Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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Säezeit

Erster Abschnitt. 1882 – 1883

Bonn a. Rh. Umschau

1.

Bonn, den 11. September 1882.

Die süße Bummelei hat ein Ende. Ade Heilbronn, du sonniges, weinseliges Neckarstädtchen; ade Heidelberg mit deiner waldumrauschten Romantik! Es war schön und gut, in alten Erinnerungen zu schwelgen, aber auf die Dauer nicht gesund. Wir sind nicht in der Welt, um nach rückwärts zu leben. Aber auch nach vorwärts wollen sich die Herbstnebel nicht so rasch heben. Dafür sorgt der Rhein, und es mag noch schlimmer werden gegen November. Doch sollten sich die nächsten Monate irgendwie durchleben lassen, und gegen das Frühjahr muß es wohl lichter werden.

Als ich Robert Fowler beim Abschied sagte, daß ich mich in Bonn seßhaft zu machen gedenke, nickte er wohlwollend und befriedigt. Er kannte die Rheinlande. Es sah nicht aus, als ob ich mit dem Gedanken umginge, eine Konkurrenz-Dampfpflugfabrik zu gründen, und er meinte, ich habe es wohl verdient, »otium cum dignitate« als künftiges Leitmotiv meines Lebens aufzustellen. Auf die dignitas habe ich nie viel gehalten. Aber das otium, nach meiner Art verstanden, will ich mir vorläufig nicht rauben lassen.

Das scheint das Schicksal auch nicht zu beabsichtigen. Briefe aus Leeds, die ich hier vorfand, besagen, daß die Versuche mit meinem Patentregulator so viel als eingeschlafen seien. Ganz natürlich. Wenn der Erfinder sein Kind, solange es noch in den Windeln einherstolziert, andern überläßt und über otium cum dignitate philosophiert, ist es sicher, zugrunde zu gehen, und der entartete Vater verdient nichts Besseres. Anderseits ist es wohl richtiger, mit der Vergangenheit gründlich zu brechen, als sich eine Zeit lang in Halbheiten herumzuschleppen, die zu keinem vernünftigen Ziel führen können. Daß dabei einiges verloren geht, muß ich in den Kauf nehmen und tu dies leichten Herzens.

Wie ich auf Bonn verfiel? Irgendwo muß der Mensch leben und das meiste, das ich in der nächsten Zeit zu tun gedenke, läßt sich hier so leicht machen als anderwärts; was ich zunächst als pièce de résistance meiner Mußestunden betrachte, sogar besser: das Studium der Verhältnisse, die der Gründung einer Imperial Agricultural Society of Germany förderlich oder hinderlich sein könnten. Dafür ist die Nähe der landwirtschaftlichen Akademie von Poppelsdorf besonders geeignet, wo ein Synedrium von Gelehrten sitzt, an ihrer Spitze mein Freund und Gönner Dünkelberg, der mich ja bereits auf das Wünschenswerte und Unmögliche einer solchen Schöpfung aufmerksam gemacht hat. Zeigt sich schließlich irgendwelche Aussicht, die Sache in Bewegung zu setzen, so wäre Bonn kein schlechter Ausgangspunkt, und zwar, weil ich es hoffentlich mit guten Deutschen zu tun bekäme. Es wäre sicherlich unmöglich, wenn ich etwa in Berlin säße, meine engeren Landsleute jenseits des Mains für die Sache zu erwärmen, und selbst ich dürfte das spöttische Schweigen schwer erträglich finden, mit dem in Brandenburg und Pommern meine schwungvollsten Aufrufe beantwortet würden, wenn sie von Degerloch bei Stuttgart in die Welt hinausgeschleudert würden. Da liegt nun Bonn hübsch in der Mitte und vielleicht in Hörweite von beiden Enden unsers vielzerspaltenen Vaterlands. Denn »das ganze Deutschland soll es sein!« – das habe ich schon als sechsjähriger Junge bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit geschworen – oder ich rühre die Geschichte nicht an. Drei Jahre lang, die Hälfte meiner Zeit – so viel ist der Gedanke wert, und darauf habe ich mich gefaßt gemacht. Auch Ihr, meine Lieben, müßt Euch daran gewöhnen, mich so viel Zeit und Kraft in der Jagd nach einem selbstgeschaffenen Trugbild vergeuden zu sehen. Das ist mein Begriff von »otium«, von Muße, und Fowler, ein kühler, praktischer Mann, hat mir ungebeten das Zeugnis ausgestellt, daß ich sie verdient habe.

Übrigens ist Bonn ein lichtes, freundliches Städtchen, in dem es neben der etwas staubigen Gelehrsamkeit an Jugend und Sonnenschein nicht fehlt, und die Gegend, wenn auch nicht in unmittelbarer Nähe, eine Perle. Gestern war ich zum zweitenmal im Siebengebirge; das erstemal natürlich auf dem Drachenfels und in Rolandseck, wo uns die deutsche Sagenwelt wie ein lebendig gewordenes Märchen entgegenstrahlt, und die ganze Poesie einer begrabenen Vergangenheit überall durch das fröhliche Leben der Gegenwart schlägt. Gestern fand ich meinen Weg in den tiefsten Winkel der prächtigen Berggruppe. Dort, hinter dem Petersberg, liegen die Reste eines zerfallenen Klosters in stiller Waldeinsamkeit. Heisterbach. Ihr wißt, es ist die Klause, von der aus ein Mönch in den Wald schlich und einem Vogel zuhörte, der ihm ein Liedchen aus der Ewigkeit vorpfiff. Darüber vergaß der Mann ein paar Jahrhunderte lang das Sterben und mußte es schleunigst nachholen, als der Vogel schwieg.

Geht's schief mit meinen Plänen, so werde ich mich nicht übermäßig grämen. Nach Heisterbach ist's nicht weit, der Wald ist noch da, und wer weiß, vielleicht finde ich den Vogel auch noch.


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