Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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81.

Warschau, den 4. September 1874.

Gestern hätte meine Epistel die Klagelieder Jeremiä an Bitterkeit übertroffen. Heute geht's zur Not wieder.

In Wien war ich vier Tage und sah alte Bekannte. Stadt und Land liegen im tiefsten Katzenjammer. Das Ausstellungsgebäude steht noch und sieht aus wie ein verlassenes Theater mit ausgelöschten Lichtern und verdeckten Stühlen, ein feierlich-trübseliger Anblick. »Sie hätten kein Geld zum Abbrechen!« sagen die Wiener. Sie hatten noch weniger Geld zum Bauen und haben's doch gebaut. Aber sie hatten Kredit, den modernen Ersatz für Glauben, und bewegten Steine damit und Berge. Wie doch in unsrer materiellen Zeit die alten, großen Wahrheiten zur fratzenhaften Wirklichkeit werden!

Da wurde mir plötzlich bange, daß ich in Polen zu spät kommen könnte, und ich packte auf. Man verläßt Wien um zehn Uhr vormittags und ist am nächsten Morgen in Warschau. Bei Nacht sieht man auch in Polen nichts, was nicht viel weniger sein soll als bei Tag. In Granzia wird zum erstenmal russisch durchsucht. Hentschels Eisenbahnführer allein schien den Beamten verdächtig zu sein, wahrscheinlich wegen der roten Decke. Warschau fand ich im Morgensonnenschein nicht übel: breite, luftige, schnurgerade Straßen, hübscher Renaissancebahnhof. Nichts erinnert daran, daß man hier eine neue Welt betritt, als die ungewaschenen, etwas schadhaften Droschken und ihre jämmerlichen, meist blinden Pferde. Hotel d'Europe steif, feierlich leer.

Die erste Fahrt galt der Firma Lilpop & Cie. Eine Maschinenfabrik, wie sich zu meinem Erstaunen zeigte. Fünfhundert Arbeiter. Zudem haben die Leute ein großes Kommissionsgeschäft, daher geht unser Dampfpflug durch ihre Hände. Seine wahre Bestimmung ist, wie ich hier erst erfuhr, die Besitzung eines Grafen Branizky in Stawischtsche, neunzig Werst von der Eisenbahnstation Fastow im Gouvernement Kiew. Jetzt wißt Ihr, so genau als ich selbst, durch welches Loch ich diesmal aus der Welt verschwinden werde – »Fastow!«

Nun aber begann der Jammer. »Haben Sie unsern Brief erhalten?« fragte die Firma Lilpop & Cie. mit langen Gesichtern. – »Nein.« – »Unbegreiflich! Wir schrieben Ihnen, in Wien oder Böhmen zu bleiben, solang Sie wollen. Die Maschinen sind wohl noch nicht von Danzig weg. Sie brauchen dann fünf bis sechs Tage, bis sie hier sind; hier drei bis vier Tage zum Verzollen; dann wieder fünf bis acht Tage bis Fastow und von dort vielleicht Wochen bis nach Stawischtsche. Auch nach Leeds haben wir geschrieben, um Ihre Arbeiter aufzuhalten. Sie kennen in England unser russisches Tempo nicht.« – Das war ein Schlag! Die Aussicht, vierzehn Tage in Warschau zu sitzen, sprachlos, ohne einen Menschen zu kennen! Ich sagte wenig und sah mir die Stadt an.

Am folgenden Morgen standen meine zwei Leute aus England vor der Türe! Auch sie hatten sich durch Lilpops Absagebrief nicht stören lassen. Unsre Lage wurde förmlich unheimlich. Ohne eine Stunde zu verlieren, schickte ich beide in das mythische Innere des Reichs, da sie natürlich hier nichts zu schaffen haben. Wie sie sich bis Stawischtsche durchschlagen, muß ich einem gütigen Schicksal überlassen.

Gleich darauf kam die erfreuliche Nachricht, daß unsre Maschinen von Danzig abgegangen seien. Ja – alles in Erstaunen setzend, fand sich heute früh, daß die sechs Eisenbahnwagen bereits hier stehen. Es fiel mir ein Stein vom Herzen. Denn das einsame Russischlernen, mit dem ich mich zu beschäftigen gedachte, geht an heißen Septembertagen in dem Gasthof einer großen Stadt sehr schlecht. Statt um vierzehn Tage war ich nun nur um drei zu früh gekommen – ein Ineinandergreifen, wie es in Rußland unerhört scheint. Für uns ungeduldiges Volk wäre selbst dies kaum erträglich gewesen, wenn nicht eine merkwürdige Einrichtung in der Natur es mit sich brächte, daß man bis ans Ende des Lebens alles aushält, was man aushalten muß, außer das Ende selbst.


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