Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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106.

An Bord der »Para«, den 15. August 1877.

Ich beginne diese Zeilen etliche Tage vor unsrer Ankunft in St. Thomas, um sie dort bereit zu haben, nicht weil die Reise bis jetzt viel Beschreibenswertes bietet, sondern nur, um Euch dies zu sagen. Die alte Atlantis ist noch so naß und blau wie vor etlichen Jahren. Manchmal schwimmt eine Flocke goldgelben Meergrases an uns vorüber; manchmal plätschern etwelche »fliegende« Fischlein auf der Oberfläche und bilden sich wirklich ein, sie fliegen. Nachts scheint der Mond und die Sterne, und in der weißen Schiffsstraße glimmern die Seeglühwürmchen, was wir etwas großmäulig »Meeresleuchten« zu nennen belieben.

Der Empfang unsers Dampfers mit der gelben Fieberflagge in Jamaika, die Fahrt über die Karaibische See, die zurzeit unter den senkrechten Sonnenstrahlen des Augusts unruhig kochte, und der erste Anblick der dampfenden Küste Zentralamerikas hatte nichts Erfrischendes. Wetterleuchten und dumpfes Donnern aus allen Richtungen, wildverworfene Berge, dicht mit Gestrüpp und Wald bedeckt, bewohnt von Riesenkröten, Schlangen und gräßlichen Insekten, wie mir ein Mitreisender versicherte, der dieses Paradies monatelang zu Fuß durchwandert hat, um Chinarindenbäume zu suchen – wie gefällt Euch das?

Dann folgte die Ankunft in Colon bei strömendem Regen. Ein kleines Städtchen, in einen Sumpf gebaut, dampfend unter den lauwarmen Güssen, in denen die ganze Welt zu schwimmen scheint. Das ist Zentralamerika in der Regenzeit. Doch dauert das Vergnügen nicht lang. Die nächsten vier Stunden wären allerdings den üppigsten Brief wert, den ich je geschrieben habe. Aber alles Schreiben würde Euch kein Bild von dieser Welt geben, in die der Mensch nicht zu gehören scheint. Mauern, Dämme und Berge von Pflanzen; undurchdringliches Gestrüpp, das die Bäume niederzuringen scheint und sich selbst erstickt; Bäume, die es trotz allem siegreich durchbrechen; dunkler, schwarzgrüner Sumpf, der manchmal aus einer Spalte der wuchtigen Pflanzendecke hervorschimmert, wo sie ein vom Blitz getroffener Stamm im Sturz aufgerissen hat. Manchmal berührt die Bahn, die sich wie ein scheuer Schmuggler durch dieses feindliche Pflanzenkönigreich windet, das Flüßchen Chagre, und der Blick dringt etwas tiefer in die undurchdringliche Natur. Manchmal streift sie auch kleine Lichtungen mit versteckten Hütten, in denen, fast unglaublich für unser europäisches Gefühl, der Mensch zusammen mit Affen und Papageien vegetiert. Und schöne Menschen dazu! Glänzend schwarzbraun und üppig wie fleischfressende Pflanzen, zu deren Gattung sie vermutlich gehören. Panama, auf feuerrotem, vulkanischem Lehmboden, den wilde Bananengärten bedecken, umgeben von runden, nicht allzu hohen Hügeln, unregelmäßig übereinandergeworfen, als hätten sie vergebliche Versuche gemacht, sich aus dem Waldesdickicht herauszuwinden; Omnibusse, Gepäckskämpfe, babylonische Sprachenverwirrung; dazwischen in der Dämmerung der erste Blick auf den Stillen Ozean, der dem Atlantischen ungemein ähnlich sieht. Fahrt nach dem Gasthof. Eine alte spanische Stadt; Balkone und Verandas. Zerfallene Kirchen und Häuser im Mondlicht, deren Mauern Schlingpflanzen bedecken, und aus deren Fenstern Bäume hervorbrechen. Schließlich ein Marktplatz mit einer Kathedrale und ein vorzüglicher Gasthof, ohne Flöhe und Moskitos. Abends noch Spaziergang in den stillen Straßen, die alle ans Meer führen, das auch hier sein uraltes Brandungsnokturne aufführt. Auf dem beleuchteten Marktplatz dagegen Militärmusik, Straußsche Walzer und Opernpotpourris. In einem benachbarten Café Geldgeklingel und das Schwirren eines Roulettes, das noch stundenlang hörbar bleibt, nachdem aller übrige Lärm verstummt ist.

In später Dämmerung des folgenden Tags fuhren wir nach unserm weit draußen im Meere liegenden Dampfer und sahen mit Betrübnis, wieviel kleiner das neue Boot war, dem wir uns anvertrauten, und wieviel größer der Ozean. Dann entschlief die Schiffsgesellschaft, soweit es unter dem Rasseln der Ketten und dem Krächzen der Kranen möglich war, welche die ganze Nacht hindurch Kisten und Kasten unserm nimmersatten Schiffsbauch zuführten.

Das Meer war nicht liebenswürdig in den nächsten Tagen, und die Küste verschwand. Das Bemerkenswerteste der neuen Schiffsgesellschaft war ein aus Ekuador geflüchteter Bischof, der sich nach Panama gerettet hatte und jetzt nach Lima ging. Er hatte seinen Sprengel vor etlichen Jahren auf dem vatikanischen Konzil vertreten, wußte etwas von Bismarck, spielte Schach und sprach Französisch. Wenn sie wollen, können die schwarzen Herren sehr liebenswürdig sein, und in der Verbannung wollen sie's. Weshalb wir die besten Freunde wurden und politisierend uns mit klerikalen Witzchen und Schachfiguren aufs anregendste bekriegten.

Der Chimborasso lag in seinem Winternebel. Ohne viel Aufhebens hatten wir in kühler Morgenstunde den Äquator passiert. Am frühen Morgen des dritten Tages fuhren wir die Bucht von Guayaquil hinauf und bewunderten die Riesenbäume an den Ufern, deren Stämme erst vier bis fünf Meter über dem Boden ober vielmehr dem Wasser anfangen. In dem blätterlosen Wurzelwald ließe sich mit einem Kahn umherfahren fast wie in einer Stalaktitenhöhle, über uns die grüne Decke der lebenden Pflanzen, die ohne alle Vernunft und Ordnung ineinander hinein- und auseinander herauswachsen und vergessen haben, was mein und dein, was oben und unten ist. Der Kaktus treibt hier Orangenblüten, und Schlingpflanzen halten altersfaule Stämme aufrecht. Später öffnet sich das Land. Eine Sumpfebene, da und dort spärlich bebaut; da und dort ein Negerhüttchen: ein Moskitonest als Menschenwohnung. Dann kommen grüne Hügel, an deren Fuß die Hafenstadt von Ekuador liegt.

Unser kurzer Aufenthalt wurde redlich ausgenutzt. Doch war nicht viel zu sehen. Sämtliche Häuser sind aufs Einfallen eingerichtet. Schmutzige Straßen, schläfrige Menschen. Ein Gemisch von dunkeln Farben, Indianertypen, Neger, schwarzgebrannte Weiße. Manchmal ein Weib, strotzend wie eine aufspringende Orange, manchmal auch ein großer, glänzend schwarzer Apoll, den man verwundert fragen möchte, woher er diese Gestalt bringe. Aber im Durchschnitt kleine, elende Figuren, verkommen und krank. Ein Spaziergang nach den nächsten Bergen war ein fast allzu warmes Vergnügen und lohnte sich kaum. Denn das Herrlichste des Landes, die Gebirge, blieben hartnäckig verschleiert.

Nächsten Morgen passierten wir die Grenze zwischen Ekuador und Peru: eine scharfgezeichnete Linie. Nördlich grünes Gestrüpp, das weiter hinauf zum Urwald heranwächst; südlich eine Sandwüste, von kahlen Felsenhügeln begrenzt. In einer solchen liegt Payta, die erste peruanische Stadt, an der wir am folgenden Tag anlegten. Man begreift nicht, wozu das Nest da ist. Kein Grashalm in der Nähe, kein Wassertropfen. Mattengedeckte Häuschen, ein elendes Kirchlein, in dem mein äquatorialer, priesterlicher Freund sofort Messe las. Von den Hügeln hinter der Stadt eine weite Aussicht über die Wüste des Innern, goldgelbe Felsenberge mit blauem Schatten am Horizont. Es ist in der Arabischen Wüste nicht anders.

Und das sollte Peru sein. Ich weiß es besser, seit ich im Lande umherstreife wie ein Zigeuner. Aber der erste Eindruck war herzbrechend. Moral: Glaube nicht an erste Eindrücke und übereile dich nicht mit dem Herzbrechen.


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