Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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82.

Bjelaja Zerkow, den 9. September 1874.

Ich glaube, ich habe Heimweh, ein Gemisch von halb deutschem, halb englischem Heimweh, das wohl nur einem Deutschen möglich ist. Es erschwert das rasche Russischlernen, erleichtert aber das Briefschreiben. Es ist überdies ein mir so selten gewordenes Gefühl, daß es mich anmutet wie der jahrelang entbehrte Geschmack eines alten Leibgerichts – etwa Sauerkraut und Spätzle. Und ich lasse mir's ordentlich schmecken.

In Warschau mußte ich mich zu viel ärgern, um die Schönheit der Stadt und ihre »Gemütlichkeit«, die mir unterwegs ein polnischer Tabaksfabrikant rühmte, auf mich wirken lassen zu können. Auch ist mir das Volk Israel, gegen das ich an sich keine Vorurteile hege, im Übermaß genossen, doch nicht zuträglich. Daran aber muß man sich hierzuland gewöhnen; das sehe ich bereits.

Und wie wunderlich sie sich in die Hände arbeiten: Lilpop, Rau und Löwenstein, »grauße und fürnehme Herren«, die jeden von oben herunter begucken, der sich's gefallen läßt, haben den Transport unsrer Maschinen von Danzig bis hierher zu besorgen. In Warschau, wo die Herren sitzen, übergeben sie die Verzollung und Überfuhr auf die russische Staatsbahn einem Agenten, Herrn Laibel. Der verzollt die Sachen, übergibt aber die Überfuhr einem dritten Agenten und Fuhrwerker, Herrn Itzig. Dieser führt die Sachen nach dem Staatsbahnhof und übergibt die Weiterbeförderung einem vierten Agenten, Herrn Rosenberg, und der hat in Fastow, dem Bestimmungsort der Sendung, einen fünften Agenten, Herrn Kaminezky, welch letzterer sich auch sogleich dort mit zwei weiteren Agenten vorstellte, die nun die Fuhrwerkerei nach Bjelaja Zerkow übernehmen wollen. Alles Juden, ohne Ausnahme. Je weiter man diese Stufenleiter herabsteigt, um so höflicher, langberockter und schmutziger werden sie. Gestern, hoffe ich, bin ich auf der untersten Sprosse angelangt.

»Wissen ist Macht!« Darin liegt wohl das Geheimnis des Systems. Als Rosenberg in Warschau seine Aufwartung machte, um mir die Adresse seines Geschäftsfreundes in Fastow zu geben, erschrak ich ein wenig an dem polnischen Namen Kaminezky. »Wie soll ich mich mit ›diesem Menschen‹ verständigen?« Herr Rosenberg nennt seinen Vertreter einfach: »Mensch«. – »Ah,« versetzt er, mit einem schwer erklärlichen Ton von Verachtung in der Stimme, »er spricht alles; er ist ein Jüd'; – reisen Sie mit Gott!«

So fuhr ich denn von Praga ab, der Ukraine zu, zunächst mit einer Karte nach Brzesc. Da das in diesem Worte notwendige doppelte Niesen für den katarrhfreien Fremden schwierig ist, so wird es einfach Brest ausgesprochen, wie man es in der französischen Geographie gelernt hat. Gegend flach bis sanft wellenförmig. Mäßig viel Wald. Weite, nicht übel bestellte Ackerflächen. Alles gut genug bei einem erstmaligen Durchfahren. Bahn und Wägen vortrefflich, Stationsgebäude und Bahnwirtschaften sauber und wohlversorgt. Abends zehn Uhr in Brest. Eine Stunde Aufenthalt. Das Deutsche nimmt nunmehr bedrohlich ab. Doch erwischt mich – ich kann kaum behaupten, daß ich ihn erwischte – ein Deutsch stammelnder Gepäckträger und befördert mich und meine Sachen glücklich weiter. Durchgehende Wagen, ziemlich leer und bequem zum Schlafen.

Es wird irgendwo in Volhynien Tag. Flache Felder. Seltene, ärmliche Dörfer. Weniger Wald als gestern. Meine Reisegesellschaft der erwähnte Tabakfabrikant und andre freundliche, wenig interessante Leute. Ein langer, warmer Tag, von dem nichts zu sagen ist, als daß man soundso viele Meilen einförmigen Bodens hinter sich gelassen, einen halben Novellenband durchgeblättert und sich vergeblich der Schwermut der Gegend zu erwehren gesucht hat. Es muß wohl Menschen geben, die auch hier glücklich sein können. Aber wie sie's angreifen, ist mir ein Rätsel.

Endlich abends sechs Uhr Ankunft in Fastow, etwa fünfzehn Wegstunden vor Kiew. Eine einsame Station mit sechs bis acht Bretter- und Blockhäusern im Hintergrund. Das eigentliche Dorf soll weitab liegen und ist mir nicht zu Gesicht gekommen. Schon etliche Stationen zuvor hatte ich erfahren, daß mein künftiger Freund, Chaiem Kaminezky, sicher auf dem Bahnsteig zu finden sei. Hier drängt sich ein ganzer Schwarm von Kindern Israels. Auf meinen lauten Ruf nach Chaiem Kaminezky bringt mir ein halbes Dutzend ihren verlangten Glaubensgenossen herbei. Ein alter, schmutziger Kerl voll zutraulicher Zuvorkommenheit, ein fast unverständliches Deutsch sprechend. Aber man versteht sich trotzdem, wenn man muß. Mein Gepäck wird nach dem nächsten Hause geschleppt, dem sogenannten »Gasthof« von Fastow, und Tee bereitet, während die sechs Juden sich eifrig erkundigen, ob ich meinen Zucker mitgebracht habe. »Nein.« Worauf im Nachbarhause von sämtlichen sechs Juden fünf Stückchen geholt werden.

Dem Tee folgt eine Nacht auf einem harten, überaus hügeligen Schragen, mit meinem Reisesack als Kopfkissen und meinem Plaid als Decke. Um fünf Uhr wird es glücklicherweise Tag, und bereits ist mein Chaiem nebst seinen Glaubensgenossen munter und bereit, ein Geschäftchen zu machen. Wie wir in Fastow unsre Maschinen montieren sollen, ist mir derzeit noch unklar. Es ist auch nicht ein Stück Holz da, wenn wir eines brauchen sollten. Zunächst bestelle ich ein Fuhrwerk, das mich dem endlichen Bestimmungsort des Pflugs näherbringen sollte. Nun lautet aber meine von Chaiem erhaltene Adresse an Graf Ladislav Branizky in Bjelaja Zerkow, und die von Warschau an Graf Ladislaus Branizky in Stawischtsche. Da das erstere auf dem Wege zum zweiten liegt, so war es rätlich, beim ersteren zuerst mein Glück zu versuchen.

Noch vor sechs Uhr bin ich auf dem Wege. Ein Dreigespann schlecht aussehender kleiner Pferde, die aber laufen, daß es eine Freude ist; das Fuhrwerk ein mit Heu reichlich gefülltes Wägelchen. Mit dem Notizbuch in der Hand und ziemlich viel Sorgen im Herzen geht's den staubigen Feldwegen entlang, Entfernungen notierend, Brückchen und Gräben untersuchend, nach Wasser umherspähend. Riesengroße Feldstücke, prächtiger Boden, unabsehbare Flächen. Nach drei Viertelstunden ein ärmliches, ausgetrocknetes Dorf aus Strohhütten. Zweimal im Laufe von drei Stunden scharfen Trabs taucht der Weg plötzlich in ein unerwartetes Tal hinab, wo wir ansehnliche aufgestaute Teiche finden, um welche sich größere, weit verzettelte Dörfer lagern, die nach der trockenen, öden Hochebene erfrischend genug dreinsehen. Eine wahre Augenweide, selbst für mein technisches Gemüt! Denn die Überführung der Maschinen hängt von der Möglichkeit ab, überall auf ihrem Wege das nötige Wasser zu beschaffen, und die Aussichten sind, trotz der Teiche, verzweifelt.

Um zehn Uhr ist Bjelaja Zerkow erreicht. Es ist ein stattliches Städtchen, an einem Nebenfluß des Dnjepr gelegen, der sich bis auf die Felsen in den wohl dreißig Meter tiefen Lehmboden der Ebene eingefressen hat. Drei Kirchen mit grünen Dächern, stattliche Regierungsgebäude. Das muß man der russischen Regierung lassen, daß, was sie tut, in achtunggebietendem Lapidarstil dasteht, soweit es von außen ersichtlich ist, in auffallendem Gegensatz zu der Art des Bauens in der Türkei oder Ägypten! Die Wohnhäuser sind alle einstöckig, die Straßen weit, ungepflastert und tief mit Staub bedeckt. In meinem Gasthaus wird mir mit geschäftiger Wichtigkeit ein erträgliches Zimmer eingeräumt, wobei der Kellner mich belehrt, daß dieses das beste in der Stadt sei und für den Tag drei Rubel koste. Mein Vorgänger sei hinausgeworfen worden, weil er bloß zwei Rubel fünfzig Kopeken bezahlt habe. Das ist zweimal soviel, als man im ersten Hotel zu Warschau zahlt. Ich erörterte die Frage nicht und nahm ruhig Besitz. Während ich mich wusch, steckte jede halbe Minute ein neuer Jude den Kopf zur Türe herein, um mir etwas zum Kauf anzubieten – Mäntel, Hemden, Seife, Messer, Stiefelwichse und namentlich, wiederholt und dringend, das Schönste, was Bjelaja Zerkow sonst an Schönheiten besitzt. »Fein! – Polnisch! – Fein!« schrien die bärtigen Schweinehunde und schnalzten in orientalischer Begeisterung mit der Zunge. Ländlich, sittlich! wie wir in Deutschland zu sagen pflegen.

Das Grafenschloß ist eine Stunde vor der Stadt. Ich fuhr sofort dorthin. Ein modernes, hübsches Landhaus, einfach im Äußern, aber innerlich mit allem Luxus ausgestattet. Ein Viergespann prächtiger Tiere stand vor dem Tor, und feierliche Stille herrschte im geräumigen Hof. Mit Mühe fand ich jemand, der Deutsch sprach. »Der Herr Graf sind nicht zu Hause. Sie sind in Kiew. Sie werden heute abend zurückkommen und sind vermutlich morgen früh um acht Uhr zu sprechen.«

Somit war weiter nichts zu tun, als Geduld zu üben, zu welchem Zweck ich einen ausgedehnten Spaziergang in die Stadt unternahm und Briefe schrieb. Die Federzeichnung einer Provinzialstadt in der Ukraine ist nicht leicht zu machen, weil so wenig vorhanden ist, was Augen und Ohren oder selbst die Nase fesselt. Weite, luftige, sonnige Straßen, deren weißer, tiefer Staub derzeit mit nichts Schlimmerem als mit Stroh gemischt ist, sind von niederen, meist strohgedeckten Häusern begrenzt. Die wenigen höheren Gebäude sind blendendweiß angestrichen und mit grüngestrichenen Blechdächern gedeckt. Ebenso sind die Kirchen bemalt, deren Grundform ein gleichseitiges stumpfes Kreuz ist, und die häufig wie aus fünf aneinandergebauten Türmen zu bestehen scheinen, wovon der mittlere die vier Seitenkuppeln überragt. Das Volksleben verliert sich fast in diesen weiten Straßen. Die Trachten sind überaus einfach und unauffallend, die Gesichtszüge, soweit sie nicht jüdisch sind, ich möchte sagen, ein stumpfes Deutsch. Das alles entspricht der Oberfläche, auf der es gewachsen ist, die nichts Hervorragendes zeigt als das unermeßliche, fruchtbare Einerlei, das alle meine Erwartungen übersteigt.

Am andern Morgen ging's wieder nach dem gräflichen Palais. Ein junger Mann empfing mich in einem elegant ausgestatteten Salon, vermutlich der Sekretär des Grafen, welcher selbst nicht zu sprechen war. Es stellte sich heraus, daß es zwei Grafen Ladislaus Branizky, Onkel und Neffe, gibt, und daß der meinige zehn Stunden weiter entfernt wohnt.

Zuvorkommend ließ mir der falsche Demetrius eine Tasse Kaffee anbieten und rasch einspannen, so daß ich im Handumdrehen zum Hause draußen und auf dem Wege nach Stawischtsche war.

Komisch war die Abrechnung, im Wirtshaus. Meine Rechnung betrug vier Rubel und war aufs Handeln eingerichtet. Die Wirtin nahm schließlich mit vielem Wehklagen, aber doch mit sichtbarer Befriedigung drei Rubel. Auch das war selbstverständlich zu viel für ein leeres Zimmer und drei Tassen Tee. Fragt doch der Kellner gewöhnlich den Reisenden beim Aussteigen, wo er sein Bett habe? Das mindeste, was ein Landeskundiger mitbringt, ist das Kopfkissen. Noch einfacher machte es ein Kosakenhauptmann, der hier in einem Privathaus einquartiert war. Unzufrieden mit dem kultivierten Hausgerät des Gastzimmers, ließ er alles hinausschaffen, dafür einen Meter hoch Heu aufschütten und Teppiche darüber breiten, auf denen er nun wohnte und schlief.

Wieder ging es wie gestern über die Hochebene hin, nur schien sie noch end- und wasserloser, daß mir das Herz ordentlich sank. Auf halbem Weg, an der Grenze der Besitzungen von Onkel und Neffe, wurde ich aus meiner Droschke mit vier prächtigen Pferden in ein bescheidenes Bauernwägelchen mit zwei Gäulen umgeladen, das mich nach vier Stunden dickbestaubt in Stawischtsche absetzte. Der richtige Graf ist gefunden, und mein Ziel erreicht.


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