Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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7.

Bonn, den 18. Dezember 1882.

Ihr wünscht mehr von dem Nebel zu erfahren, über den ich in so nebelhafter Weise zu klagen beginne. Gut. Aber beklagt Euch nicht, wenn er sich dann auch auf Euch herabsenkt. Es ist ein würdiges Thema für einen Dezemberbrief, wenn die Flocken vor den Fenstern wirbeln und man sie vor Eisblumen kaum mehr zu sehen vermag.

All meine Landsleute, die ich seinerzeit durch die Ausstellung der englischen Landwirtschaftsgesellschaft geführt habe, seufzten zum Danke: Ach, wenn wir bei uns zu Hause eine ähnliche Gesellschaft hätten! So wuchs heimlich und innerlich der Gedanke in mir auf: »Hier wäre etwas zu machen, das der Mühe wert ist!« und wurde eine Art Gehirnpolyp, der, wie Ihr wißt, im Kristallpalast zu Sydenham am 30. April in diesem Jahr des Heils aufbrach.

Nun kam ich hierher, und was finde ich!

Das ganze Deutsche Reich ist überzogen von einem Netz landwirtschaftlicher Vereine wie kein andres Land der Erde. Jede der Provinzen Preußens hat ihren Provinzial- oder Zentralverein mit einem Präsidenten, einem Generalsekretär, einem Schatzmeister, häufig auch einer Versuchsstation und den nötigen Beamten und Bediensteten. Jeder Provinzialverein hat zwölf bis dreißig örtlich begrenzte »Sektionen« mit Präsident, Sekretär, Schatzmeister und sonstigem Zubehör. Jede Sektion hat ihre Zweigvereine, Kränzchen, Kasinos und wie sie alle heißen, mit ihren Präsidenten, Schriftführern, Schatzmeistern und so weiter. Das sind die sogenannten zentralisierten Vereine, die in engster Beziehung zur Regierung, das heißt zum Landwirtschaftsministerium, stehen und ihre Bedürfnisse teils aus den sehr bescheidenen Jahresbeiträgen der Mitglieder, teils in weitaus höherem Maße durch regelmäßige und gelegentliche Zuschüsse aus der Staatskasse bestreiten. Sie sind deshalb von der Regierung in hohem Grade abhängig, scheinen stolz darauf zu sein und zugleich den Staat als rettende Mutter für all ihre kleinen und großen Nöten zu betrachten. – Neben diesen zentralisierten Vereinen gibt es eine kaum geringere Menge »nicht zentralisierter« Vereine, vornehmlich für alle erdenklichen Zweige des landwirtschaftlichen Gewerbes: für Geflügel, Fische, Bienen, Obst, Wein, Hopfen, Milch, Moorkultur, Herdbücher, Spiritus, Stärkemehl, Rübenzucker und so fort, die sich teils enge örtliche Grenzen ziehen, teils größere Distrikte, manchmal selbst das Deutsche Reich zu umfassen suchen. Auch diese Vereine sind, obwohl weniger abhängig von der Regierung, mit geringen Ausnahmen, infolge ihrer meist peinlichen Mittellosigkeit, zur bescheidensten Tätigkeit verurteilt, wenn nicht die Regierung ihnen Mittel zur Verfügung stellt, um einen unzweifelhaft gemeinnützigen Zweck zu fördern. Die meisten der großen Provinzialvereine, die seit zwanzig bis fünfzig Jahren bestehen, sind völlig unabhängig voneinander, haben verschiedene Entstehungsgeschichten und schon deshalb ausgesprochen verschiedene Bestrebungen. Einige pflegen das landwirtschaftliche Schulwesen, andre haben sich auf die Chemie geworfen, wieder andre widmen ihre Kräfte mit Vorliebe der Tierzucht, was alles weniger von örtlichen Verhältnissen als von Personen abzuhängen scheint, die zufällig an ihrer Spitze stehen und die nach deutscher Art nicht ohne Eifersucht die Grenzen ihres Wirkungskreises gegen Einflüsse von außen zu schützen wissen.

Ähnlich liegen die Verhältnisse in Bayern, wo der große landwirtschaftliche Verein von Bayern in acht Kreisvereine zerfällt, die unter Kreissekretären stehen, von denen jeder sein eignes Kreisblättchen redigiert und mit dem Nachbar möglichst wenig zu tun haben will. Nominell ist dieser Verein unabhängiger vom Staat als die Provinzialvereine in Preußen, sachlich scheint das Verhältnis nicht wesentlich anders zu sein. In Sachsen, Baden und Württemberg wie in den kleinen Mittelstaaten stehen die Organe der Regierung an der Spitze des Vereinswesens, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung eines »Kulturrats«, einer »Zentralstelle«. Der Vorsitzende der einzelnen Ortsverbände ist gewöhnlich der Herr Oberamtmann (Landrat), mag er etwas von der Landwirtschaft verstehen oder nicht. Er versteht zum mindesten eine Eingabe an die Regierung zu machen und so die Landwirtschaft durch Einfluß und Schreibhilfe zu unterstützen, wenn er Lust dazu hat.

In dieser Weise zählt man in Deutschland gegenwärtig ungefähr sechzehnhundertundfünfzig landwirtschaftliche Vereine. Wieviel in denselben und für dieselben geredet, geschrieben und gedruckt wird, ist nicht an den Himmel zu malen. Was sie leisten in Feld und Wald, in Stall und Scheune, darüber fehlt mir Urteil und Überblick, obgleich es der Masse nach leichter zu übersehen sein dürfte.

Zwei Hauptredeorganisationen habe ich noch zu erwähnen: in Preußen das Landesökonomiekollegium, das, von den Vereinen und der Regierung gewählt, alle Jahre einmal in Berlin zusammentritt und sich mehrere Tage lang über wirtschaftliche Fragen und Interessen unterhält. Eine ähnliche Körperschaft mit Bezug auf das Reich ist der Landwirtschaftsrat. Reden dürfen diese höchst achtbaren Körperschaften soviel ihnen gut dünkt, und viel dünkt ihnen gut; zu sagen haben sie nichts. Ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, »Resolutionen« zu fassen. Wie ich dieses Wort hasse. Aber darauf, fürchte ich, komme ich noch später zurück, denn es ist ein bedenklicher Punkt, wenn man haßt, was unsre künftigen Freunde besonders liebhaben. Doch ich bin noch lange nicht zu Ende. Da ist der Kongreß der deutschen Landwirte, eine freie Vereinigung, die ebenfalls alle Jahre große Versammlungen in Berlin abhält, um ihre Reden stenographieren zu lassen, Resolutionen zu fassen und wieder nach Hause zu gehen. Ich weiß nicht, ob sie je einen Versuch gemacht hat, etwas zu tun. In der jüngsten Zeit ist dies jedenfalls nicht vorgekommen. Der Kongreß besteht heute hauptsächlich aus den Großgrundbesitzern und Hochtories des Ostens, soll aber vor einigen Jahren überwiegend liberalere Elemente vereinigt haben. Da sich die Majorität mit der Minorität nicht vertragen konnte, ist die Majorität ausgetreten und ist seit der Zeit eine Herde ohne Hirte. Die Minderheit aber, begabt mit überaus gesunden Lungen, ist sich ihrer Stärke bewußt und leistet rednerisch Erkleckliches.

Die zersprengten Mitglieder jener Majorität wissen mir viel von der Pracht vergangener Zeiten zu erzählen, in denen von 1837 bis 1869 die Wanderversammlung der Land- und Forstwirte geblüht habe. Auch diese Einrichtung habe allerdings nichts getan, sondern nur geredet, aber oft so schön, daß es noch jetzt eine Freude sei, daran zurückzudenken; und die persönlichen Berührungen und der Gedankenaustausch – ein überaus beliebter Ausdruck hierzuland – habe denn doch ganz außerordentlich wohltuend gewirkt. Die letzte Versammlung sei in München abgehalten worden, und seitdem die Einrichtung begraben geblieben. Wenn ich nur sie wieder ins Leben zurückriefe, sagen mir einige der Poppelsdorfer Herren, hätte ich mich um das Vaterland genügend verdient gemacht.

Auch war einmal – es klingt wie ein Märchen – eine deutsche Ackerbaugesellschaft, die es bis zu einer landwirtschaftlichen Ausstellung in Dresden gebracht hat, dann aber infolge der Überanstrengung aufgehört haben soll zu existieren, ohne zu sterben: ein geheimnisvoller Fall, den ich später noch besser zu verstehen hoffe. Es war eine norddeutsche Schöpfung. Weil nun aber die Leute jenseits des Mains diese Glanzleistung nicht mit ansehen konnten, ohne auch ihr Licht leuchten zu lassen, entstand kurz darauf eine süddeutsche Ackerbaugesellschaft. Auch sie brachte es zu einer Ausstellung zu Frankfurt a.M. und soll während derselben in unzweideutiger Weise verkracht sein. Wo ich von diesen Versuchen höre, dienen sie dazu, mir in halb spöttischem, halb wehmütigem Ton zu beweisen, daß es unmöglich sei, unter deutschen Verhältnissen deutsche Landwirte in Deutschland für einen derartigen Gedanken zu gewinnen.

Trotzdem hat es in Hamburg und Bremen zwei oder drei große landwirtschaftliche Ausstellungen gegeben, die glänzend verlaufen sein sollen. Doch waren sie nicht deutsch, sondern international, und wurden nicht von Landwirten, sondern merkwürdigerweise von Kaufleuten ins Leben gerufen.

Ich tröste mich damit, daß mir noch nicht alles klar ist, was ich wissen sollte. Sonst müßte ich zugeben, daß die Aussichten für das Werk, wie ich es mir gedacht habe, trostlos sind. Ein würdiger Abschluß unsers Briefwechsels in diesem ersten Jahr, in dem ich mich ernstlich frage, wo ich meine nächste Lebensaufgabe zu suchen habe. Eins jedoch bringt es mir jedenfalls, das mir mehr wert ist als die ganze Vereinsmeierei dieser Epistel: seit zweiundzwanzig Jahren wieder das erste Christfest in der alten Heimat! Selbst der Rhein, auf dem heute schon Eis treibt, kann mir gestohlen werden. Morgen seht Ihr mich auf dem Weg nach der Schwäbischen Alb.


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