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Rom, 15. bis 16. Dezember 1835.
Ich arbeitete an einem Tischchen am zweiten Fenster des großen italienisch eingerichteten Salons und übersetzte mit Vergnügen Virgil oder Ovids Metamorphosen, als das dumpfe Murren einer riesigen Menge auf der Place Grenette mir ankündigte, daß zwei Priester guillotiniert waren. Es war das einzige Blut, das in der Schreckenszeit in Grenoble floß.
Ich komme nun zu einer meiner großen Sünden. Meine Leser von 1880, die der damaligen Parteiwut fernstehen, werden es mir übelnehmen, wenn ich ihnen gestehe, daß diese Hinrichtung, die meinen Großvater vor Schrecken erstarren ließ, die Seraphie mit Wut erfüllte und das hochmütige, spanische Schweigen meiner Großtante Elisabeth verdoppelte, mir Vergnügen machte. Da steht das Wort. Mehr noch: Auch im Jahre 1835 liebe ich die Männer von 1794 noch.
Mein Beichtvater Dumolard (einäugig, sonst aber recht gut aussehend und seit 1815 ein wütender Jesuit) zeigte mir mit Gebärden, die mir lächerlich vorkamen, lateinische Gebete oder Verse der Herren Revenas und Guillabert,Sie wurden am 26. Juni 1794 hingerichtet. die er mir durchaus als Brigadegenerale hinstellen wollte. Ich antwortete ihm stolz:
»Mein guter Papa (Großvater) hat mir gesagt, vor zwanzig Jahren wären auf demselben Platz zwei protestantische Geistliche gehenkt worden.«
»Das ist was ganz andres!«
»Das Parlament hat die beiden ersteren wegen ihrer Religion verurteilt; das bürgerliche Kriminalgericht hat die andern als Verräter verurteilt.«
Das wenigstens war der Sinn meiner Worte. Aber ich wußte noch nicht, wie gefährlich es ist, mit Tyrannen zu disputieren. Mußte man in meinen Blicken doch lesen, daß ich wenig Mitgefühl mit zwei Vaterlandsverrätern hatte. (Es gab damals und gibt auch heute noch für mich kein Verbrechen, das dem gleich käme.)
Ich wurde furchtbar ausgezankt. Mein Vater geriet in die höchste Wut, deren ich mich entsinne. Seraphie triumphierte. Meine Großtante Elisabeth nahm mich unter vier Augen vor. Zum Glück trat mein Großvater meinen Feinden nicht bei. Insbesondere war er ganz meiner Ansicht, daß der Tod der beiden protestantischen Geistlichen auch zu verurteilen war.
»Wie engherzig! Unter Ludwig XV. war das Vaterland nicht in Gefahr.«
Hätte mein Großvater, der schon in dem Falle Gardon gegen mich gewesen war, auch jetzt gegen mich Partei genommen, so war es mit der Liebe zu ihm aus. Unsre Gespräche über schöne Literatur, über Horaz, Voltaire, das 15. Kapitel des »Belisar«, die schönen Stellen im »Telemach« und »Sethos«, die meinen Geist gebildet haben – alles hätte ein Ende gehabt, und ich wäre in der ganzen Zeit von dem Tode der beiden unglücklichen Priester bis zu meiner ausschließlichen Leidenschaft für die Mathematik im Frühjahr 1797 noch viel unglücklicher gewesen.
Die Winternachmittage verbrachten wir mit den Beinen in der Sonne im Zimmer meiner Großtante Elisabeth, das auf die Grenette ging. Über oder richtiger neben der Kirche Saint-Louis ragte die eckige Linie der Berge bei Villard du Lans. Dort schwärmte meine Phantasie, vom Ariost des Herrn de Tressan beflügelt, und träumte von einer von hohen Bergen umschlossenen Wiese. Wenn mein Großvater um zwei Uhr seinen vorzüglichen Kaffee trank und sich die Beine von der Sonne bescheinen ließ, sagte er: »In diesem Klima ist es von Mitte Februar ab schön in der Sonne.« Ich bemerkte mit meiner Schwester Pauline, daß die Unterhaltung zu dieser schönsten Tageszeit stets aus Seufzern und Klagen bestand. Man klagte über alles.
Die Sommerabende von sieben bis halb zehn verbrachten wir auf der Terrasse. Um neun Uhr läutete es von Saint-André zum Sanktus; der volle Glockenklang rührte mich tief. Mein Vater war wenig empfänglich für die Schönheit des Sternenhimmels (ich sprach mit meinem Großvater immerfort von den Sternbildern). Er meinte, man erkältete sich draußen, und zog sich in das anstoßende Zimmer zurück, wo er sich mit Seraphie unterhielt.
Diese Terrasse, die durch eine mächtige sogenannte Sarazenenmauer von fünfzehn bis zwanzig Fuß gebildet wurde, hatte einen prachtvollen Blick auf die Berge von Sassenage, wo die Sonne im Winter unterging, auf die Felsen von Voreppe, wo sie im Sommer unterging, und im Nordwesten auf die Bastille, deren Berg alle Häuser und die Tour de Rabot überragte, wo der alte Stadteingang gewesen sein muß.
Mein Großvater gab für diese Terrasse viel Geld aus. Er ließ achtzehn Zoll breite und zwei Fuß hohe Kästen aus Kastanienholz aufstellen, in die Weinstöcke und Blumen gepflanzt wurden. Zwei Weinstöcke wuchsen aus dem Garten unsres Nachbars, des guten Trottels Périer-Lagrange, empor. Auch ließ er eine Weinlaube mit Balken aus Kastanienholz anbringen. Das war eine große Arbeit, die ein Tischler Poncet ausführte, ein lustiger Trunkenbold von etwa dreißig Jahren, mit dem ich mich anfreundete, denn bei ihm fand ich die holde Gleichheit.
Mein Großvater begoß seine Blumen täglich, oft zweimal. Seraphie kam nie auf die Terrasse; da hatte ich einmal Ruhe. Ich half meinem Großvater beim Begießen; er erzählte mir von Linné und Plinius, nicht aus Schulmeisterei, sondern zum Vergnügen.
Diesen großen, außerordentlichen Dank schulde ich dem trefflichen Manne. Um mein Glück zu vollenden, spottete er über die Pedanten; er hatte einen Geist wie der Ägyptologe Letronne.Jean Antoine Letronne (1787-1848), berühmter Archäologe. Verständnisvoll erzählte er mir von Ägypten und zeigte mir die Mumie, die die Stadtbibliothek auf seine Veranlassung angekauft hatte. Trotz Seraphies heftigem Tadel und meines Vaters schweigender Zustimmung gab er mir »Sethos« zu lesen, einen schwerfälligen Roman des Abbé Terrasson,»Séthos, Histoire ou vie tirée des monuments et anecdotes de l'ancienne Egypte«, von Jean Terrasson, Paris 1731, 3 Bde. den ich damals himmlisch fand. Ein Roman ist wie ein Violinbogen; der Violinkasten, der den Ton gibt, ist die Seele des Lesers. Meine Seele war damals närrisch, und ich will erzählen, warum.
Als mein Großvater in seinem Lehnstuhl gegenüber der kleinen Voltairebüste las, stöberte ich in seiner Bibliothek und fand die Quartausgabe des Plinius mit Text und Übersetzung nebeneinander. Dort suchte ich vor allem die Naturgeschichte des Weibes auf. Schließlich stieß ich auf einen Haufen ungebundener Bücher, die ungeordnet durcheinanderlagen. Es waren schlechte Romane, die mein Oheim in Grenoble zurückgelassen hatte. Diese Entdeckung war für meinen Charakter entscheidend. Ich schlug mehrere dieser Romane auf; es war seichtes Zeug von 1780, aber für mich der höchste Genuß. Mein Großvater verbot mir, sie anzurühren, aber ich lauerte auf den Augenblick, wo er in seinem Lehnstuhl in die neuen Bücher vertieft war, die er stets, ich weiß nicht woher, in großen Mengen bekam. Dann stahl ich einen der Romane meines Oheims. Mein Großvater merkte zweifellos meine Diebstähle, denn ich sehe mich in das Naturalienkabinett verwiesen und dort darauf lauernd, daß irgendein Patient meinen Großvater sprechen wollte. Dann jammerte er, daß er aus seinen geliebten Studien gerissen würde, und empfing den Patienten in seinem Zimmer oder im Vorzimmer. Flugs war ich aus dem Kabinett heraus und stahl einen Band.
Mit unbeschreiblicher Leidenschaft verschlang ich diese Bücher. Nach ein bis zwei Monaten fand ich »Félicia oder meine Jugendstreiche«.»Felicia ou mes fredaines« von André de Nerciat, Amsterdam 1788, 2 Bde. Ich wurde gänzlich toll; der Besitz einer wirklichen Geliebten, damals der Inbegriff meiner Sehnsucht, hätte mich nicht derart berauschen können. Seitdem stand mein Beruf fest: In Paris zu leben und Lustspiele zu schreiben wie Molière. Das war mein fixer Gedanke, den ich hinter tiefer Heuchelei verbarg; Seraphies Tyrannei hatte mir Sklavengewohnheiten eingeimpft. Nie habe ich von dem sprechen können, was ich anbetete; ein solches Gespräch wäre mir als Lästerung erschienen. Das fühle ich im Jahre 1835 ebenso lebhaft wie damals.
Diese Bücher meines Oheims trugen die Adresse des Herrn Falcon, der damals das einzige Lesekabinett in Grenoble besaß. Er war ein glühender Patriot,Der Buchhändler Falcon (1753-1830) war ein fanatischer Revolutionär, dessen Laden der Treffpunkt der Gleichgesinnten war, so daß diese Zusammenkünfte nach dem Ende der Schreckensherrschaft unter Strafandrohung verboten wurden. mein Großvater verachtete ihn tief; meine Tante Seraphie und mein Vater haßten ihn gewaltig. Somit begann ich ihn zu lieben. Er ist vielleicht von allen Grenoblern derjenige, den ich am meisten geschätzt habe. In diesem alten Lakaien der Frau von Brizon steckte eine zwanzigmal edlere Seele, als die meines Großvaters und meines Oheims, von meinem Vater und der Jesuitin Seraphie gar nicht zu reden. Vielleicht war allein meine Großtante Elisabeth mit ihm zu vergleichen. Er war arm, verdiente wenig und verschmähte den Gelderwerb, aber bei jedem Siege der Armeen und an den Festtagen der Republik hängte er die Trikolore zu seinem Laden hinaus. Er vergötterte die Republik unter Napoleon wie unter den Bourbonen und ist um 1820 mit zweiundachtzig Jahren gestorben, nach wie vor arm, aber im höchsten Maße ehrbar. Er war der schönste Vertreter des Dauphineser Charakters.
Er besaß eine sehr häßliche Tochter, die gewöhnliche Zielscheibe von Seraphies Scherzen, die ihr nachsagte, sie hätte Liebschaften mit den Patrioten, die das Lesekabinett ihres Vaters besuchten: Damals war ich so dreist, bei ihm zu lesen. Ich weiß nicht, ob ich in der Zeit, wo ich die Bücher meines Großvaters stahl, so frech war, mich bei ihm zu abonnieren, aber es kommt mir vor, als hätte ich so oder so Bücher von ihm gehabt...
Bald verschaffte ich mir Rousseaus »Neue Heloise«. Ich glaube, ich nahm sie vom höchsten Regal der Bibliothek meines Vaters in Claix. Ich las sie, auf meinem Bette liegendem meinem »Trapez« in Grenoble, nachdem ich mich vorsichtig eingeschlossen hatte. Mein Überschwang an Glück und Genuß bei dieser Lektüre war unbeschreiblich Heute erscheint mir das Werk pedantisch, und selbst 1819, im tollsten Überschwang der Liebe, konnte ich keine zwanzig Seiten davon hintereinander lesen.
Seitdem ward das Bücherstehlen meine Hauptbeschäftigung. Ich hatte ein Eckchen neben dem Schreibtisch meines Vaters in der Rue des Vieux Jésuites, wo ich die Bücher, die mir gefielen, unauffällig versteckte. Das waren Ausgaben von Dante mit wunderlichen Holzschnitten, Übersetzungen des Lukian von Perrot d'Ablancourt, der Briefwechsel zwischen Milord All-eye mit Milord All-ear vom Marquis d'Argens»L'Espion anglois ou correspondance secrète entre Milord A. et Milord A.«, London 1777/78, 3 Bde. und schließlich die »Mémoires d'un homme de qualité retiré du Monde« (vom Abbé Prévost).
Ich fand Mittel und Wege, mir das Schreibzimmer meines Vaters öffnen zu lassen, das seit der Schreckensherrschaft von Amar und Merlinot leer stand. Dort hielt ich scharfe Musterung unter den Büchern. Ich fand eine prächtige Sammlung von Elzevirausgaben, aber zum Unglück verstand ich kein Latein, obwohl ich das Selectae e profanis auswendig wußte. Ich versuchte auch ein paar Artikel der Enzyklopädie zu lesen. Aber was war das alles neben »Félicia« und der »Neuen Heloise«!
Mein Vertrauen zu meinem Großvater in literarischen Dingen war grenzenlos. Ich war sicher, daß er mich meinem Vater und Seraphie nicht verriet. Ohne ihm zu gestehen, daß ich die »Neue Heloise« gelesen hatte, wagte ich sie vor ihm zu rühmen. Seine Bekehrung zum Jesuitentum mußte nicht weit her sein; statt mich auszuforschen, erzählte er mir, wie der Baron des Adrets (der einzige Freund, bei dem er seit dem Tode meiner Mutter regelmäßig zwei bis dreimal im Monat speiste) zu der Zeit, wo die »Neue Heloise« erschienen war (also etwa 1761), eines Tages zu Tisch auf sich warten ließ. Als seine Gattin ihn nochmals rufen ließ, erschien der sonst so kalte Mann ganz in Tränen.
»Was hast du denn, mein Lieber?« fragte die Baronin bestürzt.
»Ach, Julie ist tot!« entgegnete er und aß fast nichts.
Ich verschlang die Bücheranzeigen in den Zeitungen. Nach den Titeln »Gonsalvo de Cordova«, »Estella« usw. bildete ich mir ein, die Bücher von Florian müßten herrlich sein. Ich steckte einen Taler in einen Brief und schrieb an einen Pariser Buchhändler, er solle mir ein bestimmtes Werk von Florian schicken. Das war kühn: was hätte Seraphie bei der Ankunft der Sendung gesagt? Aber sie traf nie ein, und für einen Louisdor, den mir mein Großvater zu Neujahr geschenkt hatte, kaufte ich mir einen Florian. Aus den Werken dieses großen Mannes habe ich den Stoff zu meiner ersten Komödie genommen.»Picklar«. Siehe S. 103.)