Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Zweiunddreißigstes Kapitel

Im Hause Daru

Rom, 5. bis 7. Februar 1836.

Ich wohnte nicht nur im Daruschen Hause, ich mußte zu meinem größten Verdruß auch dort essen. Die Pariser Küche mißfiel mir; es war nicht die meines Elternhauses, das mir doch als ein Ausbund alles Schlimmen erschienen war. Fast ebenso mißfiel mir die berglose Gegend, an die ich in der Heimat nicht gewöhnt war. Was Geldmangel war, wußte ich nicht. Darum mißfiel mir nichts so, wie die Mahlzeiten in der kleinen Daruschen Wohnung. Wie gesagt, lag sie über der Toreinfahrt. In jenem Salon und Eßzimmer habe ich grausam gelitten und die Erziehung durch andre erhalten, die meine Familie mir so wohlweise vorenthalten hatte.

Das höfliche, zeremonielle Wesen, die peinliche Erfüllung aller Anstandspflichten, die mir noch heute abgeht, läßt mich erstarren und verstummen. Kommt dann noch ein religiöser Anflug und das Deklamieren über die großen Grundsätze von Moral hinzu, so bin ich tot.

Man denke sich die Wirkung dieses Giftes im Jahre 1800 auf meinen noch ganz frischen Organismus, der in seiner gespannten Aufmerksamkeit keinen Tropfen davon verlor.

Um halb sechs Uhr betrat ich den Salon und zitterte bei dem Gedanken, einer der Damen den Arm bieten zu müssen, um zu Tische zu gehen. Kein Bissen schmeckte mir. Die Pariser Küche mißfällt mir noch heute ebenso wie damals. Aber das hatte in jenen Jahren wenig zu besagen; das merkte ich, wenn ich in ein Restaurant gehen konnte. Es war der moralische Zwang, der mich umbrachte. Nicht das Gefühl des Unrechts und des Hasses wie gegenüber meiner Tante Seraphie, sondern etwas weit Schlimmeres: das beständige Gefühl dessen, was ich mir vorgenommen hatte und nicht erreichen konnte.

Ich, der ich mich zugleich für einen Saint PreuxAus Rousseaus »Neuer Heloise«. und für einen ValmontAus den »Gefährlichen Liebschaften« von Choderlos de Laclos. hielt, ich, der ich ein unendliches Liebesverlangen in mir trug, ich sah mich unterlegen und linkisch in einer Gesellschaft, die ich für trübsinnig und mürrisch hielt. Wie wäre mir erst in einem liebenswürdigen Salon zumute gewesen!

Das also war das so heiß ersehnte Paris! Ich verstehe nicht, daß ich zwischen dem 10. November 1799 und dem 20. August 1800,Lies: 7. Mai. wo ich nach Genf aufbrach, nicht wahnsinnig geworden bin. Aber wie soll ich meinen Wahnsinn begreiflich machen? Ich stellte mir die Gesellschaft lediglich, nach den »Geheimen Denkwürdigkeiten« von Duclos, den drei bis sieben damals erschienenen Bänden von Saint-Simon»Mémoires«, Paris 1788 f., 7 Bde. und nach den Romanen vor. Das Schweigen, das nur zu oft an dem Hofe des alten gelangweilten Spießbürgers Daru herrschte, rechnete ich mir daher zur Schande, ja zum Verbrechen an. Das war mein Hauptkummer. Ein Mann mußte nach meiner Idee leidenschaftlich verliebt sein und zugleich Freude und Leben in jede Gesellschaft tragen, in der er erschien.

Noch dazu durfte diese allgemeine Freude, diese Kunst, allen zu gefallen, kein Kunstgriff sein, mit dem man den Neigungen und dem Geschmack aller schmeichelt; ich ahnte diese Kunst nicht einmal, sonst hätte sie mich wahrscheinlich empört. Die Liebenswürdigkeit, nach der mir der Sinn stand, war die reine Freude von Shakespeares Lustspielen, der Frohsinn, der am Hofe des in die Ardennen verbannten HerzogsIn Shakespeares »Wie es Euch gefällt«. herrscht. Und diese reine, himmlische Heiterkeit suchte ich am Hofe eines alten verlebten, gelangweilten, frömmelnden Präfekten!

Weiter kann die Torheit nicht gehen; trotzdem war mein Unglück, obwohl es auf Torheit beruhte, doch sehr wirklich. Das Schweigen, das in meiner Gegenwart in diesem Salon herrschte, brachte mich in Verzweiflung. Ich tat den Mund nicht auf. Ich starb vor Zwang, vor Enttäuschung, vor Unzufriedenheit mit mir selbst. Wer hätte mir damals gesagt, daß das größte Glück meines Lebens mir fünf Monate darauf in den Schoß fallen sollte!

Es fiel tatsächlich, fiel vom Himmel, und doch kam es aus meiner Seele, die auch meine einzige Zuflucht in den vier bis fünf Monaten war, wo ich im Daruschen Hause wohnte. Alle Salonschmerzen waren vergessen, wenn ich allein in meinem Zimmer mit dem Blick auf die Gärten war und mich fragte: »Soll ich Komponist werden oder Lustspiele schreiben wie Molière?« Nur unklar gab ich mir zu, daß ich weder die Welt noch mich hinreichend kannte, um mich zu entscheiden.

Eine weit irdischere und dringlichere Frage scheuchte mich aus diesen luftigen Gedanken auf. Herr Daru, ein Mann der Ordnung, begriff nicht, warum ich die Polytechnische Hochschule nicht bezog oder doch, da es für dies Jahr zu spät war, meine Studien nicht fortsetzte, um mich im nächsten September zum Examen zu stellen. Der strenge Greis machte mir sehr höflich und maßvoll klar, daß wir darüber ins reine kommen müßten. Diese gemessene Höflichkeit von Seiten eines Verwandten war mir so neu, daß sich meine Schüchternheit und meine tolle Einbildungskraft noch steigerte.

Jetzt kann ich mir das erklären. Die Grundfrage war mir ganz klar, aber diese höflichen, ungewohnten Vorbereitungen ließen mich unbekannte, furchtbare Abgründe wittern, aus denen ich mich nicht retten konnte. Das diplomatische Vorgehen des geschickten alten Präfekten entsetzte mich derart, daß ich meine Ansicht nicht zu vertreten wagte. Der bloße Anblick dieses imponierenden Mannes, vor dem alles zitterte, von seiner Frau und seinem ältesten Sohn angefangen, noch dazu unter vier Augen und bei verschlossenen Türen, wirkte derart auf mich, daß ich keine zwei Worte vorzubringen vermochte. Ihn nicht zu sehen, erschien mir als höchstes Glück.

Diese tiefe Verwirrtheit hat mir fast alle Erinnerungen geraubt. Vielleicht sagte Vater Daru zu mir: »Lieber Vetter, du mußt dich binnen acht Tagen entscheiden.« Im Übermaß meiner Schüchternheit, meiner Angst und Verwirrung antwortete ich etwa: »Meine Angehörigen lassen mir die freie Entscheidung.«

»Das merke ich freilich!« entgegnete Herr Daru mit bedeutungsvollem Tone, der mir bei einem so maßvollen, diplomatischen Manne tiefen Eindruck machte. Alles weitere habe ich vergessen ...

Sobald ich allein war und mich beruhigt hatte, kehrte das tiefe Gefühl wieder: »So ist also Paris?« Es war nicht der Schmerz über das Opfer dreier Jahre, das ich gebracht hatte; trotz der Angst, im nächsten Jahre die Hochschule beziehen zu müssen, liebte ich die Mathematik noch. Die schreckliche Frage, die ich mir aber nicht deutlich zu stellen verstand, war: »Wo gibt es auf Erden ein Glück?« Und bisweilen sagte ich mir sogar: »Gibt es auf Erden ein Glück?« ...

Scharfsinn war nie meine Stärke. Damals ging er mir ganz ab. Ich war wie ein scheues Pferd, das nicht die Wirklichkeit sieht, sondern eingebildete Hindernisse oder Gefahren. Zum Glück war mein Herz tapfer; und ich ging ihnen mutig entgegen. So bin ich noch heute.

Je mehr ich in Paris herumkam, um so mehr mißfiel es mir. Die Familie Daru erwies mir große Freundlichkeiten. Frau Cambon machte mir Komplimente über meinen olivenfarbenen Künstlerrock mit Samtaufschlägen. »Er steht dir sehr gut«, sagte sie. Eines Tages nahm sie mich mit mehreren Familienmitgliedern und einem Herrn Gorse ins Museum mit. Das war ein dicker, gewöhnlicher Mensch, der ihr etwas den Hof machte. Sie siechte in tiefer Schwermut dahin, weil sie vor Jahresfrist ihre einzige sechzehnjährige Tochter verloren hatte. Ein paar Monate später starb sie an ihrem Schmerze.

Als wir das Museum verließen, bot sie mir einen Platz in ihrem Wagen an. Ich ging zu Fuß durch den Schmutz, aber weil sie so freundlich gegen mich war, kam ich auf den großartigen Einfall, sie aufzusuchen. Ich fand sie unter vier Augen mit Herrn Gorse. Nun begriff ich meine ganze Torheit, oder doch wenigstens teilweise.

»Warum bist du denn nicht mitgefahren?« fragte Frau Cambon erstaunt.

Ich verschwand schleunigst. Herr Gorse mochte schöne Dinge von mir denken. Ich muß für die Familie Daru ein seltsames Fragezeichen gewesen sein. Die Antwort mußte lauten: ein Tropf oder ein Narr.


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