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Rom, 13. bis 15. Januar 1836.
Heute erkenne ich als gemeinsame Eigenschaft meiner Freunde die Natürlichkeit oder den Mangel an Heuchelei. Frau Vignon und meine Tante Seraphie hatten mir für diese erste Eigenschaft, die in der heutigen Gesellschaft Erfolg verbürgt, einen bis zum Ekel gesteigerten Abscheu eingeflößt, der mir sehr geschadet hat. Die längere Gesellschaft eines Heuchlers ruft bei mir ein Gefühl der Übelkeit hervor ...
Ich wundre mich, wie vieles mir beim Schreiben dieser Bekenntnisse wieder einfällt. Plötzlich ist es wieder da, und mir scheint, ich beurteile es unparteiisch. Immerfort sehe ich, wie ich es hätte besser machen müssen ... Eben merke ich, daß ich einen meiner nächsten Freunde vergessen habe – Louis Crozet,Louis Joseph Mathias Crozet, geb. 1784, der Sohn eines Advokaten. jetzt ein würdiger Oberingenieur, aber durch seine Ehe für die Welt verloren und in der engen Selbstsucht des neidischen Kleinbürgertums in einem Bergnest meiner Heimat versauert.
Louis Crozet hatte das Zeug, um in Paris eine der glänzendsten Rollen zu spielen; in einem Salon hatte er über Koreff,Ferdinand Koreff (1783-1851), ein deutsch-jüdischer Arzt, der lange in Paris lebte. Über ihn siehe meine Studien »Ein Vergessener« in der Sonntagsbeilage zur »Vossischen Zeitung«, Nr. 46-48 (1906). u. »D. F. Koreff« in der Beilage zur »Allgemeinen Zeitung«, Nr. 6-8 (1907). Pariset, Lagarde und nächst ihnen über mich den Sieg davongetragen (wenn man von sich selbst reden darf). Hätte er die Feder geführt, er wäre ein Geist im Stil von Duclos geworden, dem Verfasser des »Versuchs über die Sitten«,»Mémoires sur les mœurs du 18. siècle«, Paris 1749. von dem d'Alembert sagte, er hätte zu einer bestimmten Zeit den meisten Geist besessen.
Ich glaube, ich freundete mich im lateinischen Unterricht mit Crozet an. Er war damals der häßlichste und unfreundlichste Junge auf der ganzen Zentralschule; geboren war er 1784. Er hatte ein rundes, bleiches Gesicht mit starken Pockennarben und sehr lebhaften blauen Äuglein, deren Ränder durch die scheußliche Krankheit angefressen waren. Das alles wurde durch eine leicht pedantische, mürrische Miene vervollständigt. Da er zudem krummbeinig war und einen schlechten Gang hatte, so war er zeitlebens der völlige Gegensatz eines Elegants und suchte leider stets elegant zu sein. Dabei besaß er einen göttlichen Geist, wie La Fontaine sagt. Er war selten empfindsam, dann aber voll leidenschaftlicher Vaterlandsliebe und wohl zum Heldentum befähigt ... Kurz, er war von allen Dauphinesern, die ich kenne, der geistvollste und scharfsinnigste. Und er besaß jenes Gemisch von Kühnheit und Schüchternheit, ohne das man in einem Salon nicht glänzen kann; wie der General Foy, fing er bei seinen eigenen Worten Feuer.
Sehr nützlich wurde er mir durch seinen Scharfsinn, der mir natürlich völlig abging, und ich glaube, er hat ihn mir zum Teil beigebracht. Zum Teil, sage ich, denn ich muß mich immer dazu zwingen. Wenn ich etwas entdecke, neige ich dazu, mir dessen Bedeutung zu übertreiben und weiter nichts zu sehen. Ich entschuldige diesen Fehler als notwendige und unvermeidliche Wirkung übermäßiger Empfindsamkeit. Ergreift mich auf der Straße ein Gedanke allzu mächtig, so falle ich hin. So ging es mir 1826 in Paris ...
Überfällt mich auf der Straße ein Gedanke, so bin ich stets in Gefahr, jemanden anzurennen, zu fallen oder überfahren zu werden. So sah ich einmal in Paris (ein Zug unter hundert) den Dr. Edwards an, ohne ihn zu erkennen. D. h., in mir ging zweierlei vor; ich sagte mir wohl: »Das ist Dr. Edwards«, aber zugleich war ich in meinen Gedanken verloren und sagte mir nicht: »Du mußt ihm guten Tag sagen und mit ihm reden.« Er war sehr erstaunt, aber nicht beleidigt; er nahm mein Benehmen nicht für eine Komödie des Genies, wie sie Felix Faure und viele meiner Bekannten und Freunde aufgeführt hätten.
Ich hatte das Glück, Crozet oft wieder zu finden, in Paris 1800 und von 1803 bis 1806, in Planey von 1810 bis 1814, wo ich ihn besuchte und wo ich meine Pferde während irgendeines vom Kaiser erteilten Auftrages in Pension gab. Schließlich schliefen wir zusammen 1814 bei der Einnahme von Paris im selben Zimmer in der Rue de L'Université im Hôtel de Hambourg. Er wurde in der Nacht vor Kummer magenkrank; ich, der alles verlor, sah die Sache wie ein Schauspiel an. Zudem war ich verstimmt wegen des stumpfsinnigen Schriftwechsels mit dem Herzog von VassanoHugues Bernard Maret (1763-1839), Napoleons Vertrauter, 1809 Herzog von Bassano, bis 1813 Minister des Auswärtigen. und auch – ich gestehe es zu meiner Schande – wegen des Benehmens des Kaisers gegen die gesetzgebende Körperschaft ...
Um mit Crozet nicht die Zeit in bewunderndem Gerede über La Fontaine, Corneille oder Shakespeare zu vertun, brachten wir sogenannte »Charaktere« zu Papier. (Ich möchte das Zeug heute wiedersehen!) Es waren sechs bis sieben Folioseiten, worin wir den Charakter eines unserer Bekannten (unter falschem Namen) vor einem Schiedsgericht schilderten, das aus Helvétius, de Tracy und Machiavelli, oder aus Helvétius, Montesquieu und Shakespeare bestand. Das waren damals unsere Leuchten.
Wir lasen zusammen Adam Smith und J. B. Say, gaben aber die Volkswirtschaftslehre wieder auf, da wir darin Dunkelheiten und sogar Widersprüche entdeckten. Wir waren ausgezeichnete Mathematiker, und Crozet war nach dreijährigem Besuch der Zentralschule so stark in der Chemie, daß ihm eine Anstellung angeboten wurde. Wir lasen Montaigne und wer weiß wie oft Shakespeare in der Übersetzung von Letourneur, obwohl wir genug Englisch verstanden ...
Es ist vielleicht dünkelhaft von mir, daß ich mich oben als vorzüglichen Mathematiker bezeichnete. Die Differential- und Integralrechnung habe ich nie gelernt, aber eine Zeitlang träumte ich dauernd mit Freuden davon, die mathematische Metaphysik (wenn ich so sagen darf) in Gleichungen zu bringen. Ich trug den ersten Preis (und zwar ohne jede Bevorzugung; im Gegenteil, mein Hochmut verstimmte) über acht junge Leute davon, die Ende 1799 sämtlich in die Polytechnische Hochschule aufgenommen wurden.
Mit Crozet habe ich in der Rue de l'UniversitéIn Paris 1805. gut sechshundert bis achthundertmal fünf bis sechs Stunden hintereinander stramm gearbeitet oder »geschuftet«, wie wir das auf der Polytechnischen Hochschule nannten. Diese Stunden waren meine eigentliche literarische Erziehung. Mit Hochgenuß gingen wir an die Entdeckung der Wahrheit. Wir ließen nichts aus; wir fürchteten stets, uns durch die Eitelkeit irreführen zu lassen, denn wir hielten keinen unserer Freunde für fähig, mit uns über solche Dinge zu reden.
Diese Freunde waren die Brüder Basset (der eine, Jean Louis Basset, jetzt Baron de Richebourg, Auditor im Staatsrat und früher Unterpräfekt, reich, geckenhaft, geistlos, aber nicht boshaft, der kein andres Verdienst besaß, als daß er einen Bajonettstich in die Brust bekommen hatte), Louis de Barral (ebenso eng mit mir befreundet wie Crozet) und PlanaJean Antoine Amedée Plana (geb. 1781 in Boghera). (Professor in Turin, Mitglied aller Akademien und Ritter aller Orden dieses Landes). Crozet und Plana waren in der Mathematik um ein Jahr zurück. Sie lernten noch Arithmetik, während ich schon bei der Trigonometrie und der Algebra war ...