Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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35.

Bonn, den 5. Juli 1885.

Ich entarte zu einem reinen Missionsreisenden dieses Heidenlandes. Bald mit Zittern und Zagen, bald mit dem Mut des Glaubens, der darauf baut, daß ihm zu seiner Zeit gegeben werde, was er zu verkünden habe, wandere ich im Reich umher und trotze allen möglichen Fährlichkeiten zu Wasser und zu Land. An »Berufung« fehlt es nicht mehr, aber auch nicht am Gegenteil. Wenn ich von zweien jeder Gattung erzähle, wirst Du genug haben.

Da war zuerst eine große Versammlung in Leipzig, zu der ein landwirtschaftlicher Maschinenmarkt die äußere Veranlassung bot. Die gute Sache hat im Königreich Sachsen rege Freunde, denen der Präsident des dortigen Kulturrats, Rittergutsbesitzer von Oehlschlägel, und dessen Generalsekretär, Herr von Langsdorff, ein glänzendes Beispiel geben. Wenn ich überall solche Männer fände, brauchte ich mich nicht zu quälen. Aber vielleicht wäre es nicht einmal gut, mühelos ans Ziel zu gelangen. Schwierigkeiten und Hindernisse kitten Leute zusammen, wie wir sie brauchen.

Die zahlreich besuchte Versammlung verlief glänzend. Zwei Professoren, Maercker und Kühn, Halle und Leipzig, gerieten sich zur allgemeinen Erbauung tüchtig in die Haare über Fragen, die mich nichts angingen. Mein Sprüchlein mit seinen versöhnlichen Wendungen und hoffnungsvollen Ausblicken in eine Zukunft, in der wir alle uns nur friedlich für das Wohl des Ganzen abmühen werden, goß Öl auf die erregten Wasser, und ich konnte fühlen, wie selbst Gegner sich zu fragen begannen, ob nicht das Millennium zwanzig Mark jährlich wert sei. Mit einer Beute von sechzig neuen Mitgliedern, unter denen sich einer unsrer früheren gefährlichsten Gegner, der große Schutzzöllner Herr von Frege, befand, zog ich schließlich in der heitersten Stimmung nach dem Bahnhof, einer nervenberuhigenden Nachtfahrt entgegen.

Zweitens! Schon seit Monaten erhalte ich von Zeit zu Zeit die Aufforderung von einem mir unbekannten Herrn Rautenstrauch, Weinbergsbesitzer auf dem Kartäuser Hof bei Trier: ich möchte doch im Landwirtschaftlichen Kränzchen zu Trier einen Vortrag über die D. L. G. halten. Ich weigerte mich lange, denn es schien mir unmöglich, abgelegene Gaue in dieser Weise zu bearbeiten. Aber Rautenstrauch ließ nicht nach, und ich mußte endlich ja sagen. Sofort kam ein Schreiben, daß er mich am Bahnhof abholen und nach seiner Kartause führen werde. Ich bat dringend, dies nicht zu tun, da ich viel lieber Trier und seine römischen Schätze angesehen hätte als die Ställe und Keltern der alten Mönche. Aber es half nichts. Vor dem Bahnhof zu Trier stand ein prächtiges Zweigespann und ein kleiner, rundlicher Herr, der mich neugierig ansah. »Ob ich ihn wirklich gar nicht kenne?« »Nein!« Da stellte es sich heraus, daß wir vor dreiundzwanzig Jahren zusammen von Triest nach Alexandrien gefahren waren und ich in sein Album drei betende Türken gezeichnet hatte, die sich in Korfu eingeschifft hatten. Er zeigte mir die längst vergessene Skizze mit Stolz und erklärte, der Vortrag sei nur ein Vorwand gewesen. Er hätte kein andres Mittel gefunden, mich nach Trier zu bringen und hätte mich gar zu gern nach dem süßen Kephalonier in Korfu seine Moselweine kosten lassen. Dies geschah denn auch in ausgiebiger Weise und meine Achtung vor dem wackeren Rautenstrauch, den Kartäusern und der Mosel wuchs in jener Nacht ins Ungemessene. Dazu die Erinnerung an die Sternennacht vor dem gespenstigen Alexandrien und das maurische Ständchen von Schubert, das damals der kleine Rautenstrauch mit seiner klangvollen Rheinlandstimme in die laue Nacht hinaussang – es war eine Reise nach Trier wert! Übrigens wurde der Vortrag gewissenhaft gehalten und ergab nicht mehr als drei Bekehrte. Schweren Herzens und schwereren Kopfes kehrte ich nach Bonn zurück. Nun aber auch etwas von der Kehrseite dieser Bildchen!

Meinem Freund Schultz-Lupitz geht nichts rasch genug! Die Triumphe des Kainitvertrags, der in der Tat eine unerwartete große Bedeutung gewinnt, so daß eine Menge kleiner Vereine zwar murrend, aber doch gefügig unter unsre Flügel kriechen, lassen ihn nicht ruhen, und sein Eifer ist so stürmisch und so ehrlich und uneigennützig, wenn man die Eitelkeit des menschlichen Herzens nicht auch ins Kapitel der Selbstsucht rechnen will, daß man kaum zu bremsen wagt. Es macht ihn unglücklich und hilft nichts. Nun ist er auf den nicht allzu glücklichen Gedanken gekommen, auch die phosphorhaltigen Düngemittel in ähnlicher Weise zu verbilligen und ihren Verkauf zu vermitteln. Hier handelt es sich vornehmlich um die pulverisierte Thomasschlacke, ein Nebenprodukt der Stahlindustrie, deren Entdeckung, Gewinnung und Anwendung als künstlichen Dünger zu den interessantesten Kapiteln der Beziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft gehören. Immer wieder möchte ich den Leuten zurufen, die von beiden Seiten her übereinander losziehen: Was ums Himmels willen würde aus euch, wenn die eine nicht die andre hätte!

Die Einleitung dieser Bewegung seitens der Düngerabteilung hat nun aber einen wahren Sturm gegen die D. L. G. heraufbeschworen. Die Zwischenhändler, vor allem auch die Provinzialvereine, die ähnliche Absichten, keineswegs aber einen ähnlichen Eifer haben, sind wütend über dieses »Provisorium«, das halbjahrhundertalten Vereinen die Sahne von der Milch weglöffle. Der Geschäftsführer des Moorvereins, mit dem wir in Fried und Freundschaft leben, schreibt mir vor acht Tagen einen zornigen Brief: Es könne nicht die Aufgabe der Düngerabteilung und der für sie verantwortlichen D. L. G. sein, in alle Handelsverhältnisse der Kaufleute und andrer Vereine einzugreifen. Gestern erhielt ich vom Generalsekretär eines der ersten Provinzialvereine einen zum mindesten psychologisch merkwürdigen Brief, in dem er mich in erregter Weise darauf hinweist, daß die ideale Richtung, die ich ursprünglich der D. L. G. zu geben versucht habe, durch das Vorgehen der Düngerabteilung aufs schwerste geschädigt werde. Ich fragte mich stundenlang, wie sich der Herr das Leben in dieser Körperwelt denkt und was er sich unter dem Idealismus vorstellt, den er mir andichtet. Fast scheint es, als ob man mich auf eine Bahn drängen wolle, auf der man von Mondschein und Vergißmeinnicht lebt. Wunderlich, daß ich auf irgend jemand den Eindruck gemacht haben muß, als ob ich dies für möglich halte.

Da ging mein Freund Cohn-Martinikenfelde, der mich dem Bleichröderschen Konsortium verkaufen wollte, doch ehrlicher zu Werk. Cohn ist nämlich, wie ich nachträglich erfahre, einer der bedeutenderen Düngerhändler Berlins, und auch ihm ist das Treiben der entstehenden D. L. G. ein Greuel. Nun schreibt mir ein andrer guter Freund, ich möchte mich doch ja in acht nehmen, Cohn habe die Absicht, mich nach Angra Pequena zu verschiffen, um auf diese Weise alle Gefahren, die dem deutschen Düngerhandel durch die D. L. G. entstehen könnten, ein für allemal abzuschneiden. Es wäre wirklich hübsch, wenn dies des Pudels Kern gewesen wäre.

Du siehst, wenn Du all dies zusammenfaßt, daß ich frische Luft brauche. So habe ich vorige Woche die ganze D. L. G. in eine Ecke geworfen, bin nach Bingen gefahren und habe zu Fuß kreuz und quer den Rhein herunter meinen Weg nach Koblenz gemacht. Eine herrliche Erfrischung. Aßmannshausen, Lorch, das Sauertal mit der Ruine von Säckingens altem Schloß, Kaub, St. Goar, Boppard; dann hinüber ins Moseltal und herunter nach Koblenz, in allen Burgen herumgekrochen, auf Bergeshöhen jubiliert, jungen Rheinwein getrunken und auch alten, wo ein lauschiges Kneiplein mich mahnte, Gottes Gabe nicht zu verachten. Dazu mein guter Freund Schwarz, der entlang dem Rhein zu tun hatte, aber getreulich abends eintraf, wo ich nach wohlbedachtem Plan mein Nachtquartier aufschlug. Diese drei Tage haben mir Leib und Seele wieder eingerichtet und mir allen Kunstdünger samt dem auf demselben beruhenden Idealismus aus dem Kopf gefegt. Nun kann's wieder losgehen!


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