Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Elftes Kapitel

Amar und Merlinot

Civitavecchia und Rom, 10. bis 13. Dezember 1835.

Das sind zwei Volksvertreter, die eines TagesAm 21. April 1793. in Grenoble eintrafen. Kurz darauf veröffentlichten sie eine Liste von 152 notorisch Verdächtigen und 350 einfach Verdächtigen (d. h. von Leuten, die die Republik, die Regierung des Vaterlandes nicht liebten). Die notorisch Verdächtigen sollten verhaftet, die andern nur überwacht werden. Ich sah das alles von unten her, wie ein Kind. Mein Vater war notorisch verdächtig, und mein Großvater einfach verdächtigt.Hier irrt Stendhal: Sein Großvater stand nicht auf der Liste. Die Veröffentlichung beider Listen war ein Donnerschlag für meine Familie. Ich füge sogleich hinzu, daß mein Vater erst am 6. Thermidor,24. Juli 1794. drei Tage vor Robespierres Sturz, freigelassen wurde. Jetzt fällt mir ein, daß er zweiundzwanzig Monate auf der Liste stand und nur zweiunddreißig oder zweiundvierzig Tage im Gefängnis saß.Nach Colombs Angabe ist Beyles Vater nicht gefangen gesetzt worden. Die obigen Daten ergeben, daß er nur fünfzehn Monate verdächtig war. Dies große Ereignis fand demnach wohl am 26. April 1792 statt.

Meine Tante Seraphie zeigte bei diesem Anlaß viel Mut und Tatkraft. Sie ging zu den Mitgliedern der Departementsverwaltung, zu den Volksvertretern und setzte immer wieder einen Aufschub von fünfzehn bis zweiundzwanzig Tagen, bisweilen sogar von fünfzig Tagen durch. Mein Vater schrieb den Umstand, daß er auf die Liste gesetzt war, einer alten Rivalität mit Amar zu, der meines Wissens auch Advokat war.Er war tatsächlich Advokat am Parlamentsgericht in Grenoble gewesen.

Zwei bis drei Monate nach dieser Plackerei, von der am Abend im Familienkreis stets gesprochen wurde, entfuhr mir eine »Naivität«, die meinen abscheulichen Charakter bestätigt. Man drückte in höflichen Worten den ganzen Abscheu aus, den der Name Amar einflößte.

»Aber«, sagte ich zu meinem, Vater, »Amar hat dich auf die Liste gesetzt, weil du notorisch verdächtig bist, die Republik nicht zu lieben. Mir scheint es gewiß, daß du sie nicht liebst.«

Bei diesen Worten wurde meine ganze Familie zornrot. Man wollte mich schon in mein Zimmer einsperren, und während des ganzen Nachtessens sprach niemand ein Wort mit mir. Ich dachte tief nach. »Nichts ist richtiger«, sagte ich bei mir. »Mein Vater verwünscht den neuen Zustand (so lautete der damalige aristokratische Ausdruck). Mit welchem Recht regen sie sich also auf?«

Mit welchem Recht? Diese Art zu schlußfolgern war bei mir die Regel seit den ersten Willkürhandlungen nach dem Tod meiner Mutter, die meinen Charakter verbitterten und mich zu dem machten, was ich bin. Der Leser wird ohne Mühe merken, daß diese Art bald zur äußersten Auflehnung führte.

Mein Vater Cherubin Beyle siedelte in das sogenannte Zimmer meines Oheims über. Der hatte in Les Echelles in Savoyen geheiratet, und wenn er alle paar Monate zum Besuch seiner alten Freunde nach Grenoble kam, wohnte er in diesem mit roten Damastmöbeln prächtig ausgestatteten Zimmer. Man wird auch hier die Besonnenheit des Dauphineser Charakters bewundern. Sich verborgen halten nannte mein Vater es, wenn er über die Straße ging und bei seinem Schwiegervater nächtigte, bei dem er, wie jedermann wußte, seit zwei bis drei Jahren zu Tisch war. Die Schreckenszeit war also in Grenoble sehr mild und, wie ich dreist hinzufüge, sehr vernünftig. Trotz des Fortschritts von zweiundzwanzig Jahren ist mir die Schreckenszeit von 1815, d. h. die Reaktion der Partei meines Vaters, weit grausamer erschienen. Doch in meinem maßlosen Ekel über die Ereignisse von 1815 habe ich die Einzelheiten vergessen; ein unparteiischer Geschichtschreiber ist vielleicht andrer Meinung. Ich bitte den Leser, wenn ich je einen finde, sich zu vergegenwärtigen, daß ich Anspruch auf Wahrheit nur betreffs meiner Empfindungen erhebe; für Tatsachen hatte ich stets nur ein schwaches Gedächtnis. So kam es auch, daß der berühmte Cuvier mich stets in den Debatten schlug, mit denen er mich in seinem Salon in den Jahren 1827 bis 1830 bisweilen beehrte.

Um sich der furchtbaren Verfolgung zu entziehen, siedelte mein Vater in das Zimmer meines Oheims über. Es war im Winter, denn er sagte oft: »Dies ist der reine Eiskeller.« Ich schlief neben seinem Bett in einem hübschen Bett in der Art eines Vogelkäfigs, aus dem ich unmöglich hinausfallen konnte. Doch das war nicht von langer Dauer. Bald sah ich mich in dem trapezförmigen Zimmer neben meines Großvaters Schlafzimmer...

Da ich meinen Vater nun nahebei im Zimmer meines Oheims sah, beobachtete ich zu meinem großen Erstaunen, daß er nicht mehr Massillon, Bourdaloue oder seine Bibel las. Der Tod Ludwigs XVI. hatte ihn wie so viele andre auf die Lektüre von Humes »Geschichte Karls I.« gebracht. Da er kein Englisch verstand, las er damals die einzige Übersetzung von Belot. Bald war mein Vater, der in seinen Neigungen stets veränderlich und unbedacht war, der reine Politiker geworden. Das Lächerliche dieses Umschwungs erkannte ich damals als Kind nicht, jetzt wird mir das Warum klar. Vielleicht war mein Vater, der ausschließlich immer nur einer Leidenschaft (oder Neigung) nachhing, deswegen kein ganz gewöhnlicher Mensch. Er war also jetzt ganz in Hume und Smollett vertieft und wollte mir Geschmack an diesen Büchern beibringen, wie ich zwei Jahre vorher Bourdaloue bewundern sollte. Man kann sich die Wirkung dieser Zumutung denken.

Der Haß der verbitterten Frömmlerin Seraphie nahm noch zu, als sie mich bei ihrem Vater als Günstling sah. Ich hatte schreckliche Auftritte mit ihr, denn ich bot ihr die Stirn, ich widersprach, und das versetzte sie in Wut... Denke ich an diese Szenen seit ihrem Beginn, d. h. seit 1793, zurück, so kann ich sie mir etwa wie folgt erklären: Seraphie war leidlich hübsch und hatte ein Verhältnis mit meinem Vater. In mir haßte sie leidenschaftlich das Wesen, das ein moralisches oder gesetzliches Hindernis für ihre Ehe bildete. Festzustellen wäre freilich, ob die Kirchenbehörde im Jahre 1793 eine Ehe zwischen Schwager und Schwägerin gestattet hätte. Ich glaube ja; Seraphie gehörte neben einer Frau Vignon, ihrer Busenfreundin, zu den größten Betschwestern der Stadt.

Während dieser heftigen Auftritte, die allwöchentlich ein- bis zweimal wiederkehrten, sprach mein Großvater kein Wort. Wie ich schon sagte, hatte er einen Charakter wie Fontenelle, aber im Grunde merkte ich, daß er auf meiner Seite stand. Was konnte auch wirklich ein Mädchen von sechsundzwanzig bis dreißig Jahren mit einem zehn- bis zwölfjährigen Kinde gemeinsam haben? Die Dienstboten, nämlich Marion, Lambert und dann sein Nachfolger, standen auf meiner Seite, ebenso meine Schwester. Pauline, ein hübsches Kind, das drei bis vier Jahre jünger war als ich. Meine zweite Schwester Zenaide dagegen stand auf Seraphies Seite, und ich wie Pauline bezichtigten sie, uns auszuspionieren. Meine Kusinen, Frau Romagnier und Frau Colomb, die ich zärtlich liebte – sie waren damals dreißig bis vierzig Jahre alt und die letztere ist die Mutter meines besten Freundes, Romain Colomb –, wunderten sich über diese Szenen, die ich mit Seraphie hatte und die oft so weit gingen, daß die Bostonpartie unterbrochen wurde; aber ich glaube deutlich zu erkennen, daß sie mir gegen diese Närrin recht gaben. Eines Tages hatte ich im alten Hause meines Vaters in dem großen Korridor, der aus dem Speisesaal in die Zimmer an der Grenette führte, ein Spottbild Zenaides als »Angeberin« an die Wand gemalt. Diese Kleinigkeit führte eine scheußliche Szene herbei, die mir noch deutlich vorschwebt. Seraphie war wütend, das Spiel wurde unterbrochen. Es war schon 8 Uhr abends. Frau Romagnier und Frau Colomb fühlten sich durch diesen Streich der verrückten Person verletzt, und da weder Seraphies Vater, (Henri Gagnon) noch ihre Tante (Elisabeth Gagnon) den Mut oder die Möglichkeit hatten, sie zum Schweigen zu bringen, beschlossen sie fortzugehen. Nun brach das Unwetter erst recht los. Mein Großvater oder meine Großtante ließ ein ernstes Wort fallen; Seraphie wollte über mich herstürzen, ich griff nach einem Rohrstuhl, um sie mir vom Leibe zu halten, und entfloh in die Küche, da ich sicher war, die gute Marion, die mich vergötterte und Seraphie verabscheute, würde mich in Schutz nehmen.

Neben diesen deutlichen Bildern finde ich Lücken in meiner Erinnerung, wie an einer großenteils von der Wand abgefallenen Freske. Ich sehe noch, wie Seraphie die Küche verließ und ich dem Feind durch den Korridor folgte. Ich war sehr gern in der Küche, in der meine Freunde Marion und Lambert und die Magd meines Vaters hausten, die den großen Vorzug hatten, keine »Vorgesetzten« zu sein. Dort allein fand ich holde Gleichheit und Freiheit. Ich benutzte die Szene, um bis zum Nachtessen nicht zum Vorschein zu kommen. Ich glaube, ich heulte vor Wut über die unerhörten Schimpfworte, die Seraphie mir an den Kopf geworfen hatte, aber ich schämte mich tief meiner Tränen...

»Unwürdiger Bursche!« sagte einmal mein Vater zu mir und kam wütend auf mich zu. Aber geschlagen hat er mich nie, höchstens zwei- bis dreimal. Diese Worte bekam ich deshalb zu hören, weil ich Pauline geschlagen hatte, die mit ihrem Heulen das Haus erfüllte.

In den Augen meines Vaters hatte ich einen abscheulichen Charakter. Diese Wahrheit war durch Seraphie festgestellt und durch Tatsachen bewiesen: den Mordversuch an Frau Chenavaz, den Umstand, daß ich Frau Pison-Dugalland in die Stirn gebissen hatte, und mein Wort über Amar. Bald kam der berühmte anonyme Brief, unterzeichnet Gardon, hinzu. Aber dies große Verbrechen bedarf der Erklärung. Tatsächlich war es ein übler Streich, über den ich mich ein paar Jahre geschämt habe, als ich noch an meine Kindheit dachte, d.h. vor meiner Liebe zu Melanie [Guilbert], die 1805, als ich zweiundzwanzig Jahre alt war, ihr Ende nahm. Heute fällt mir dieser Anschlag deutlich wieder ein.


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