Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Einundzwanzigstes Kapitel

Musikunterricht

Rom, 3. bis 6. Januar 1836.

Doch kehren wir zu Fräulein Kably zurück! Wie fern war ich ja überhaupt dem Gedanken an andre Menschen! Für mich gab es nur ein Wesen auf Erden, Fräulein Kably, nur ein Ereignis: ob sie an diesem oder erst am nächsten Abend auftrat. Wie enttäuscht war ich, wenn sie nicht spielte und wenn ein Trauerspiel gegeben wurde! Wie rein, zärtlich, triumphierend war mein freudiges Entzücken, wenn ich ihren Namen auf dem Theaterzettel las! Ich sehe diesen Zettel noch vor mir, seine Form, sein Papier, seine Lettern!

Ich las diesen teuren Namen nacheinander an den drei bis vier Stellen, wo er angeschlagen war, und nicht nur ihren Namen, sondern den ganzen Zettel. Die abgenutzten Lettern der schlechten Druckerei, die diese Zettel herstellte, wurden mir lieb und wert, und jahrelang liebte ich sie mehr als die schönsten Typen. Ja, ich entsinne mich, als ich im November 1799 nach Paris kam, ärgerte mich die Schönheit der Lettern; es waren nicht mehr die gleichen, mit denen der Name Kably gedruckt war!

Eines Tages war sie fort, wann, weiß ich nicht. Schon lange konnte ich nicht mehr ins Theater gehen. Ich durfte Musikunterricht nehmen, aber nicht ohne Kampf. Mein frommer Vater fand diese Kunst zu weltlich, und mein Großvater hatte nicht das geringste für Musik übrig.

Ich bekam einen Violinlehrer namens Mention, einen höchst spaßhaften Menschen, ein Gemisch von alter französischer Lustigkeit, Bravour und Liebe. Er war sehr arm, hatte jedoch ein Künstlerherz. Eines Tages, als ich schlechter spielte als sonst, klappte er das Notenheft zu und sagte: »Ich gebe keine Stunden mehr.« Ich ging zu einem Klarinettenlehrer namens Hoffmann, einem biedern Deutschen; dort spielte ich etwas weniger schlecht. Schließlich bekam ich, wie, weiß ich nicht, Unterricht bei einem Herrn Holleville, einem recht leidlichen Violinspieler. Er war taub, merkte jedoch die geringste falsche Note.

Schließlich nahm ich ohne Wissen meiner Verwandten Gesangstunden um sechs Uhr morgens bei einem recht guten Sänger. Aber daraus wurde nichts: ich erschrak zu allererst selbst vor den Lauten, die ich hervorbrachte. Ich kaufte mir italienische Arien, die ich sehr bewunderte, aber ich verstand nichts davon. Ich hatte zu spät angefangen. Wenn mich irgend etwas von der Musik hätte abschrecken können, so waren es die abscheulichen Laute, die man beim Lernen hervorbringen muß. Nur durch das Piano hätte ich die Schwierigkeit umgehen können; aber ich stammte aus einer zu unmusikalischen Familie.

Als ich später über Musik schrieb, haben meine Freunde mir diese Unkenntnis besonders entgegengehalten. Aber ich kann ohne Überhebung sagen, daß ich in einem vorgetragenen Musikstück sofort Nuancen bemerkte, die ihnen entgingen. Ebenso merke ich die Nuancen im Ausdruck in verschiedenen Kopien eines Gemäldes. Ich sehe das alles so deutlich wie durch einen Kristall.

Als Fräulein Kably ein paar Monate fort war und ich wieder zum Leben erwachte, war ich ein anderer geworden. Mein Haß auf Seraphie war verschwunden; ich hatte sie vergessen. Was meinen Vater betraf, so hegte ich nur einen Wunsch: nicht mehr mit ihm zusammen zu sein. Reuevoll bekenne ich es: ich besaß für ihn nicht einen Tropfen Zuneigung oder Zärtlichkeit. Ich bin also ein Scheusal, sagte ich mir. Jahrelang habe ich auf diesen Vorwurf keine Antwort gewußt. In meiner Familie wurde immerfort bis zum Übelwerden von Zärtlichkeit gesprochen. So nannten die guten Leute die ewige Unterdrückung, mit der sie mich seit fünf bis sechs Jahren beehrten. Ich begann zu ahnen, daß sie sich tödlich langweilten, und da sie zu stolz waren, um ihre geselligen Beziehungen wieder aufzunehmen, daß ich ihre Ablenkung gegen die Langeweile bildete.

Doch nach allem, was ich durchgemacht hatte, konnte mich nichts mehr bewegen. Ich lernte fleißig Latein und Zeichnen und bekam in einem dieser Fächer einen ersten Preis sowie einen zweiten. Mit Vergnügen übersetzte ich das Leben des Agricola von Tacitus; es war fast das erstemal, daß ich Geschmack am Latein fand. Diese Freude wurde mir nur vergällt durch die groben Püffe, die mir der lange Odru gab, jener dicke, unwissende Bauernbursche, der unser Mitschüler war und gar nichts begriff. Mit Giroud prügelte ich mich weidlich. Ich war noch ein halbes Kind.

Trotzdem hatte das stürmische innere Erlebnis der letzten Monate mich gereift. Ich sagte mir allen Ernstes: »Du mußt dich zu etwas entschließen und versuchen, aus dieser Mistpfütze herauszukommen.« Dazu bot sich nur ein Mittel: die Mathematik. Aber der Unterricht war so dumm, daß ich gar keine Fortschritte machte. Meine Mitschüler allerdings noch weniger, wenn das möglich war. Der lange Dupuy erklärte uns die Lehrsätze wie eine Reihe von Rezepten zur Essigbereitung ...


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