Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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88.

Leeds, den 31. Januar 1875.

Nach der Stille in Ferrara war der Januar in Leeds lebendig genug, so daß manche andre und wichtigere Pflicht, wie beispielsweise Geburtstagsglückwünsche, vergessen werden mußte. Ich habe mir's längst zur Lebensregel gemacht, das Nächstliegende zuerst anzupacken. Fürs praktische Leben ist die Regel nicht schlecht, zum mindesten eine gute Philisterregel. Sie gibt dem Karrengaul immer genug zu schleppen, aber sie führt zu keinen hohen Zielen. Manchmal wäre es wohl weiser, das Nächstliegende liegen zu lassen und dem Ferneren und Größeren nachzustreben. Wozu freilich der Mut gehört, die Folgen zu tragen.

Zum Nächstliegenden gehörten: Drahtseilboote, die in den Kanälen von Demarara schwimmenden Dampfpflugmaschinen das Fahrwasser frei zu halten haben, das Podeltaprojekt, wo zunächst eine Muster- und Versuchsfarm angelegt werden soll, neue Strohfeuerungsmaschinen für Rußland und eine Patentschiebersteuerung, die mich mehrere freudig-schlaflose Nächte gekostet hat. – Noch näher liegen uns dreißig Lokomotiven, welche der Vizekönig von Ägypten vor einigen Wochen für seine Sudaneisenbahn bestellt hat, die aber in den geregelten Gang der Fabrik einige Unordnung zu bringen drohen. Doch was kümmert Euch der Sudan und die Ordnung der Fowlerschen Fabrik. Weshalb sollten wir gelegentlich nicht auch von etwas anderm plaudern? Stoff gibt es so unendlich viel in dieser Welt! Sie wird alt, meinen viele, aber sie wird trotzdem mit jedem Jahr interessanter. Hab' ich nicht auch ein Recht, in freien Stunden nachdenklich und alt zu werden oder wenigstens älter? Damit möchte ich diese »Sonntagsbetrachtungen eines Weltkindes« einführen und rechtfertigen. –

Wir – das heißt die englische Staatskirche – haben in Leeds wie anderwärts eine »Mission« abgehalten. Die Aufregung, welche nicht gerade übermäßig war, läßt nach. Der Versuch war für die Episkopalkirche etwas Neues, und einige unsrer Geistlichen wollten nichts davon wissen. Alle aber – und das ist fast komisch – sind ganz erstaunt über ihren eignen Erfolg. In der Missionswoche selbst waren die Kirchen zum Erdrücken voll: ein Beweis, wie willig das Volk ist, sich aufregen zu lassen, und wie dankbar, wenn etwas auftaucht, das der Seele aus dem tödlichen Gewohnheitsschlendrian hinaushilft. Ein Mann aus Liverpool hatte sich das ärmlichste Kirchlein im ärmsten Fabrikviertel der Stadt ausgesucht. Als er zum letztenmal hier predigte, war kein Eindringen in die kleine Kirche mehr möglich, und ich hörte dafür in einem nahegelegenen Schulhaus, wo rasch eine Nebenkanzel aufgestellt worden war, eine Frau predigen. Und wie! Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Man hörte nicht mehr die Frau, sondern etwas von dem Geist, der schon so oft die Welt erschüttert hat. – Frage: Wohin geht er, dieser Geist, wenn wir nach Hause zurückgekehrt sind oder wieder an Schraubstock und Drehbank stehen?

Zurzeit lese ich zwei Bücher, die nicht ohne Zusammenhang mit der Kirchenbewegung draußen sind; das eine ist eine englische Darlegung der deutschen Philosophie der letzten Zeiten. Es handelt sich natürlich zunächst um Kant, Fichte, Schelling, Hegel. Die Übertragung der abstrusen Gedanken unsrer großen Träumer ins einsilbige praktische Englisch ist wohl eine nahezu unlösliche Aufgabe, aber überaus wertvoll für einen, der den Kern aus der Schale gehoben sehen möchte. Und was ist der Kern? Ein verzweifelter Versuch, das Undenkbare zu denken. Daß diese genialen Geister den Mut nicht hatten, sich das zu sagen, denn sie mußten es ja sehen! Aber natürlich – hätten sie sich's gesagt, wo wäre ihre Philosophie geblieben? Es ist vielleicht gut, daß sie die Gedankenarbeit bis auf die letzte Spitze getrieben haben. Die Welt hat in jener wunderlichen Zeit, die schließlich Hegel beherrschte, erfahren, wie weit man in dieser Richtung gehen kann, nachdem man den Boden unter den Füßen verloren hat und jeder Schritt weiter ins Bodenlose führt. Das ist viel wert und wohl der Grund, weshalb wir jetzt mit so emsiger Geschäftigkeit bei den Steinen und Pflanzen, bei den Aszidien und Affen nach Wahrheit suchen. Herunter vom absoluten Ich – und wäre es bis zum Menschen Darwins!

Das zweite Buch war heiter und gruselig zugleich. Es gibt in London, wo es überhaupt alles gibt, eine sogenannte dialektische Gesellschaft, die sich damit beschäftigt, Leitfragen auf allen möglichen Gebieten durch ad hoc ernannte Ausschüsse studieren zu lassen. Ein solcher sollte seit zwei Jahren dem Schwindel der Tischklopferei und allem, was damit zusammenhängt, mit wissenschaftlichem Ernst zu Leib rücken. Vor einigen Monaten legte dieser Ausschuß seinen Bericht der Gesellschaft vor. Aber, o Schrecken! anstatt den Schwindel aufgedeckt zu haben, waren sämtliche Ausschußmitglieder Spiritisten geworden. Worauf die Gesellschaft den Druck des Berichts verweigerte. Tiefgekränkt druckten nun die spiritistischen Mitglieder ihren Bericht selbst.

Es ist ein tolles Buch. Tische klopfen und tanzen. Menschen erheben sich schwebend zur Zimmerdecke. Geisterhände erscheinen. Blumen fallen aus der Luft. Stockscherben gehen durch geschlossene Türen, Geister, die dem leiblichen Auge unsichtbar sind, lassen sich photographieren. Die sichtbare Welt um uns her ist in eine zweite wimmelnde Welt voll unsichtbaren, aber keineswegs sehr erbaulichen Lebens getaucht. Und das alles ist erzählt und beschrieben von Leuten, bei denen es nicht angeht, an absichtlichen Betrug zu glauben, und in einer Weise, daß es unmöglich ist, darauf hinzuweisen, wie und wo die Ärmsten betrogen wurden.


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