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Aus der Bremer Bürger-Zeitung.
3.5.1900
Genosse Fritz Ebert bestieg die Rednertribüne zu folgender Festrede:
Wir begehen die Maifeier seit elf Jahren. Veranlassung zu dem Feste der Arbeit gab der in Paris tagende internationale Arbeiterkongreß, jenes gewaltige Arbeiterparlament, das aus 400 Vertretern der Arbeiter aller Kulturstaaten gebildet war. Der Kongreß beschäftigte sich vorwiegend mit dem Schutze der Arbeiterklasse. Einmal war es seine Aufgabe, Mittel zu ersinnen, um der maßlosen Ausbeutung der Arbeiter ein Ende zu setzen, ferner aber auch den gemeinsam erstrebten endgültigen Zielen festen Ausdruck zu geben. Die bremische Arbeiterschaft feiert den Maifeiertag erst seit wenigen Jahren durch Arbeitsruhe. Man erinnere sich, wie vor Jahren erst ein kleines Häuflein mutiger Genossen den Morgenspaziergang antrat. In den wenigen Jahren hat sich die würdige Feier durch Arbeitsruhe so bedeutenden Eingang verschafft, daß wir heute eine unerwartet gewaltige Zahl von feiernden Arbeitern und Arbeiterinnen überschauen konnten.
Wir feiern das Maifest nicht des Festes halber oder um einmal einen freien Tag zu haben, nein, wir feiern es, um laut und deutlich der herrschenden Klasse zu zeigen, was die Arbeiterschaft will, daß die gewaltige Demonstration nicht das Werk einzelner Personen, sondern der gesamten Arbeiterklasse ist. Wir finden uns heute in unseren Gedanken einig mit den Arbeitern aller Kulturländer. Der Pariser Kongreß hat den zu erstrebenden Arbeiterschutz festgelegt und den achtstündigen Arbeitstag in den Vordergrund gestellt. Der Redner begründet eingehend die Notwendigkeit der Arbeitszeitverkürzung zunächst aus sanitären Gründen; er verweist auf den autoritativen Nachweis der Schädigung der Gesundheit der Arbeiter durch die schwere oder eintönige Arbeit in den Fabriken, auf die Krankheitsstatistik sowie auf die Ergebnisse des Tuberkulosekongresses. Die Tuberkulose ist geradezu das Schreckgespenst für die Arbeiter geworden. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist ein wichtiges Mittel zur wirksamen Bekämpfung dieser Krankheit. Wir fordern aber auch den Achtstundentag, weil erst dieser den Arbeiter in die Lage versetzt, ein ordentliches Familienleben führen zu können. In den weitaus meisten Fällen ist ihm das heute nicht möglich. Früh verläßt der Arbeiter das Heim, während die Kinder noch schlafen. In sehr vielen Fällen sucht auch noch die Frau einen Arbeitsplatz auf. Wo bleibt da das Familienleben? Die Kinder sind sich selbst überlassen, genießen in keiner Weise die Pflege, die gerade für Kinder gefordert werden muß. Der Arbeiter soll auch an den Fortschritten der Entwicklung unserer Kultur teilnehmen; er muß sich fortbilden.
Die Nation, die zu einem hohen Prozentsatz aus der Arbeiterklasse gebildet wird, ist es ihrer Selbsterhaltung schuldig, dem Arbeiter zur weiteren Fortbildung Gelegenheit zu geben. Das ist nicht möglich, wenn der Arbeiter sich in zehn- bis zwölfstündiger Arbeitszeit abquält und ermüdet am Abend aufs Lager sinkt. Das sind die Hauptmomente, die zur Forderung des Achtstundentages veranlassen. Wir wollen anderseits mit der Verkürzung der Arbeitszeit aber auch einwirken auf Angebot und Nachfrage. Wir wissen nicht, wie lange die augenblickliche Prosperität anhält. Die wirtschaftliche Entwicklung lehrt uns, daß ihr die Zeit der Krise folgt. Dann tritt die Konsumtionsunfähigkeit Tausender von Arbeitern, Arbeitslosigkeit in großen Massen und mit ihr Not und Elend in zahlreichen Arbeiterfamilien ein. Gerade heute deuten Anzeichen auf die nahende Krise hin. Aus Amerika kommen Nachrichten über die starke Einschränkung der Produktion in der Eisenindustrie. Das lebhafte Fallen der Papiere der Montanindustrie, die Produktionseinschränkung in der deutschen Kammgarnspinnerei; alles das sind warnende Zeichen.
Neben der Verkürzung der Arbeitszeit demonstrieren wir für andere Forderungen zum Schutz der Arbeit. Die gesetzliche Festlegung der Arbeitszeit ist in Deutschland – gegenüber anderen Industrieländern – noch sehr minimal. Jedoch haben die Kommunen allen Anlaß, darauf zu drängen, daß den Arbeitern das gegeben werde, was ihnen gebührt. Es steht also in Deutschland noch ein großes Gebiet offen. Wir verlangen ferner eine durchgreifende Fabrikkontrolle, eine gründliche Wohnungsreform, den Ausbau der Sozialgesetzgebung. Der Redner beleuchtet die hinlänglich bekannte Mangelhaftigkeit der Sozialgesetze. Heute bewilligt man große Summen für Flottenvermehrungen. Man verweist sogar auf die Arbeitsgelegenheit, die durch die Flottenvergrößerung erwachse. Man möge nur Sorge tragen, daß Gesundungsheime in genügender Anzahl für die im Dienste des Kapitals erkrankten Arbeiter geschaffen werden! Man findet Gelegenheit genug, durch kulturfördernde und menschenfreundliche Zwecke Arbeitsgelegenheit zu beschaffen. Wir verlangen weiter die Reform des Volksbildungswesens, Ausbau des Schulwesens für die Kinder der Arbeiter, denen die nötige Aufsicht fehlt, Spielschulen, in denen sie unter ordentlicher Aufsicht der Lehrer und Bildner die ihnen mangelnde Pflege erfahren. Wir verlangen die völlige Freiheit des Koalitionsrechts. Heute wird die Koalitionsfreiheit in jeder Weise beschränkt. Den Unternehmern ist das bißchen Koalitionsrecht, das die Arbeiter besitzen, ein Dorn im Auge. Seit 1890 ertönt in den Reihen des Unternehmertums der mächtige Ruf nach Organisation, zum Widerstand gegen die Arbeiter. Die Unternehmer haben es verstanden, sich zu organisieren. Zwar existiert auch eine starke Gewerkschaftsbewegung, aber heute müssen wir es uns sagen, daß noch viele sind, die nicht wissen, was ihnen die Organisation für Pflichten auferlegt. Daß sie von jedem verlangt, daß er auch ein treuer, aufopferungsfähiger Kämpfer werde. Aber nicht nur auf die wirtschaftliche Organisation, sondern auch auf die politische müssen wir unser Augenmerk richten. Die Arbeiterklasse muß das Heft der Gesetzgebung den herrschenden Klassen zu entringen suchen. Die politische Tätigkeit muß den wirtschaftlichen Kampf ergänzen.
Ein anderer wichtiger Punkt zwingt uns zu demonstrieren. Die Maifeier ist ein Friedensfest, sie gilt der Überwindung des Völkerhasses. Die herrschenden Klassen sollen ein Beispiel nehmen an der Arbeiterschaft, die heute in allen Kulturländern die gleichen Friedensgedanken zum Ausdruck bringt. Demgegenüber charakterisiert der Redner die Friedenskomödie im Haag. Kaum einige Monate später sehen wir einen Kampf, durch den täglich eine große Anzahl von Menschen dahingeschlachtet wird. Wir haben den großen Gedanken der Völkerverbrüderung zu vertreten; dazu gibt der internationale Arbeiterkongreß in Paris demnächst erneute Gelegenheit. Die deutschen Arbeiter müssen dafür Sorge tragen, daß eine so große Anzahl Vertreter dort zusammenkommt, daß die Kongresse eine immer größere praktische Bedeutung finden.
Der Redner wirft nunmehr noch einen Blick auf die Arbeiterbewegung am Orte, gedenkt des zehnjährigen Bestehens der Bremer Bürger-Zeitung und fordert die Arbeiter auf, immer mehr für Ausbreitung dieses Kampforgans bestrebt zu sein. Dann werden wir auch erneute Fortschritte zu verzeichnen haben. Auch müssen wir unsere Bewegung so einrichten, daß der große Gedanke der Solidarität des Eintretens des Bessergestellten für den im Elend Befindlichen immer festeren Fuß faßt. Wenn wir uns geloben, opfermutig weiterzukämpfen, dann können wir den demonstrierenden Arbeitern aller Länder heute unsern Gruß entbieten und mit einstimmen in den Ruf, der heute durch alle Lande ertönen soll: Arbeiter, Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!
Brausender Beifall folgte des Redners Worten.