Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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72.

Turn-Severin, den 22. Oktober 1873.

Drei Tage in Rumänien! – Flüchtige Reiseeindrücke, feierlich zu Papier gebracht, sind mir zwar zum Ekel geworden. Zu was können oberflächliche, von Hunderten tausendmal gemachte Beobachtungen dienen, als den Wust von Unrichtigkeiten zu schwellen, aus dem sich in solchen Ländern die Wahrheit kaum mehr herauszuschaffen vermag? Morgen früh bin ich wieder auf dem Weg nach Wien. Hier bleiben mir ein paar Nachmittagsstunden, die, nach Lenau, ein kluger Zigeuner »verschläft, verraucht und vergeigt«, ein Deutscher aber verschreibt, auch wenn er sie »dreimal verachtet«.

Wie ich eigentlich zu diesem wunderlichen Abstecher gekommen bin? Ein Graf Nicolas de Talevitsch läuft in England den Dampfpflügen nach und erklärte Fowler, daß Rumänien ein prächtiges Land sei und daß nichts ein halbes Hundert seiner großen Gutsbesitzer abhalte, sich in Dampfpflüge zu stürzen, als die Furcht, in mechanischen Schwierigkeiten stecken zu bleiben. Wenn wir uns entschließen könnten, dort »hinten weit in der Türkei« eine Dampfkindererziehungsanstalt zu errichten, wäre allen geholfen! So sollte ich nun sehen, wie, wo und was zu tun sei, und vielleicht den begeisterten Grafen zum ersten Opfer der neuen Bewegung erwählen.

Telegraphische Anfragen in Krajowa und in Kalafat, wo der Graf wohnen sollte, blieben wirkungslos. Ich sah ein, daß hier nur eine Entdeckungsreise zum Ziel führen könne, und machte mich auf den Weg. Die Bahn geht auf dem linken Donauufer über das sonnige, weinumkränzte Preßburg nach Pest, das hinter einem nächtlichen, hastig verzehrten Beefsteak einen nur verschwommenen Eindruck macht. Szegedin und die weite ungarische Ebene wird verschlafen, und unruhig und halb erstickt wälzt man sich auf den staubigen Wagenpolstern dem Morgen entgegen. Der Tag dämmert über leblosen Pußten und strahlt im Morgenlicht über Weingärten und silbergrauen Bergen, auf die man kaum mehr zu hoffen den Mut hatte.

Um acht Uhr ist man in Bazias, dem derzeitigen Ende der Eisenbahnen und der Kultur. Das letztere allerdings nicht ganz. Die Donau zieht ein silbernes Band durch die dunkeln Länder, die hinter jenen Bergen liegen, dem entlang Deutsch gesprochen, französisch gekocht und englisch bezahlt wird.

Ein kleines Schiff nimmt uns auf. Der Wasserstand verbietet zurzeit den Gebrauch von größeren Booten. Die Reisegesellschaft benutzt geduldig eine Brunnenpumpe und die Seife von zwei vorsichtigeren Mitreisenden, um sich den Staub aus den Augen zu waschen, Herren und Damen, ohne Ansehen von Stand, Alter und Geschlecht. Dann geht es flußabwärts durch eine herrliche Gebirgsgegend, die den Strom immer enger einzwängt und uns allmählich dem vielgerühmten »Eisernen Tore« näher bringt. Eine mittelalterliche Burg, fast am Uferrand, zieht vorüber, da und dort zeigen sich die unverwüstlichen Spuren der Römerzeit. Schon liegen uns zur Rechten die wilden, waldigen Höhen von Serbien. Da hält der Dampfer. Alles hat auszusteigen. In sechzehn Wagen wird die Reisegesellschaft weiter befördert; denn der Fluß ist nicht weiter fahrbar. Die kleinen ungarischen Pferdchen zeigen eine muntere Ausdauer, welche nur wenige der Reisenden teilen. Wo all der Staub herkommt, ist ein Rätsel. Felsige Höhen rechts und links, der Fluß und der schmale Fahrweg in der Mitte und doch Staub genug für ganz Brandenburg!

Nach vier Stunden sind wir wieder auf einem Schiff und an seinen Pumpen. Die zwei Seifenstückchen sind nahezu aufgebraucht. Mittagessen und Abfahrt. Leider wird es jetzt Nacht. Die Gegend mag noch so wild werden, man sieht von Orsowa nichts als ein paar Lichtsternchen im pechschwarzen Bergschatten. Eine halbe Stunde später läßt uns die Donau wieder im Stich. Abermalige Verpackung in Wagen. Fackelbeleuchtung. Wilde Jagd. Nach zwei Stunden, neun Uhr abends, wird gehalten. Wir sind an der Stelle angekommen, wo uns der dritte Dampfer abholen sollte. Geschrei, Rufen, Fragen. Der Fluß ist da, die Landungsstelle ist da, die Wagen und Reisenden sind da; nur der Dampfer fehlt. Großer Rat der Fuhrleute, deren romantische Beredtsamkeit die hilflosen Reisenden mit bangen Vermutungen erfüllt. Das Ergebnis ist Einsteigen und Weiterfahren. Die Fackeln erlöschen, die müden Pferde traben kaum mehr, die Reisenden wackeln schlaftrunken auf ihren Sitzen, in unbehagliche Sommernachtsträume verwickelt. Es ist zum Glück eine warme, wenn auch pechschwarze Nacht. Um zwölf Uhr sind wir in Turn-Severin und liegen nach einem erquicklichen Tee bald in den Betten des nun endlich großen und wirklich prachtvoll eingerichteten Dampfschiffs.

Morgens um sieben Uhr erreicht das Boot Kalafat. Die Stadt und ihre Lage überraschte angenehm. Von den erwarteten endlosen Sumpfflächen ist keine Rede. Den nicht zu fernen Horizont bilden nach allen Seiten gelbe Hügelreihen, nicht ohne Spuren von Grün. Bis an die Donau heran treten da und dort hohe Lehmberge, deren steil abfallende, zerrissene Ränder in der Ferne für Felsgebilde gelten könnten. An der Seite eines solchen Hügels empor erstreckt sich Kalafat, regelmäßig gebaut, reinlich gehalten. Auf dem Gipfel des Hügels steht eine neue griechische Kirche, von der aus eine prächtige Fernsicht die mächtige Donau, die duftigen Minaretts von Widdin und die fernen, blauen Höhen des Balkans umfaßt. Groß ist die Stadt nicht, auch nicht sehr lebhaft und geschäftig. Alles scheint Billard, Domino und Brett zu spielen. Aber man kann Leeds und London nicht überall erwarten.

Niemand wußte etwas von meinem Grafen. Umsonst wendete ich mich an die ältesten Eingeborenen, an Post- und Telegraphenamt. Schließlich vermutete jemand, daß das auf seiner Karte erwähnte Gut Salcia etwa drei Stunden von Kalafat liegen müsse. Ein Lichtstrahl!

Sofort nahm ich ein Fuhrwerk. Mein Kutscher, den der Volksmund »Napoleon« nannte, sprach Deutsch, denn er war ein Pfälzer, hatte früher mit arabischen Pferden gehandelt und tat dies jetzt mit Schweinen, Kanarienvögeln und Hasen. Es ging stundenlang der Donau entlang, stromabwärts. Öde, ausgebrannte Heideflächen auf prächtigem Boden. Keine Seele weit und breit, nur Schnepfen, Raben und Kaninchen. Manchmal auch ein Grenzwächter oder ein kleines Trüpplein bulgarischer Tagelöhner, die aussehen, als hänge noch die Kruste des Erdkloßes an ihnen, aus dem sie geschaffen sind, dabei trotzdem aufgewecktere Gesichter als die unsrer Schwaben. Später kamen wir in dürre Welschkornfelder und verloren den Weg. Es ist unbegreiflich, wie das alles gewachsen ist. Kein Pflug war an der Arbeit, kein Mensch zu erspähen. Schließlich zeigte sich ein grüner Fleck. Es war Salcia.

Der Bauer, der auf Pfählen saß, braucht sich nicht allzusehr zu schämen. Auch hier ist noch ein ausgesprochener Hang zu Pfahlbauten zu bemerken. Die häufigere Bauart ist jedoch unterirdisch. Das erdbedeckte Dach ruht unmittelbar auf dem flachen Boden; die Beletage ist unterirdisch und steht mit der Oberwelt durch einen bedeckten, aus gewaltigen Baumstämmen gebildeten Tunnel in Verbindung. Es hat etwas Anheimelndes, sich in dieser Weise in die Erde zu vergraben.

Das herrschaftliche Gebäude wurde mit einiger Mühe aufgefunden. Ein ärmlicher Wirtschaftshof, eine Herde Schweine, ein zerfallener Brunnen, ein elendes einstöckiges Bauernhaus. Der Pächter sprach nur Romanisch; Napoleon mußte dolmetschen. »Mr. de Talevitsch war nicht hier. War seit Jahren nicht hier gewesen. War auf Jahre hinaus nicht zu erwarten. Lebte vermutlich derzeit in Paris, vielleicht auch in Wien. Seine Bankiers, Gebrüder Levi & Meyer in Krajowa, könnten wohl darüber Auskunft geben.«

Umdrehen und »wieder galoppen« war somit unsre Losung. Nun war aber noch ein andrer Gutshof im Dorf, den Napoleon wegen seiner Schweine zu besuchen wünschte. Dort traf ich eine Dreschmaschine und einen böhmischen Mechanikus, der mich benachrichtigte, daß eine Stunde von hier, bei einem Herrn Skafesu, ein Dampfpflug in Tätigkeit sei. Welche Entdeckung!

Doch war es zu spät für heute. Wir kutschierten nach Kalafat zurück, von wo ich zunächst bei Meyer & Levi in Krajowa telegraphisch anfragte, ob Mr. le Comte überhaupt zu existieren beliebe?

Des andern Morgens sollte Napoleon mich zu Herrn Skafesu bringen. Der Böhme hatte mich auf eine gute Fährte gebracht. Vor zwei Jahren hatten wir einen Pflug durch einen rumänischen Agenten verkauft, ohne zu wissen, an wen. Diesen fand ich nun in voller Arbeit. Herr Skafesu und seine Frau zeigten mir in der liebenswürdigsten Weise ihr Gut und gaben mir alle möglichen Aufklärungen über landwirtschaftliche Verhältnisse, die es mir unangenehm klar machten, daß noch ziemlich viel geschehen muß, ehe dieses schöne Land auf die Höhe der Dampfkultur erhoben werden kann.

Bis gegen Nachmittag des folgenden Tages wartete ich auf eine Antwort von Krajowa. Eine Postfahrt dorthin hätte mich drei Tage gekostet, und ich fing doch an, mich mit etwas mehr Vorsicht in diesem Lande zu bewegen. Schließlich kam das Telegramm: »Mr. le Comte n'est pas encore arrivé, mais son frère Joseph est ici.« Son frère Joseph interessierte mich jedoch wenig, so daß ich ohne Verzug meinen Rückweg antreten konnte, der mich auf Turn-Severin geführt hat. Hier habe ich auf die Fuhrwerke zu warten, welche den Verkehr der »k.k. österreichischen ersten privilegierten Donaudampfschiffahrtsgesellschaft« an der unteren Donau aufrechterhalten. Der Titel wäre lang genug für den längsten Strom Europas. Könnten damit nur auch die Schiffahrtshindernisse gesprengt werden, die mich hier festhalten.


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