Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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47.

Dresden, den 7. Juli 1886.

Ein hart erkämpfter Sieg, eine nicht unbehagliche Erschlaffung von Leib und Seele, ein paar Stunden Wartezeit, die das Abräumen des Schlachtfeldes mit sich bringt, – ich kann das alles nicht besser nutzen als in einem Rückblick auf die letzten acht Tage.

Die sechs Ortsausschüsse: der »allgemeine«, der Empfangs-, der Wohnungs-, der Fest-, der Ausflugs- und der Preßausschuß, waren hocherfreut, als ich eine Woche vor Ausbruch der Feierlichkeiten in Dresden auftauchte, denn es gab gar viel zu ordnen und zu entscheiden, bei dem schließlich der Vertreter des Direktoriums, das die Zeche zu bezahlen hat, mitsprechen mußte. Die Tagesordnung, die Vorträge, die fünfunddreißig Sitzungen, in welche während der vier Haupttage der geschäftliche Teil der Versammlung zerfiel, schienen, soweit dies menschenmöglich war, geordnet. Jedem der mitwirkenden Teilnehmer hatte ich genau aufgeschrieben, wann, wo und wie er seine Tätigkeit zu entfalten oder sein Licht leuchten zu lassen habe, und war mit Abschriften dieser Anweisungen versehen, im Fall er die seine im entscheidenden Augenblick verlegt oder verloren haben sollte. Denn viele dieser Herren waren in ihren Kreisen berühmte Gelehrte. Für mich selbst hatte ich auf sechs Tage einen ausführlichen Fahr- und Stundenplan entworfen, so daß ich für jeden Augenblick wußte, wo ich zu sein und was ich zu tun hatte. Mit all dem und drei schweren Koffern, die das massenhafte Handwerkszeug – entschuldige! – Aktenmaterial der jungen D. L. G enthielten, zog ich vor vierzehn Tagen nach Dresden.

Die erste Woche verduftete in hundert kleinen Arbeiten, bei denen die Hauptsache ist, sich von keinem Hindernis aus der Fassung bringen zu lassen, jede verschlossene Tür höflich lächelnd, aber rücksichtslos aufzustoßen und im übrigen Gott und seinen guten Sternen zu vertrauen. Die unlöslichsten Schwierigkeiten lösen sich immer von selbst, im letzten Augenblick.

Den Dresdnern und vor allem den Führern der sächsischen Landwirtschaft war es ernst. Herr von Oehlschlägel, der Präsident des Kulturrats, und namentlich dessen Generalsekretär, Ökonomierat von Langsdorff, setzten alle Hebel in Bewegung, uns einen festlichen Empfang zu bereiten. Der König wurde drei Tage vor den Versammlungen Patronatsmitglied der Gesellschaft. Dagegen blieb unser Präsident, Graf Stolberg, dabei, nicht kommen zu können, was ich als eine Schande für ihn und eine Schmach für uns empfand und lächelnd entschuldigen mußte.

Eine nagende Sorge ist bei derartigen Veranstaltungen die Unmöglichkeit, auch nur annähernd festzustellen, wieviel Teilnehmer sich einfinden werden. Seit zwei Jahrzehnten hatte die Landwirtschaft nichts Ähnliches unternommen. Es war nicht zu berechnen, wie sich das heutige Geschlecht in dieser Zeit der Not zur Sache stellen würde. Langsdorff glaubte auf zwölfhundert rechnen zu können, ich auf die Hälfte. Meine Prophetengabe erwies sich als weitaus die stärkere. Es kamen 688 Mann.

Am Sonntag fingen sie an herbeizuströmen, am Montag begann es zu wimmeln. Die erste einleitende Sitzung geschäftlicher Natur verlief ohne Anstand und räumte mit einem guten Stück Arbeit auf. Abends war Gartenfest und Empfang der Festgenossen in dem berühmten Belvedere der Brühlschen Terrasse unter Mitwirkung von Adjutanten des Königs, Ministern, Bürgermeistern und städtischen Behörden, landwirtschaftlichen Spitzen des Königreichs, Honoratioren aller Stände, Damenflor, Gesangvereinen, Orchestermusik, beleuchteter Elbe und Feuerwerk. Dabei beglückte mich der Humor des Zufalls mit einem kleinen Erlebnis nach meinem Geschmack. Ich wollte angesichts der drei drohenden Sitzungstage beizeiten, das heißt wenigstens vor Mitternacht, zur Ruhe kommen. Als deshalb das kleine Feuerwerk am jenseitigen Elbufer zu Ende schien, schlich ich mich in aller Stille zu dem großen, dem allgemeinen Publikum verschlossenen Tor des Festgartens hinaus. Das Feuerwerk und das Jubilieren hatte aber nur eine kleine Kunstpause gemacht und begann jetzt erst im Ernste loszuprasseln. Mein Versuch, wieder in den Garten zurückzukehren, wurde von zwei amtstreuen Torwächtern mit Entschiedenheit zurückgewiesen: »Bedaure! Niemand zugelassen! Wir haben strenge Orders!« Auf dem Steingeländer der Terrasse sitzend, lebensgefährlich bedrängt von Kindermädchen, Soldaten und Hausdienern, sah ich meinem eignen Feuerwerk zu, während über mir, innerhalb des Belvederes, von Zeit zu Zeit Tusche geblasen wurden und Exzellenzen und andre hohe Herren Stadt und Land, sich selbst und nebenbei auch mich – wie ich später vernahm – in schwungvollen Worten hochleben ließen.

Jeden Morgen zwischen fünf und sechs Uhr ging es nun in den Kampf. Bis gegen acht Uhr wurden Dienstmänner und Kommissionäre unterrichtet, die verschiedenen Sitzungspapiere in den neun Sitzungssälen verteilt, die an vier verschiedenen Punkten der Stadt gelegen waren, Dutzende von Bekannten begrüßt, Hunderte von Unbekannten mit einem warmen Händedruck in dem Glauben bestärkt, daß ich ihnen seit drei Jahren meine persönliche Freundschaft gewidmet habe. Um acht begannen sodann die Sitzungen mit ihren Vorträgen und Besprechungen. Gegen halb zwei hatte jeder selbst dafür zu sorgen, etwas für das vertrocknete Innere des Menschen zu tun, worauf bis gegen sechs Uhr weiter gesessen wurde. Einmal mußte ich in einer der Versammlungen, die über mir völlig fremde Dinge verhandelte, das Notpräsidium übernehmen, weil sie der rechtmäßige Vorsitzende trotz meiner Instruktionszettel vergessen hatte. Ein andermal wollten zwei hochangesehene Herren, ein feuersprühender Westfale und ein ehrwürdiger Schlesier, denselben Präsidentenstuhl gleichzeitig in Besitz nehmen. Der Westfale siegte, und der tiefgekränkte Schlesier entfernte sich, um sofort abzureisen. Ich fing ihn noch im Wartesaal des Bahnhofs, wo er düster, wie ein zürnender Achill, über einer Tasse schwarzen Kaffees brütete. Es war kein kleines Stück Arbeit, den wackeren Herrn nach seinem Gasthof und in die Versammlungen zurückzubringen. Aber ganz Schlesien stand für uns auf dem Spiel.

Alles andre verlief anstandslos, vor allem die Haupt- und Königsversammlung. Majestät sowie der Thronfolger Prinz Georg erschienen mit Gefolge, blieben bis zum Schluß der Sitzung und geruhten, zwei erschöpfende Vorträge Höchstihrer eignen Untertanen anzuhören: den einen über die sächsische Landwirtschaft der Gegenwart, von dem greisen, warmherzigen Landesökonomierat Steiger, der mir seit einer Woche von der Seelenangst erzählt hatte, mit der er dieser Stunde entgegensehe, und uns alle mit einer von Herzen kommenden Begeisterung für seinen und seines Königs Grund und Boden rührte; den andern über Stallmist, von einem entsprechenden Fachgelehrten. Dienstag abend fuhr man in zwei Festdampfern die Elbe hinauf nach Pillnitz, vorbei an dem Landhaus des Königs, der unser Hurra – hoch! vom Balkon des kleinen Schlosses gnädigst entgegennahm. Die Umgebung Dresdens, die mir bei dieser Gelegenheit zum erstenmal im hellen Sommersonnenlicht entgegentrat, ist reizend, wie ja weltbekannt. Es ist jedoch nicht die beste Art, sie in der Mitte von sechs- bis siebenhundert Personen zu genießen, von denen zweihundert sich bemühen, uns mit den übrigen vier- bis fünfhundert bekannt zu machen. Gegen zehn Uhr abends rettete ich mich auf das Dach eines Omnibusses und entwich.

Die Sitzungsarbeit des Mittwochs war für mich etwas leichter. Abends gab uns Seine Majestät eine Festoper zum besten, die mir die erwünschte Gelegenheit bot, ein paar Stündchen zu schlummern. Webers »Silvana« möge mir's verzeihen. Dagegen war der Donnerstag wieder erdrückend voll: eine zwölfstündige, nicht abreißende geistige Anspannung mit zahllosen, sich kreuzenden Unterbrechungen und Zwischenfällen, die nach allen Richtungen zerrten und doch den geplanten Verlauf des Ganzen nicht stören durften. Dabei begannen die Leute schon, sich und mir Glück zu wünschen, daß alles so merkwürdig geklappt habe.

Mit mehreren Zentnern vom Herzen besuchte ich des Abends das große Gartenfest, das der Kulturrat des Königreichs der Gesellschaft gab: Unglaubliches Gedränge, erneute Glückwünsche, Vivats, Gesangvereine, Militärmusik, farbige Lampen in den Bäumen, Blumenbeete mit tausend Nachtlichtchen, Händeschütteln von hundert erregten Unbekannten, drei Rosen von schöner Frauenhand und dann, nach Mitternacht, während noch alles schwärmte und jubilierte, mit Thiel nach Haus, etwas abgespannt und lebenssatt, in ernstem Gespräch über das, was aus all dem werden könnte und vielleicht niemals werden kann und wird.

So weit die Stadt. Nun kam das Land an die Reihe. über vierhundert Teilnehmer flogen Freitags früh nach acht verschiedenen Richtungen aus und kehrten abends in fröhlichster Feststimmung zurück. Namentlich in und um Meißen hatten sie eine glänzende Aufnahme gefunden: beflaggte Burg, Feuerwerk, Festreden, Festlieder und viel Festgetränke. So weit hatte ich es mit meinem Widerstand gegen alles Festefeiern gebracht. Ich selbst war in Dresden zurückgeblieben, Dienstmänner ablohnend, Papiere ordnend, Rechnungen prüfend. Abends, in den »Drei Raben«, einem unsrer Hauptquartiere, war es förmlich komisch, von Zeit zu Zeit ein neues Trüpplein ankommen zu sehen, voll vom Erlebten, die älteren befriedigt schmunzelnd, in Erinnerungen schwelgend, die Jungen lärmend und sich mit unbekannten Freunden in Geschichten überbietend: wie schön es auf ihrem Ausflug zugegangen sei.

Am Samstag endlich nahm auch ich an einem der sechs Ausflüge teil, welche das Ganze abschlossen. Ich hatte genug Landwirtschaft genossen und lief den Landschaften nach. Vorwand war eine berühmte Schäferei zu Lohme, der Kern der Sache ein Stück der Sächsischen Schweiz, der Liebetaler Grund, die Lochmühle und die Bastei. Auf den sonnigen Höhen, in der freien großen Natur wieder aufatmend, fühlte ich, wie die Spannung mit jeder Stunde nachließ und ein sanftes, gedankenloses Hinträumen mich umspann, so daß ich meine Gefährten kaum mehr hörte. Dann aber schlief ich seit acht Tagen zum erstenmal wieder wie ein Mensch und Murmeltier.

Über die sprichwörtliche Undankbarkeit der Welt konnte ich mich in diesen Tagen wahrhaftig nicht beklagen. Weniger in formvollendeter Weise, aber hundertmal wurde mir gesagt, daß man diese schönen Tage mir verdanke, und wie jetzt die ganze Bewegung eine festere Gestalt angenommen habe als vor zwanzig Jahren, und zu wirklichem Nutzen, nicht bloß zu Schützenfeststimmungen weiterführen müsse.

Trotzdem wird der verdiente seelische Kater nicht ausbleiben, und das, was in der Zukunft von der Gesellschaft gefordert wird, wirft schon heute seine Schatten auf meinen Weg. Ein Glück ist, daß nur wenige sie sehen. Das sachlich Wichtigste, das leichten Herzens beschlossen wurde, ist, daß im nächsten Jahr, in den ersten Wochen des Juni, zu Frankfurt a. M. die zweite Wanderversammlung und erste allgemeine Ausstellung der D. L. G. abgehalten werden soll. Dabei wird es wohl bunter zugehen als in Dresden. Auch der Geldpunkt fällt hierbei schwer ins Gewicht, so daß ich sofort auf die Notwendigkeit eines Garantiefonds von 100 000 Mark hinwies, obgleich einige meiner besten, aber nicht allzu mutigen Freunde bedenklich den Kopf schüttelten. Doch hatte ich schon nach einer halben Stunde 11 000 Mark beisammen, so daß sich hoffen läßt, über diese conditio sine qua non wegzukommen. Eines ist in solchen Fällen die Hauptsache: man darf nicht zögern, mit gutem Beispiel voranzugehen und den Schillerschen Worten eine etwas verbesserte Form zu geben: Der brave Mann denkt an sich selbst – zuerst! Dann folgen sie alle, wie die guten Schafe, die sie sind.

Morgen kehre ich nach Berlin zurück. Du meinst, ich sollte auf ein paar Wochen nach Tirol oder irgendwohin in die Berge gehen. Du hast recht. Wo sonst könnte ich den erschöpften Akkumulator wieder laden, als an einem Gletscherbach, auf einem Berggipfel oder in der Stille eines verlorenen Felstals?


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