Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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19.

Bonn, den 9. Dezember 1883.

Vier Wochen lang Aprilwetter mit einem gelegentlichen Anflug absterbender Dezemberstimmung: wie gefällt Euch das? – Es war trotzdem erträglich, solange ich mich mit der mechanischen Alltagsarbeit betäuben konnte, aus der, gerade als ob ich mich nicht zur Ruhe gesetzt hätte, achtzig Prozent meiner Tätigkeit besteht.

Nach dem Frühlingssturm im Teltower Verein und einem prächtigen Windstoß aus Halberstadt, den ich Rimpau verdanke und der mir fünfzehn Mitglieder ins Haus blies, trat Windstille ein, die bedenklich zu werden drohte. Ich ließ deshalb eine zweite Mitgliederliste drucken und schickte sie in alle Welt. Da regte es sich wieder ein wenig, und gelegentlich kam ein förmlicher Sonnenblick durch das Gewölk.

Doch genug der Wind- und Wetterpoesie! Die Mitgliederzahl ist heute früh Zweihundertzweiundzwanzig. Ihr seht, wie merkwürdig genau ich meinen Feldzugsplan einhalte und mit welch fast übernatürlichem Blick in die Zukunft ich diesen Plan vor einem Jahr festgestellt habe. Es ist allerdings mehr Narrenglück dabei im Spiel als Berechnung, wenn man bei etwas, das kaum einen Anfang bedeutet, von Narrenglück sprechen will. Gestern ist der preußische Landwirtschaftsminister von Lucius beigetreten. Ich verdanke dies zweifellos seinem vortragenden Rat, unserm Freund Thiel, und es ist insofern wichtig, als ich jetzt noch ungenierter als zuvor betonen darf, daß sich ein tüchtiger, deutscher Landwirt nichts von der Regierung gefallen zu lassen braucht, namentlich keine Unterstützungen. »Denn seht,« kann ich jetzt sagen, »Euer Landwirtschaftsminister ist derselben Ansicht, sonst wäre er sicher nicht beigetreten.« Das wirkt in vielen preußischen Kreisen gewaltig. Dagegen werden die Bayern, Schwaben und Sachsen jetzt doppelt scheu werden, bis es ihnen deutlich gemacht werden kann, daß der Herr Minister von Lucius als Landwirt, und nicht der Landwirt Lucius als Minister bei der Sache beteiligt ist.

Wir brauchen übrigens nicht nach Bayern zu gehen; auch anderwärts regt sich der Widerstand in einer fast unbegreiflichen Weise. Daß die Teltower am Tage nach dem Festmahl zum großen Teil wieder aus den Maschen des Netzes zu schlüpfen suchten, das Kiepert über sie geworfen hatte, ist menschlich, und die Briefe sind rührend, die mir der gute Noodt schreibt, der die Aufgabe übernommen hat, den Fang ans Land zu ziehen. Acht Fische sind ihm trotz aller Vorsicht wieder entschlüpft. – Ernsthaft ist und bitterbös, daß der Brandenburger Zentralverein in einer Versammlung zu Potsdam jede Beteiligung und jede Sympathie schroff zurückgewiesen hat. Herr von Wedel-Malchow, der Präsident, will nichts mit der Sache zu tun haben und sei, wie ich höre, selbst für jede Erörterung unzugänglich. Ähnlich ging es in Westpreußen, wo Herr von Puttkamer-Plauth die erdrückende gegnerische Mehrheit führte. Die kleinen und mittleren Gutsbesitzer, wird mir von dort geschrieben, seien dem Plane durchaus zugeneigt; die Großgrundbesitzer, der Adel der Provinz, wolle nichts davon wissen. Und ich »verrückter Engländer« glaubte eine aristokratische Gesellschaft gründen zu können, die in edelm Wettstreit dem Bäuerlein zeigt, wie in unsrer Zeit gewirtschaftet werden müsse, um die Fruchtbarkeit des heimischen Bodens zu erhalten! – Mein etwas allzu hitziger Freund Schultz-Lupitz, der Kainitapostel, der bis jetzt ziemlich still war, glaubte den künftigen Reichsverein im Abgeordnetenhaus vorstellen zu müssen – den Verein, der damit anfangen will, jede und alle Politik zu boykottieren! Ich war entsetzt und mußte sehr höflich dabei bleiben, denn der wackere Schultz glaubte einen Meisterschuß getan zu haben. Natürlich standen sofort ein paar Politiker auf, die nichts von der Sache wußten, und schlugen aus Leibeskräften auf den kleinen Embryo und seinen langen Pathen Schultz los. Für mich ergab sich hieraus ein Briefwechsel mit Schorlemer-Alst, dem klugen Zentrumsmann und katholischen Bauernvereinsführer, der, wie er sagt, bei der Masse landwirtschaftlicher Vereine, die der Entwicklung bedürfen, jede Neugründung mit Schrecken begrüße. Trotzdem waren seine Briefe wahre Muster höflicher Ablehnung.

Zum Schluß kam dann etwas Erfreuliches: ein großes Schreiben von Nathusius-Althaldensleben, auf das ich schon seit Monaten gewartet habe, denn Hunderte hatten mich nach diesem Nathusius gefragt, nicht bloß in der Provinz Sachsen. Er sei, erzählt er, sieben Wochen lang krank und überdies durch die Herdbuchgesellschaft gebunden gewesen. Nun sei ihm wieder besser, und die Herdbuchgesellschaft liege im Sterben, denn mit dem deutschen Universalmittel von 100 000 Mark Staatssubvention sei es endgültig nichts geworden. Was meine Sache betreffe, so sei er so hoffnungslos als je, aber er habe in seiner Krankheit den sechsten Band meines Wanderbuchs gelesen – schon wieder einer! – und daraus ersehen, daß ich Erfolge und Mißerfolge in genügender Anzahl erlebt habe, um auch noch einen weiteren tragen zu können. Leisten, mitarbeiten könne er nicht mehr viel – ich denke, hier spricht der noch nicht ganz genesene Mann –, aber beitreten; nun ja, mit all den Vorbehalten, die die Aussichtslosigkeit der Sache verlange, dazu wolle er sich verstehen.

Von Begeisterung ist aus diesen Zeilen nicht gerade viel herauszulesen; aber ich habe das Gefühl, daß dies die Art von Männern ist, die ich brauche, und die – mich brauchen.

Woran wir alle leiden, ist das Zuvielwissen. Damit jedoch diese Epistel nicht allzu traurig ende, schließe ich mit einem Geschichtchen aus einem Bonner Institut für höhere Töchter, wo es auch nicht besser auszusehen scheint. Vor einigen Tagen traf ich die älteste Tochter eines meiner Freunde in Tränen und ihre Mama in kummervollem Nachsinnen. Die beiden Damen hatten ein Aufsatzthema vor sich, das starke Männer hätte aus der Fassung bringen können: »Vergleichung des Satans im Buch Hiob mit Mephisto im ersten Teil von Goethes Faust«. Nächste Woche kommen wir an den zweiten Teil, klagte die Kleine. Nun sage mir einer, daß noch etwas über unsre Frauenbildung gehe!

Morgen schließe ich die Bude für dieses Jahr, und dann kann es wieder ernster werden und heller zugleich. Ihr könnt, wenn Ihr wollt, schon jetzt die Kerzen am Weihnachtsbaum für mich anstecken, unter dem sich diesmal ein liebes Gesicht weniger zeigen wird als in früheren Jahren. Zum Glück wird er deshalb nicht weniger hell leuchten.


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