In allen diesen Sportvereinen betätigen sich massenhaft jugendliche Arbeiter.
Die proletarische Jugend arbeitet planvoll an einer harmonischen Entwicklung von Geist und Körper. Auch die Körperpflege gehört zur Kultur. Die Jugend wirft auch hier den »modischen« Anzug ab, schlüpft in den einfachen, schlichten Sportkittel und strebt aus der Kneipe hinaus ins Freie. Eine gesteigerte Aktivität überall! Erst kamen die Erwachsenen in Fluß, und nun auch die »Jungen« und »Mädels«, Neue Umgangsformen bilden sich. Autoritäre Bande werden durch kameradschaftliche ersetzt. Die Jugend wählt sich gleichaltrige Führer und ordnet sich diesen in freiwilliger Disziplin unter. Wer sich selbst bestimmt, der weiß auch, daß ihn für alles Selbstgewollte volle Verantwortung trifft. Selbsterziehung und Gemeinschaftserziehung verbinden sich harmonisch.
Überall regt sich in der Jugend eine gesteigerte Selbstbetätigung und ein neues Gemeinschaftsleben, Neue Wege öffnen sich, mögen es, um den Ausdruck des Jugendführers Karl Bröger zu gebrauchen, »Straßen zum Himmel« sein.