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Die Liebe schenkte mir 1821 eine recht seltsame Tugend, die Keuschheit. Trotz meiner Bemühungen fanden mich meine drei Freunde bekümmert und arrangierten ein kleines Weiberfest. Lolot besaß, wie ich später erkannte, ein hervorragendes Talent auf diesem Gebiet.
Er besaß ein Weib immer nur einmal. Von seinen 80 000 Franken Rente gab er 30 000 aus, und davon mindestens 20 000 für Weiber. Lolot arrangierte also einen Abend mit Frau Petit, einer seiner früheren Mätressen, der er Geld geliehen hatte, um sich ein Absteigequartier in der Rue du Cadran im vierten Stock zu mieten. Wir sollten ein Mädchen mit Namen Alexandrine bekommen, das ein halbes Jahr später von den reichsten Engländern ausgehalten wurde, damals aber erst Anfängerin war. Gegen acht Uhr abends fanden wir einen reizenden Salon, allerdings im vierten Stock, frappierten Champagner und heißen Punsch. Endlich erschien Alexandrine mit einer Zofe, die sie überwachen sollte; wir gaben dieser ein Goldstück. Alexandrine übertraf alle Erwartungen. Sie war ein schlankes, achtzehnjähriges Mädchen von entwickelten Formen; ihre schwarzen Augen glichen denen der Herzogin von Urbino auf dem Bilde von Tizian in Florenz. Bis auf die Haarfarbe hat Tizian sie getroffen. Sie war schüchtern, ziemlich heiter und zurückhaltend. Meine Freunde starrten sie wie verzaubert an. Mareste bot ihr ein Glas Sekt an, das sie aber ablehnte, und verschwand mit ihr. Nun stellte Frau Petit uns zwei andre Mädchen vor, die nicht übel waren, aber wir sagten ihr, sie sei hübscher. Sie hatte schöne Füße. Poitevin ging mit ihr hinaus.
Nach einer schrecklichen Pause kam Mareste ganz blaß zurück.
»Nun kommen Sie dran, Beyle! Ehre dem Ankömmling!« rief man.
Ich fand Alexandrine etwas ermüdet auf einem Bett liegend, fast im Naturkostüm und in der Haltung der Tizianischen Herzogin.
»Wir wollen erst ein Weilchen plaudern«, sagte sie klug. »Ich bin etwas müde; bald werde ich mein Jugendfeuer wiederfinden.«
Sie war wundervoll; ich habe wohl nie etwas so Schönes gesehen. Es war nichts Ausschweifendes in ihr, außer in den Blicken, die nach und nach wieder trunken und sozusagen leidenschaftlich wurden.
Ich machte völlig Fiasko. Sie schien betroffen; ich sagte ihr ein paar für meine Lage recht nette Worte und ging hinaus. Kaum war Lolot mir nachgefolgt, so hörte ich schallendes Gelächter durch drei Zimmer hindurch. Mit einemmal entließ Frau Petit die beiden anderen Mädchen, und Lolot erschien mit Alexandrine ohne ein anderes Kleid als ihre Schönheit.
»Bei meiner Bewunderung für Beyle«, sagte er, laut auflachend, »werde ich es noch ebenso machen wie er. Ich komme, um mich mit Sekt zu stärken.«
Das Gelächter währte zwei Minuten; Poitevin wälzte sich auf dem Teppich. Alexandrines maßloses Staunen war unbezahlbar; so etwas war ihr noch nie passiert. Die Herren wollten mir weismachen, ich stürbe vor Scham und wäre tief unglücklich. Ich war aber nur erstaunt. Ich weiß nicht, warum der Gedanke an Mathilde mich beim Betreten des Zimmers befiel, in dem Alexandrine im Schmuck ihrer Reize lag. Kurz, ich bin zehn Jahre lang nicht dreimal zu einer käuflichen Schönheit gegangen, und zwar das nächste Mal erst im Oktober oder November 1827 und nur aus Verzweiflung.
Ich sah Alexandrine wohl zehnmal in dem schönen Wagen, den sie einen Monat darauf hatte, und jedesmal warf sie mir einen Blick zu. Seit jener Zeit galt ich für impotentWie Octave de Malivert, der Held in Stendhals erstem Roman »Armance« (1827). bei meinen drei zufälligen Lebensgefährten. Dieser schöne Ruf verbreitete sich und blieb bestehen, bis Madame Azur ihn Lügen strafte.
Jener Abend besiegelte meine Freundschaft zu Lolot, den ich noch liebe und der mich liebt. Er ist vielleicht der einzige Franzose, auf dessen Schloß ich gern vierzehn Tage verbringe. Er hat das offenste Herz, den lautersten Charakter, und wenn er auch der wenigst geistreiche und gebildete unter meinen Bekannten ist, so hat er doch in zwei Dingen, im Geldverdienen, ohne an der Börse zu spielen, und im Anbändeln mit einem weiblichen Wesen, das er auf der Promenade oder im Theater trifft, nicht seinesgleichen, besonders im letzteren. Das ist für ihn eine Notwendigkeit. Jede Frau, die ihm einmal ihre Gunst gewählt hat, hört für ihn auf, eine Frau zu sein.
Eines Abends sprach Mathilde mit mir von ihrer Freundin, Frau Bignami. Sie erzählte mir selbst eine stadtbekannte Liebesgeschichte von ihr und fuhr dann fort: »Denken Sie, welch ein Schicksal. Jeden Abend ging ihr Liebhaber von ihr zu einem Frauenzimmer.« Als ich Mailand verlassen hatte, wurde mir klar, daß diese moralische Bemerkung nichts mit der Geschichte der Frau Bignami zu tun hatte, sondern eine Warnung für mich sein sollte. In der Tat hatte ich jedesmal, wenn ich Mathilde zu ihrer Kusine, Frau Traversi, begleitet hatte (der ich mich ungeschickterweise nicht hatte vorstellen lassen), den Abend bei der himmlischen Gräfin Kassera verbracht.Gräfin Luigia Cassera (Beyle schreibt Kassera), die Stendhal auch in seinem Buch »Über die Liebe« (S. 286) erwähnt.
Und eine zweite Dummheit – ähnlich wie die Alexandrine gegenüber – war es gewesen, daß ich es einmal ablehnte, der Liebhaber dieser jungen Frau zu werden, vielleicht der liebenswürdigsten, die ich kennen gelernt habe, und das nur, um vor Gottes Angesicht Mathildes Liebe zu verdienen. Ebenso schlau und aus dem gleichen Grunde verschmähte ich die berühmte Viganò,Elena Viganò. Vgl. »Reise in Italien«, S. 45 f. als sie mir eines Tages mit ihrem ganzen Hofstaat, darunter der geistvolle Graf Saurau, Graf Franz v. Saurau (1762-1832), von 1815-17 österreichischer Statthalter der Lombardei. auf der Treppe begegnete und die ganze Gesellschaft vorbeigehen ließ, um mir zu sagen:
»Beyle, es heißt, Sie seien in mich verliebt.«
»Man irrt sich«, antwortete ich mit großer Kaltblütigkeit, ohne ihr auch nur die Hand zu küssen. Mein unwürdiges Benehmen gegenüber dieser kalten Seele trug mir unversöhnlichen Haß ein. Sie grüßte mich nicht mehr, wenn wir in einer der Mailänder Straßen dicht aneinander vorübergingen.
Das waren drei große Torheiten. Ich vergebe mir nie die mit der Gräfin Kassera (heute die sittsamste und angesehenste Frau des Landes).