Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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8.

Bonn, den 29. Januar 1883.

Als ich vor fünf Wochen im Regen einer Dezembernacht rheinaufwärts dampfend noch einmal überlegte, wo ich war und wohin ich ging, überkam mich die naßkalte Winterstimmung dermaßen, daß ich zum Rhythmus der rasselnden Wagenräder und beim erbärmlichen Licht der Königlich Preußischen Staatseisenbahnöllampen ein paar Zeilen in mein Notizbuch schrieb, die ich nicht einmal allein gedichtet hatte:

Ott' Heinrich, der Pfalzgraf zu Rheine,
Sprach eines Morgens: Rem, blem!
Ich pfeif auf die sauern Weine
Ich geh' nach Jerusalem. –

Ich selber – man sollte es kaum glauben –
Ich gehe weiter als er.
Ich pfeif auf die sauern Trauben,
Und ertrinke im Toten Meer.

Dann kamen die so lang entbehrten Lichtchen des deutschen Weihnachtsbaums und durchstrahlten mit ihrer freundlichen Helle den ganzen Jammer. Als ich zwei Wochen später wieder zurückfuhr, an einem blauen, knirschenden Wintermorgen, vertrieb ich mir die Zeit hinter den zugefrorenen Wagenfensterscheiben damit, nach einem Arbeitsgrundsatz, nach einem Wahlspruch für das anbrechende Jahr zu suchen; stundenlang vergeblich. Schließlich fiel mir ein Sätzchen ein, das ich irgendwo einmal in einer englischen Zeitschrift gelesen hatte: »Ein Mann, der nicht manchmal das Unmögliche wagt, wird das Mögliche nie erreichen.« Das war's; das ist's; das soll es sein!

Wenn ich mir dabei die Freiheit der Seele bewahre, und es mir gleichgültig bleibt, ob ein sogenannter Erfolg erreicht wird oder nicht, läßt sich dabei leben. – –

Auf der Durchfahrt durch Heidelberg hat mich Winter eingefangen. Er gibt eine Reihe von »Vorträgen für das gebildete deutsche Volk« heraus, die alles Mögliche und Unmögliche behandeln, aber, wie er meint, nach deutscher Art allzuweit vom praktischen Leben abschweifen und in lauter Bildung zu verdunsten drohen. Ich möchte ihm doch auch etwas schreiben, aber etwas Praktisches. Die Suggestion wirkte nach, und auf jener Rückfahrt beschloß ich, aus den verflossenen sieben Aufsätzen über die R. A. S. ein zusammenhängendes Ganzes zu machen, mit dem ich dann später im Interesse der künftigen deutschen Gesellschaft hausieren gehen könnte. »Denn, was man schwarz auf weiß besitzt«, und so weiter, bleibt im Vaterland Goethes eine ewige Wahrheit, ohne die man nicht weiterkommt. Seit vierzehn Tagen schreibe ich an der Broschüre: »Die Königliche Landwirtschaftsgesellschaft von England und ihr Werk«, und Winter tut, als ob er sich darauf freue. Diese unglückseligen Verleger, die er mir so rührend zu schildern gewußt hat!

Mittlerweile wandern die sieben Zeitungsaufsätze in Deutschland hin und her, wie Zugvögel, die ihr Nest nicht finden können. Die »Kölner« und die »Leipziger Illustrierte« haben ihren Anteil höflich zurückgeschickt. Dünkelberg, der beide Aufsätze vortrefflich findet, und mir mit seinem Rat eifrig zur Seite steht, veranlaßt mich, den einen der »Deutschen Milchzeitung« in Holstein, den andern der »Deutschen landwirtschaftlichen Presse« in Berlin zu schicken. Die »Magdeburger« schreibt, ihr Sachverständiger, ein gewisser Professor Maercker, erkläre den Aufsatz für ein Meisterwerk, sie habe aber vorläufig keinen Platz für Meisterwerke. Die »Frankfurter« will den ihren zur Hälfte drucken, ohne Sachverständnis zu heucheln. Der »Kreuzzeitung«, scheint es, schloß Hekate für ewig den stummen Mund. Ihren Junkern ist die Sache wahrscheinlich von zu gemeiner Gemeinnützigkeit. Diesem Geist gegenüber verspreche ich mir manchen Strauß und manche Niederlage: einen Kampf mit gewaltigen Windmühlen, den ich armer Don Quixote aufnehmen muß, mag mir's gehen, wie es will. – –

Einen begeisterten und, wie es scheint, getreuen Anhänger habe ich in Berlin oder vielmehr er mich in Bonn entdeckt. Wüßte ich, daß ich den Mann nicht kränken würde, so könnte ich ihn zu meinem Sancho Pansa ernennen. Dietrich Kaufmann, Agent, Maschinenbauer seines Zeichens, der erste unter fünfzig Millionen Deutschen, der mir mit lauter Begeisterung zujubelt. Wir kennen uns, denn er hat sich zwölf Jahre lang im Kampf gegen Fowler als Vertreter aller möglichen andern Dampfpflüge abgemüht, uns das Dasein zu erschweren. Kürzlich hat er eine eigne kleine Fabrik zu Berlin begründet und baut verlegbare Eisenbahnen. Auch das scheint ihm im allgemeinen nicht gut zu bekommen. Ich hätte deshalb zu allerletzt von ihm erwartet, ein ermutigendes Wort zu hören, und darf ihn nicht abschrecken. Selbst warme Herzen ohne übermäßige Urteilskraft sind unter Umständen wertvolle Hilfstruppen.

Er habe, schreibt er, mit einem Professor A. Müller gesprochen, der in einer Berliner Gesellschaft, dem Teltower Verein, Vorträge leite. Dort müsse ich vor allen Dingen meine Sache vorbringen. Müller sei durchaus bereit, mir das Ohr der Teltower zu leihen. Er behaupte, mich zu kennen; er habe mit mir zu London 1861 in demselben Boardinghaus, bei Mrs. Bitter, gewohnt. Immer und immer wieder: wie ist die Welt so klein! – –

Ihr seht, der Monat ging nicht verloren. Auch ist in Bonn der Winter nicht die ruhigste Zeit des Jahres, und etwas Allotria muß ich mir erlauben, um meine Berichte nicht jetzt schon zu förmlichen Geschäftsbriefen herabsinken zu lassen. Habe ich mich doch zur Ruhe gesetzt, was mir jedermann, dem ich auf dem Wege zu seinem Bureau oder Hörsaal begegne, mit neidischen Blicken zuflüstert.

Gestern abend hörte ich im Naturhistorischen Verein der Rheinprovinz einen zornbebenden Vortrag von Professor Schaaffhausen gegen Professor Virchow. Der letztere hat eine entrüstete Broschüre gegen den ersteren veröffentlicht. Die beiden gelehrten Herren sind nämlich über einen fossilen Menschenkinnbacken in den bittersten Streit geraten. Sch. beweist, es sei der kleine Kinnbacken eines außerordentlichen Riesenkindes. V. weist nach, daß das Unsinn sei; es sei im Gegenteil der außerordentlich große Kinnbacken eines sehr kleinen Mannes. Dazu hat Virchow das Korpusdelikti, das von Rechts wegen nach Bonn gehört, entwendet und hält es in Berlin unter Schloß und Riegel, so daß sich Sch. mit Photographien begnügen muß, um seinen großen Gegner zu bekämpfen. Die Bitterkeit der beiden Herren liegt überdies tiefer. Sch. glaubt an fossile Menschen zu einer Zeit, in der V. nur Tieren begegnen will. Ja noch mehr! Sch. hat jüngst den Scherben eines Topfes in sekundären Gesteinslagerungen gefunden, was ihm V. einfach nicht glaubt, obgleich Sch. den Topf »herumreicht«, wann und wo es irgend angeht. V. geht so weit, seinen Gegner für einen Dilettanten zu erklären. Dies ist allerdings in Bonner Kreisen eine schwere Beleidigung. Und wer weiß, wer schließlich recht behalten wird. Ich bin geneigt, es mit Schaaffhausen zu halten. Die Theorien der Gelehrten sind wie Heu und ihre Ansichten vergehen wie des Grases Blume. Ein Topf aber bleibt.


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