Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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56.

Leeds, den 21. Juli 1872.

Sechs Wochen ruhiger Arbeit am Reißbrett, mit gelegentlichen Besuchen von London, wo sich amerikanische Tauereiunternehmungen regen, daneben kleine Erholungsausflüge im Norden Englands, das an altersgrauen Bauten und immergrünen Landschaften mehr bietet, als man ahnt, haben mein inneres und äußeres Gleichgewicht wieder hergestellt. Die Ausstellung der englischen Landwirtschaftsgesellschaft war in diesem Jahr zu Cardiff, in Südwales, wo ich den Versuchen mit Dreschmaschinen beiwohnte, die nicht weniger großartig waren als die der Dampfpflüge im vorigen Jahr. Mit Genuß beobachtete ich, wie sich viele meiner Bekannten abmühten, während ich nichts zu tun hatte, als sorglose Aufzeichnungen und schlechte Witze zu machen und den Charakter von Menschen und Maschinen zu studieren, welche beide genug zu raten und zu verwundern gaben.

Dazwischen fiel ein Ausflug nach der Tintern-Abtei, einem zerstörten Kloster, das im Tal der Wye versteckt liegt. Prachtvolle Klosterruinen, wie man sie in Deutschland kaum findet, sind eine überraschende Eigentümlichkeit Englands. Die schlanken Säulenschäfte, die mächtigen Spitzbogenfenster, die sich aus dem dichten Immergrün emporringen, der träumerische Frieden über dem stolzen Grabe einer von uns – ich spreche von Menschen, die seit sechs Tagen Lokomobilen bremsten und Umdrehungen zählten – unverstandenen, vergessenen Zeit: es war alles da und grünte und träumte, unbekümmert um das Treiben über dem nächsten Berge, und unbekümmert darum, ob eine einzige Seele seit ein paar Jahrhunderten diese träumerische Stille verstanden hat. Es ist gut, daß die Natur träumt und trauert, denkt und dichtet, auch wenn sie keinen Verleger findet und keine zweiten Auflagen. Wo wäre die Welt in fünfzig Jahren, wenn auch sie es aufgäbe und eine praktische Natur würde?

Auf dieses Zwischenspiel folgten zur Abkühlung die eigentlichen Ausstellungstage mit ihrer Papageienarbeit. »Solamen miseris u.s.w.« – es ist, glaub' ich, das einzige Sprüchlein, das mir von dem Erzfeinde meiner harmlosen Jugend noch in Erinnerung blieb. Aber es ist ein Trost, wenn man die Häupter der ersten Fabriken des ersten Industriestaats, mit ihren Katalogen in der Hand und dem Schweiß auf der Stirne, einem wohlwollenden Herrn die Vorzüge eines Wendepflugs oder einer Patenthäckselmaschine auseinandersetzen sieht und der fremde Herr nach einer halben Stunde freundlichen Kopfschüttelns schließlich seine Karte hervorzieht und sich als Schuhmacher von Cardiff entpuppt. Doch in England erklärt das Zauberwort: »Trade« (Geschäft) sowohl dies als alles andre.

In Leeds bin ich derzeit mit Entwürfen verschiedenster Art beschäftigt, um in unsern Werkstätten künftig mit Maschinen zu machen, was bisher noch Handarbeit war, oder durch neue Mechanismen die Leistungsfähigkeit unsrer alten Werkzeuge zu verdoppeln. Es sind dies natürliche Folgen der Arbeitsverhältnisse. Die Leute sind entschlossen, mehr Geld zu verdienen und weniger zu arbeiten. Das eine ist berechtigt und wird auch von den Fabrikherren nach allen Richtungen hin bereitwillig zugestanden. Das andre bringt uns in schwere Not. Der erste Schritt in dieser Richtung war die jetzt überall siegreiche Neunstundenbewegung. Bei Akkordarbeit machte dies fast keinen Unterschied. Jetzt aber beschlossen die Leute, daß keine Überzeitarbeit mehr gearbeitet werden dürfe. Damit war die Leistungsfähigkeit einer bestehenden Fabrik um ein Fünftel oder ein Sechstel vermindert, und es bleibt nichts andres übrig, als entweder sich einfach in die Tatsache zu fügen, oder die Fabrik zu vergrößern, mehr Raum und mehr Werkzeugmaschinen anzuschaffen, mehr Leute einzustellen. Auch dies ist schließlich eine bloße Geldfrage. Es muß ein größeres Kapital angelegt werden, um denselben Umsatz zu erzielen; oder es hat dieselbe Leistung der Fabrik für eine größere Anzahl von Arbeitern Brot zu schaffen. Alles dies ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen bis zu einem gewissen Grad berechtigt. Die Geschäfte sind im letzten Jahre glänzend gegangen. Die Art aber, wie sich die Arbeiter an dem Gewinn solcher Ausnahmsjahre zu beteiligen suchen, ist das Unglück. In den Kohlendistrikten, wo die Löhne reißend gestiegen sind, besteht die einzige Folge darin, daß die Leute anstatt fünf oder sechs Tage, nur vier Tage in der Woche arbeiten, und dabei ist diese Klasse des Volks hier noch weniger als in Deutschland befähigt, die gewonnene freie Zeit vernünftig zu benutzen.

Wo das hinaus will? England wird mit jeder Woche um zwei Millionen Pfund reicher. Schon jetzt ist es der Kapitalist der Welt. Geht es so weiter, so muß in dreißig Jahren das Land so viel Zinsen von der übrigen Welt bekommen, daß, wenn dieselben gleichmäßig verteilt wären, kein Mensch mehr zu arbeiten brauchte. Dies fühlen wohl auch unsre Arbeiter, denn jede große soziale Bewegung ist die Folge eines dunkeln Naturinstinktes, und um durch den plötzlichen Übergang vom Arbeiten zum Nichtstun ihrer Gesundheit nicht zu schaden, suchen sie etwas voreilig das unvermeidliche Millennium schrittweise einzuleiten.

Soeben war wieder eine Abordnung der Leute bei Greig. Er sagte ihnen, »daß er im Punkte der Überstundenfrage nicht nachgeben werde. Er wolle lieber in einem Schubkarren zur Hölle fahren.« Worauf sie mit langen Gesichtern und dem Eindruck abzogen, daß es dem Mann ernst sei.


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