Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Zweites Kapitel

Lebenseinteilung

Mailänder Dom

Ich fiel mit Napoleon im April 1814. Seitdem lebte ich in Italien. Im Jahre 1821 verließ ich Mailand mit Verzweiflung im Herzen, Mathildes wegen, und nahe daran, mich totzuschießen. In Paris stieß mich anfangs alles ab; später schrieb ich zu meiner Zerstreuung.

Mathilde starb (1824); so war es zwecklos, nach Mailand zurückzukehren. Ich wurde völlig glücklich, doch das ist zuviel gesagt, aber recht leidlich glücklich im Jahre 1830, als ich »Rot und Schwarz« schrieb.

Die Julirevolution (1830) entzückte mich. Ich sah den Kämpfen unter den Kolonnaden des Théâtre français zu; es war nicht sehr gefährlich für mich. Nie werde ich die schöne Sonne und den ersten Anblick der Trikolore am 28. um 8 Uhr vergessen. Die Nacht hatte ich bei dem Major Pinto geschlafen, dessen Tochter sich fürchtete. Am 25. September wurde ich vom Grafen Molé,Damals Minister des Auswärtigen. den ich nie gesehen hatte, zum Konsul in Triest ernannt. Von Triest kam ich 1831 nach Civitavecchia und nach Rom, wo ich noch bin und wo ich mich langweile, weil es mir an Gedankenaustausch fehlt. Von Zeit zu Zeit muß ich den Abend mit geistreichen Leuten verplaudern, sonst ersticke ich.

Dies also sind die großen Abschnitte meiner Darstellung: geboren 1783, Dragoner 1800, Student 1803-1806. Im Jahre 1806 Adjunkt beim Kriegskommissariat und Intendant in Braunschweig. Im Jahre 1809 Transport der Verwundeten von Eßling und Wagram, Aufträge im Donautal an den schneebedeckten Ufern, Liebschaft mit der Gräfin Palfy.Gräfin Alexandrine Daru. Um sie wiederzusehen, bat ich um eine Sendung nach Spanien. Am 3. August 1810 wurde ich durch ihre Vermittlung zum Auditor im Staatsrat ernannt. Auf dies verschwenderische Günstlingsleben folgt eine Sendung nach Moskau; dann wurde ich Intendant in Sagan in Schlesien, und schließlich fiel ich 1814. Wer sollte es glauben? Mir persönlich war dieser Sturz lieb!

Nach diesem Sturze Studium, Schriftstellerei, Liebestorheiten, Drucklegung der »Geschichte der Malerei in Italien« (1817). Mein Vater wird Ultra, richtet sich zugrunde und stirbt 1819, glaube ich; im Juni 1821 kehre ich nach Paris zurück, voller Verzweiflung wegen Mathilde. Sie stirbt; sie war mir tot lieber als untreu; ich schreibe, ich tröste mich, ich werde glücklich. Im September 1830 werde ich wieder Verwaltungsbeamter, was ich noch bin, und sehne mich nach dem Leben eines freien Schriftstellers im dritten Stock des Hotel de Valois in der Rue de Richelieu 71.

Seit dem Winter 1826 bin ich geistreich; vorher schwieg ich aus Trägheit. Ich gelte wohl für den heitersten und fühllosesten Menschen. Allerdings habe ich nie ein Wort über die Frauen gesagt, die ich liebte. In dieser Hinsicht zeige ich durchaus alle Symptome des melancholischen Temperaments, wie es Cabanis beschreibt.

Neulich, auf dem einsamen Wege über dem Albaner See, träumte ich vom Leben und fand, daß das meine sich durch die folgenden Namen bezeichnen läßt, deren Anfangsbuchstaben ich wie Voltaires Zadig mit meinem Spazierstock in den Staub des Weges zeichnete, als ich auf der kleinen Bank hinter dem Kalvarienberg der Minori Menzati saß, der vom Bruder des Papstes Urban VIII. (Barberini) angelegt ist, unter den herrlichen Bäumen, die von einer kleinen runden Mauer eingefaßt sind:

Virginie (Kably), Angela (Pietragrua), Adele (Rebuffet), Melanie (Guilbert), Minna (v. Griesheim), Alexandrine (Petit),Gräfin Daru Angelina (Bereyter), die ich nie geliebt habe, Angela (Pietragrua), Mathilde (Dembowski), Clementine (Curial), GiuliaMadame Jules Gaulthier. und schließlich höchstens einen Monat lang Madame Azur,Alberthe de Rubempré. deren Vornamen ich vergessen habe, und gestern törichterweise Amalie B. ...

Die meisten dieser holden Wesen haben mich durchaus nicht mit ihrer Huld beehrt, aber sie haben mein ganzes Leben buchstäblich ausgefüllt. Dann erst folgen meine Werke. Ehrgeizig bin ich eigentlich nie gewesen, doch im Jahre 1811 hielt ich mich für ehrgeizig.

Der gewöhnliche Zustand meines Lebens war der des unglücklichen Liebenden und des Liebhabers von Musik und Malerei, d. h. des Genusses dieser Künste und nicht ihrer stümperhaften Ausübung. Mit ausgesuchter Empfindsamkeit habe ich schöne Landschaften aufgesucht; einzig deshalb bin ich gereist. Die Landschaften waren wie ein Violinbogen, der auf meiner Seele spielte. Landschaftsbilder, die niemand kennt, z. B. die Linie der Felsen, wenn man sich Arbois nähert (ich glaube, wenn man von Dôle auf der großen Straße kommt), sind für mich ein sinnfälliges, greifbares Bild von Mathildes Seele. Ich sehe, ich habe die Träumerei allem andern vorgezogen, selbst dem Ruhme, für geistreich zu gelten. Erst im Jahre 1826 habe ich mir diese Mühe gemacht und die Rolle des Improvisators im Gespräch übernommen, um die Gesellschaft, die ich besuchte, zu unterhalten. Es geschah aus Verzweiflung in den ersten Monaten jenes Schicksalsjahres.

Kürzlich las ich in einem Buche (den Briefen Victor Jacquemonts),Ein Brief Jacquemonts an Stendhal ist im Anhang des Buches »Über die Liebe« (Bd. IV dieser Ausgabe) abgedruckt. jemand hätte mich für glänzend gehalten. Vor ein paar Jahren fand ich etwa das gleiche in einem damaligen Modebuche der Lady Morgan.»France in 1829-1830«, 2 Bde., London 1830, I, 320f. Diese schöne Eigenschaft hatte ich vergessen; sie hat mir viele Feinde gemacht. (Es war vielleicht nur der Anschein dieser Eigenschaft, und die Feinde sind zu gemeine Seelen, um zu beurteilen, ob jemand glänzend ist.)

Das große drawback (Nachteil), geistreich zu sein, liegt darin, daß man auf die Halbblöden in seiner Umgebung Rücksicht nehmen und auf ihre seichten Anschauungen eingehen muß. Ich habe den Fehler, mich an die am wenigsten Phantasielosen zu halten und für die andern unverständlich zu werden, was ihnen vielleicht um so lieber ist.

Seit meinem Aufenthalt in Rom bin ich nur wöchentlich einmal für fünf Minuten geistreich; lieber träume ich. Die Leute hier verstehen die Feinheiten der französischen Sprache nicht genug, um die Feinheiten meiner Bemerkungen zu erfassen. Sie brauchen die groben Witze der Handlungsreisenden. Die Gesangsposse ist ihr Entzücken (Beispiel: Michelangelo Gaëtani) und ihr tägliches Brot. Die Aussicht auf einen solchen Erfolg macht mich eiskalt; ich mag nicht mehr mit Menschen sprechen, die einem Singspiel Beifall zollen. Ich sehe die ganze Nichtigkeit der Eitelkeit ein.

Vor zwei Monaten also, im September 1835, als ich auf den Gedanken kam, diese Memoiren zu schreiben, am Ufer des Albaner Sees, zweihundert Schritt über dem Seespiegel, schrieb ich wie Voltaires Zadig diese Anfangsbuchstaben in den Staub:

B.. Aa. Ad. M. Mi Al. Aine. Apg. Mde. C.. G.. Ar.Die gleichen Namen wie auf Seite 13.
1 2 3 4 5 6

Ich versank in tiefes Träumen über diese Namen und die erstaunlichen Torheiten und Dummheiten, zu denen sie mich veranlaßt haben (erstaunlich für mich, nicht für den Leser; zudem bereue ich nichts).

In der Tat habe ich nur sechs der geliebten Frauen besessen. Galt meine größte Leidenschaft Melanie(2), Alexandrine, Mathilde oder Clementine(4)? Diese hat mir den größten Schmerz bereitet, als sie mich verließ. Aber läßt sich dieser Schmerz mit dem vergleichen, den mir Mathilde antat, als sie mir nicht sagen wollte, ob sie mich liebte?

Ihnen allen und noch mehreren anderen gegenüber war ich stets wie ein Kind; daher meine geringen Erfolge. Aber dafür haben sie mich viel und leidenschaftlich beschäftigt und mir Erinnerungen hinterlassen, die mich teils noch nach vierundzwanzig Jahren entzücken, so die an die Madonna del Monte bei Varese im Jahre 1811.S. Seite 383 ff. Ich war keineswegs galant, jedenfalls nicht genug. Ich habe mich immer nur mit der Frau beschäftigt, die ich liebte, und wenn ich nicht liebte, träumte ich beim Anblick der menschlichen Dinge oder las mit Entzücken Montesquieu oder Walter Scott. Darum bin ich so wenig eingebildet auf ihre Listen und kleinen Gunstbeweise wie auf mein Alter (52 Jahre), und während ich dies schreibe, schwelge ich noch von einer langen chiacchierata, die Amalie gestern mit mir im Ballettheater hatte.

Um diese Frauen möglichst philosophisch zu betrachten und so zu versuchen, sie des Glorienscheins zu entkleiden, der mich blendet und mir die Fähigkeit deutlichen Sehens raubt, will ich sie (mathematisch gesprochen) nach ihren verschiedenen Eigenschaften ordnen. Ich fange also mit ihrer gewöhnlichen Leidenschaft an, der Eitelkeit, und sage: zwei von ihnen waren Gräfinnen,Gräfin Daru und Gräfin Curial. eine Baronin.Baronin Mathilde Dembowski.

Die reichste war Alexandrine. Ihr Gatte und besonders sie gaben im Jahre gut 80 000 Franken aus. Die ärmste war Minna von Griesheim, die jüngste Tochter eines Generals ohne Vermögen, des Günstlings eines gestürzten Fürsten, der mit seiner Familie von seiner Pension leben mußte; oder Fräulein Bereyter von der Komischen Oper.

Ich suche den Reiz, das dazzling des Erlebnisses abzustreifen, indem ich sie so militärisch betrachte. Das ist mein einziges Mittel, um zur Wahrheit in Dingen zu gelangen, über die ich mit niemandem sprechen kann. Dank der Schamhaftigkeit des melancholischen Temperaments (Cabanis) war ich in dieser Hinsicht stets von einer unglaublichen, tollen Verschwiegenheit.

Geistig überragte Clementine alle anderen. Mathilde übertraf sie durch ihren spanischen Edelmut, Giulia wohl durch ihre Charakterstärke, obwohl sie zuerst als die schwächste erschien. Angela P. war eine erhabene Dirne, eine rechte Italienerin, wie Lucrezia Borgia, und Madame Azur eine nicht erhabene Dirne wie die Dubarry.

An Geldmangel habe ich nur zweimal gelitten, gegen Ende von 1805 und bis zum August 1806, denn mein Vater schickte mir kein Geld mehr, und, was das schlimmste war, ohne mich zu benachrichtigen. Einmal schickte er mir fünf Monate lang meine Zulage von 150 Franken nicht. Dann unser großes Elend mit dem Vicomte (Barral). Er bekam zwar seine Zulage regelmäßig, verspielte sie aber jedesmal am ersten Tage.

In den Jahren 1829 und 1830 kam ich mehr durch Sorglosigkeit und Unachtsamkeit als durch wirklichen Geldmangel in Verlegenheit; denn von 1821 bis 1830 habe ich drei bis vier Reisen nach Italien, England und Barcelona gemacht, und am Ende dieses Zeitabschnitts hatte ich nur 400 Franken Schulden; diese Summe schuldete ich im September 1830 meinem Schneider Michel. Wer das Leben der jungen Leute zu meiner Zeit kennt, wird das sehr mäßig finden. Von 1800 bis 1830 war ich meinem Schneider nie einen Sou schuldig.

Meine damaligen Freunde (1830), Mareste, Colomb, waren Freunde eigner Art. Sie hätten gewiß alles getan, um mich aus einer großen Gefahr zu retten, aber wenn ich mit einem neuen Rock ausging, hätten sie, besonders der erste, zwanzig Franken ausgegeben, wenn mir jemand Spülwasser darauf gegossen hätte. Mit Ausnahme vom Vicomte Barral und Bigillion (aus Saint-Ismier) hatte ich zeitlebens nur solche Freunde.

Es waren brave, höchst verständige Leute, die es durch beharrliche Arbeit oder Geschicklichkeit zu einem Einkommen oder Gehalt von 12-15000 Franken gebracht hatten und die es verdroß, daß ich bei einem Einkommen von höchstens 4-5000 Franken heiter, sorglos und glücklich mit einem Buch Schreibpapier und einer Feder lebte. Sie hätten mich hundertmal mehr geliebt, hätten sie mich betrübt und unglücklich gesehen, weil ich nur die Hälfte oder ein Drittel ihres Einkommens hatte, ich, der sie einst vielleicht etwas gekränkt hatte, als ich mir einen Kutscher, zwei Pferde, eine Kalesche und ein Kabriolett hielt. Denn soweit hatte sich mein Luxus während des Kaiserreichs verstiegen. Damals war ich ehrgeizig oder hielt mich dafür; was mich dabei störte, war, daß ich nicht wußte, was ich mir wünschen sollte. Ich schämte mich meiner Liebschaft mit der Gräfin Alexandrine, ich hielt Fräulein A. Bereyter von der Komischen Oper aus, frühstückte im Café Hardy und war unglaublich unternehmungslustig. Von Saint-CloudWo Napoleon Hof hielt. kam ich eigens nach Paris, um einen Akt des »Matrimonio segreto« im Odeon (mit den Damen Barilli, Tachinardi, Festa und Bereyter) zu hören. Mein Kabriolett wartete vor dem Café Hardy. Das hat mein Schwager mir nie verziehen.

Das alles konnte wie Geckenhaftigkeit aussehen, war es jedoch nicht. Ich strebte nach Genuß und Taten, aber nie suchte ich mehr davon vorzuspiegeln, als es tatsächlich der Fall war. Der Arzt Prunelle, ein geistvoller Mann, dessen Denkweise mir sehr zusagte, mordshäßlich, später als käuflicher Deputierter und Bürgermeister von Lyon um 1833 berühmt, gehörte damals zu meinen Bekannten. Er sagte von mir: »Das ist ein eingebildeter Geck.« Dies Urteil fand bei meinen Bekannten Anklang. Vielleicht hatte er übrigens recht.

Mein trefflicher, höchst spießbürgerlicher Schwager Périer-Lagrange,François Daniel Périer, der Gatte seiner Schwester Pauline, »ein guter dummer Kerl und großer Pferdemensch, der meine Schwester während der Feldzuge in Deutschland heiratete«, wie Beyle andernorts (I, 258f.) sagt. ein früherer Kaufmann, der sich als Landwirt bei La Tour du Pin unüberlegt zugrunde richtete, frühstückte mit mir im Café Hardy und sah, wie ich den Kellnern kurze Befehle gab, denn bei allen meinen Dienstobliegenheiten hatte ich es oft eilig. Es freute ihn, daß die Kellner sich untereinander über meine Geckenhaftigkeit aufhielten, was mich aber gar nicht ärgerte. Ich habe das Spießbürgertum stets tief und gleichsam instinktiv verachtet.

Trotzdem erkannte ich wohl, daß allein im Bürgertum sich energische Menschen befanden, so mein Vetter Rebuffet (Kaufmann in der Rue Saint-Denis), so Ducros, der Stadtbibliothekar von Grenoble, und der unvergleichliche Gros, der Feldmesser der guten Gesellschaft und mein Lehrer ohne Wissen meiner Angehörigen, denn er war Jakobiner und meine ganze Familie war stockkonservativ. Diese drei Männer besaßen meine ganze Hochachtung und mein ganzes Herz, soweit der Respekt und der Altersunterschied herzliche Beziehungen aufkommen läßt. Gegen sie war ich nicht anders als gegen die Wesen, die ich später allzu lieb hatte: stumm, verschlossen, stumpfsinnig, wenig liebenswürdig und bisweilen verletzend – alles aus Hingebung und Selbstvergessenheit. Meine Eigenliebe, mein Vorteil, mein Ich schwanden in Gegenwart des geliebten Wesens dahin; ich ging ganz in ihm auf. Wie aber, wenn dies Wesen durchtrieben war wie die Pietragrua? Doch ich greife immerzu vor! Werde ich den Mut haben, diese Bekenntnisse in einer verständlichen Weise zu schreiben? Ich muß erzählen, und ich schreibe Betrachtungen über unwesentliche Ereignisse, die gerade wegen ihrer mikroskopischen Kleinheit einer genauen Beschreibung bedürfen. Welche Geduld verlange ich von dir, mein Leser!

Also: nach meiner Meinung gab es Tatkraft zu jeder Zeit (1811) selbst in meinen Augen nur bei der Klasse, die mit der wirklichen Not kämpfte. Meine adligen Freunde, Raymond de Bérenger (der bei Lützen fiel), de Saint-Ferréol, de Sinard (fromm und jung gestorben), Gabriel du B[ouchage] (eine Art Spitzbube oder gewissenloser Schuldenmacher, heute Pair von Frankreich und im Herzen Ultra), de Montval – sie kamen mir immer vor, als ob sie etwas Besonderes hätten, einen gewaltigen Respekt vor dem Herkommen (besonders Sinard). Stets suchten sie den guten Ton zu wahren oder comme il faut zu sein, wie man in Grenoble im Jahre 1793 sagte. Aber ich erkannte das damals keineswegs deutlich. Erst seit Jahresfrist steht mein Urteil über den Adel fest. Mein Geistesleben hat sich ungewollt auf die aufmerksame Beobachtung von fünf bis sechs Grundvorstellungen eingestellt, um zur Wahrheit über sie zu gelangen.

Raymond de Bérenger war ein echtes und vorzügliches Beispiel für den Grundsatz noblesse oblige, wogegen Montval (er starb als Oberst allgemein verachtet 1829 in Grenoble) das Ideal eines Deputierten der Mittelparteien war. Das alles trat deutlich zutage, als diese Herren (um 1798) fünfzehn Jahre alt waren. Deutlich erkenne ich die Wahrheit über dies alles erst bei der Niederschrift im Jahre 1835. Bisher waren sie vom Glorienschein der Jugend umhüllt, infolge der übergroßen Lebhaftigkeit der Empfindungen.

Durch dauernde Anwendung philosophischer Methoden, durch Einteilung meiner Jugendfreunde in Klassen, wie der Botaniker Adrien de Jussieu seine Pflanzen einteilt, suche ich die mir entfliehende Wahrheit zu erfassen. Ich erkenne, daß das, was ich im Jahre 1800 für hohe Berge ansah, meist nur Maulwurfshügel waren, aber diese Entdeckung habe ich erst recht spät gemacht. Ich sehe, daß ich wie ein scheues Pferd war, und diese Entdeckung verdanke ich einer Bemerkung, des Herrn de Tracy, des berühmten Grafen Destuit de Tracy, Pair von Frankreich, Mitglied der französischen Akademie und, was mehr wert ist, Verfasser des Gesetzes vom 3. Brumaire über die Zentralschulen.

Ich muß ein Beispiel anführen. Um nichts und wieder nichts, zum Beispiel des Nachts vor einer halb offnen Tür, bildete ich mir ein, zwei Bewaffnete lauerten mir auf, um mich zu hindern, an einem Fenster vorüberzugehen, das auf eine Galerie ging, auf der ich meine Geliebte sah. Eine solche Einbildung hätte ein verständiger Mann wie Abraham ConstantinDem Stendhal dies Fragment vermachte. S. die Testamente am Schluß desselben. nicht gehabt. Aber nach wenigen Sekunden – höchstens vier bis fünf – gab ich mein Leben preis und stürzte mich wie ein Held auf die beiden Feinde, die sich in eine halb geschlossene Tür verwandelten.

Erst vor zwei Monaten ist mir etwas Derartiges wenigstens in geistiger Beziehung zugestoßen. Das Opfer war gebracht und aller nötige Mut gefunden, da merkte ich nach vierundzwanzig Stunden beim nochmaligen Lesen eines schlecht gelesenen Briefes, daß ich mich getäuscht hatte.

Teile ich also mein Leben wie eine Münzensammlung ein, so ergibt sich:

Kindheit und erste Erziehung 1786–1800 15 Jahre
Militärdienst 1800–1802 3 Jahre
Zweite Erziehung, lächerliche Liebschaften mit Adele ClozelLies Rebuffet. und der Mutter, die sich dem Liebhaber ihrer Tochter hingab. Leben in der Rue d'Angiviller. Schließlich die schöne Zeit in Marseille mit Melanie 1803–1805 2 Jahre
Rückkehr nach Paris, Abschluß der Erziehung 1 Jahr
Dienst unter Napoleon vom Oktober 1806 bis zur Abdankung Ende 1814 7½ Jahre
Meine Beitrittserklärung in der gleichen Nummer des »Moniteur«, in der Napoleons Abdankung stand. Reisen, große schreckliche Liebschaften, Trost im Bücherschreiben von 1814–1830 15½ Jahre
Zweiter Staatsdienst vom 15. September 1830 bis zu dieser Stunde 5 Jahre

Mein erstes Auftreten in der Gesellschaft fand im Salon der Frau von Vaulserre statt, einer frommen Dame mit merkwürdigem, kinnlosem Gesicht, der Tochter des Barons des Adrets und Freundin meiner Mutter. Das war wohl im Jahre 1794. Ich war von feurigem, aber schüchternem Temperament, wie es Cabanis beschreibt. Einen äußerst starken Eindruck machten mir die schönen Arme von Fräulein Bonne de Saint-Ballier, wenn ich nicht irre. Ich sehe ihr Gesicht und ihre schönen Arme noch, aber der Name ist mir nicht sicher; vielleicht war es Fräulein de Lavalette. Herr von Saint-Ferréol, von dem ich nie mehr etwas gehört habe, war mein Feind und Nebenbuhler; de Sinard, unser beider Freund, beschwichtigte uns. Das alles spielte sich in dem prächtigen Erdgeschoß des Adretschen Hauses ab, das auf den Garten ging. Jetzt ist es zerstört und zu einem Bürgerhaus verwandelt. Es lag in der Rue Neuve in Grenoble. Damals begann auch meine leidenschaftliche Bewunderung für den Pater Ducros, einen säkularisierten Franziskanermönch und hervorragenden Mann, wenigstens in meinen Augen. Mein Busenfreund war mein Großvater Henri Gagnon, Doktor der Medizin. Nach so vielen allgemeinen Betrachtungen will ich zur Welt kommen.


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