Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Zehntes Kapitel

Der Lehrer Durand

Civitavecchia, 9. bis 10. Dezember 1835.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich von der Tyrannei Raillanes erlöst wurde. Dieser Schurke hätte mich zu einem ausgezeichneten Jesuiten und zum würdigen Nachfolger meines Vaters oder zu einem trunksüchtigen Soldaten und Schürzenjäger gemacht. Wie bei Fielding hätte das Temperament die Gemeinheit ganz verhüllt. Ich wäre also zu einem dieser beiden reizenden Geschöpfe geworden, hätte ich nicht meinen trefflichen Großvater gehabt, der mir ungewollt seine Vorliebe für Horaz, Sophokles, Euripides und die elegante Literatur mitteilte. Zum Glück verachtete er das ganze galante Schrifttum seiner Zeit, und so bin ich durch Marmontel, Dorat und andre Schelme nicht vergiftet worden. Ich weiß nicht, warum er in einemfort seine Verehrung für die Geistlichen beteuerte, die ihn tatsächlich als etwas Schmutziges abstießen. Da aber seine Tochter Seraphie und mein Vater sie in seinen Salon eingeführt hatten, war er gegen sie höflich wie gegen jedermann. Um etwas zu reden, sprach er von Literatur, unter anderm von den geistlichen Schriftstellern, obwohl er sie nicht schätzte. Aber dieser höfliche Mann konnte nur mit größter Mühe den tiefen Abscheu verbergen, den ihm ihre Unwissenheit einflößte. »Was, nicht mal den Kirchenhistoriker Fleury kennen sie!« Diese Bemerkung hörte ich eines Tages; sie vermehrte mein Zutrauen zu ihm noch.

Bald darauf machte ich die Entdeckung, daß er sehr selten zur Beichte ging. Er war äußerst höflich gegen die Religion, aber nicht eigentlich gläubig. Er wäre fromm geworden, hätte er die Hoffnung gehabt, seine Tochter im Himmel wiederzusehen ...

Vielleicht mußte Raillane sich verborgen halten, weil er sich geweigert hatte, den Eid aus die bürgerliche Kirchenverfassung zu leisten. Jedenfalls war sein Abgang für mich das denkbar größte Ereignis, und doch habe ich keine Erinnerung daran bewahrt. Das ist eine Lücke in meinem Gehirn; ich habe deren mehrere entdeckt, seit ich vor drei Jahren auf der Terrasse von San Pietro in Montorio auf den klugen Einfall kam, daß ich fünfzig Jahre alt und daß es Zeit würde, mich zum Abschied zu rüsten, mir vorher aber das Vergnügen eines Rückblicks zu machen. Ich habe gar keine Erinnerung an die Zeiten und Augenblicke, wo mein Empfinden zu stark war ... Die große Schwierigkeit dieser Denkwürdigkeiten besteht dann, lediglich die Erinnerungen der Zeit, die ich gerade vorhabe, wachzurufen und niederzuschreiben, hier also der offenbar weit weniger unglücklichen Zeit, die ich unter dem Lehrer Durand verbrachte.

Das war ein Biedermann von etwa fünfundvierzig Jahren, dick und behaglich in seinem Wesen. Er hatte einen erwachsenen Sohn von achtzehn Jahren, einen sehr netten Menschen, der sich später, glaube ich, in meine Schwester verliebte. Niemand war weniger jesuitisch und heimtückisch als der arme Durand. Dabei war er höflich, sehr schlicht gekleidet, aber nie schmutzig. Tatsächlich verstand er so wenig Latein wie ich, und so konnten wir uns nicht entzweien. Ich kannte das Selectae e profanis und vor allem die Geschichte von Androkles und seinen LöwenSiehe »Wanderungen in Rom« (Bd. VI dieser Ausgabe), S. 384. auswendig, kannte sogar das Alte Testament und vielleicht etwas von Birgit und Cornelius Nepos. Hätte man mir aber auf Lateinisch acht Tage Ferien gegeben, ich hätte, nichts davon verstanden. Bei Herrn Durand war es nicht anders. Er kannte die Autoren auswendig, die er seit zwanzig Jahren erklärte, als aber mein Großvater ein paarmal versuchte, ihn über einige Schwierigkeiten bei Horaz zu befragen, die Jean Bond nicht erklärt hatte, begriff er nicht mal, um was es sich handelte ...

Ich habe also gar keine Erinnerung an das Ereignis, durch das ich den Abbé Raillane los wurde. Nach dem ewigen Leid, der Frucht der Tyrannei dieses boshaften Jesuiten, sehe ich mich plötzlich bei meinem trefflichen Großvater untergebracht. Ich schlief in einem trapezförmigen Stübchen neben seinem Schlafzimmer und erhielt lateinischen Unterricht durch den biederen Durand, der täglich zweimal, von 10 bis 11 und von 2 bis 3 Uhr, zu mir kam. Meine Angehörigen hielten nach wie vor daran fest, mich nicht mit »gewöhnlichen Kindern« in Berührung kommen zu lassen. Aber die Stunden bei Herrn Durand fanden im Beisein meines trefflichen Großvaters statt, im Winter in seinem Zimmer, im Sommer in dem großen Salon neben der Terrasse, bisweilen auch in einem Vorzimmer, das sonst niemand betrat.

Die Erinnerung an die Tyrannei Raillanes war bis zum Jahre 1814 mein Graus; dann vergaß ich sie. Die Ereignisse der Restaurationszeit nahmen meinen ganzen Ekel und Abscheu in Anspruch. Mit Ekel allein denke ich an die Stunden bei dem Lehrer Durand im Hause zurück. Denn ich besuchte auch seinen Unterricht in der Zentralschule, aber da war ich verhältnismäßig glücklich. Ich begann Gefühl für das schöne Landschaftsbild zwischen den Hügeln von Eybens und Echirolles und die schöne englische Wiese vor der Porte de Bonne zu bekommen, auf die die Schulfenster gingen, glücklicherweise vom dritten Stock aus. Das übrige fand sich ...

Herr Durand begann damit, mir Ovids Metamorphosen zu erklären. Ich setze ihn noch, ebenso die gelbe Farbe des Bucheinbandes. Der allzu heitere Gegenstand führte, wenn ich nicht irre, zu einer Auseinandersetzung zwischen Seraphie, die mehr denn je den Teufel im Leibe hatte, und ihrem Vater. Aus Liebe zur schönen Literatur hielt er stand, und statt der düsteren Schrecknisse des alten Testaments las ich die Liebe von Pyramus und Thisbe und vor allem Daphnes Verwandlung in einen Lorbeerbaum. Nichts machte mir soviel Spaß wie dies Märchen. Zum erstenmal im Leben begriff ich, daß die Kenntnis des Lateinischen, das bisher für mich nur eine Quälerei gewesen war, auch ihre Vorzüge hatte ... Das war vielleicht im Jahre 1794. Mein Großvater erlaubte mir manchmal die Benutzung der Übersetzung von Dubois-Fontanelle,Die Übersetzung erschien 1762 (7. Aufl. 1806). der später mein Lehrer wurde.

Es kommt mir vor, als habe der Tod Ludwigs XVI. (21. Januar 1793) unter der Tyrannei Raillanes stattgefunden. Komischerweise – die Nachwelt wird es kaum glauben – las meine bürgerliche Familie, die sich aber fast zum Adel rechnete, besonders mein Vater, der sich für einen ruinierten Adligen hielt, alle Zeitungen und verfolgte den Prozeß des Königs wie den eines Freundes oder nahen Verwandten. Als die Nachricht von seiner Verurteilung eintraf, war meine Familie in völliger Verzweiflung.

»Aber niemals werden sie es wagen, dies ruchlose Urteil zu vollstrecken«, hieß es.

»Warum nicht?« dachte ich. »Wenn er Verrat geübt hat?«

Ich befand mich also im Arbeitszimmer meines Vaters in der Rue des Vieux Jésuites. Es war gegen 7 Uhr abends und völlig dunkel. Ich las beim Licht meiner Lampe; von meinem Vater durch einen großen Tisch getrennt. Ich tat, als ob ich arbeitete, las jedoch in den »Mémoires d'un homme de qualité« vom Abbé Prévost, von denen ich ein altes verschossenes Exemplar entdeckt hatte. Da rasselte draußen der Wagen der Eilpost von Paris nach Lyon vorüber.

»Ich muß nachsehen, was die Ungeheuer getan haben«, sagte mein Vater und stand auf.

»Hoffentlich ist der Verräter hingerichtet«, dachte ich.

Dann sann ich über den tiefen Unterschied zwischen den Gefühlen meines Vaters und den meinen nach. Zärtlich liebte ich unsre Regimenter, die ich von den Fenstern meines Großvaters über die Place Grenette marschieren sah. Ich stellte mir vor, daß der König danach trachtete, sie von den Österreichern schlagen zu lassen. Wie man sieht, war ich mit zehn Jahren der Wahrheit ziemlich nahe. Aber ich gestehe, es genügte für mich schon, daß der Großvikar Rey und die übrigen, mit der Familie befreundeten Priester solchen Anteil am Schicksal Ludwigs XVI. nahmen, um seinen Tod herbei zu wünschen. Auf Grund eines Liedes, das ich sang, wenn ich mich von meinem Vater und von meiner Tante Seraphie nicht gehört glaubte, hielt ich es damals für unbedingte Pflicht, für das Vaterland zu sterben, wenn es sein müsse. Was lag am Leben eines Verräters, der durch einen geheimen Brief eines jener schönen Regimenter hinmorden lassen konnte, die ich über die Place Grenette marschieren sah! Ich setzte mich gerade im stillen mit meiner Familie auseinander, als mein Vater zurückkam. Ich sehe ihn noch in seinem weißen Flanellrock, den er bei den paar Schritten vor die Tür nicht ausgezogen hatte.

»Es ist geschehen,« sagte er mit einem schweren Seufzer, »sie haben ihn gemordet.«

Mich ergriff eine der lebhaftesten Freudenwallungen meines ganzen Lebens. Der Leser hält mich vielleicht für grausam, aber so war ich mit zehn Jahren, so bin ich noch mit zweiundfünfzig. Als man im Dezember 1830 den unverschämten Lumpen, den Peyronnet, und die andern Unterzeichner der OrdonnanzenDie Ordonnanzen vom 26. Juli 1830, die die Auflösung der noch nicht zusammengetretenen Kammer, die Beschränkung der Preßfreiheit und Wahlrechtsänderungen vorschrieben und den Anlaß zur Julirevolution gaben. nicht mit dem Tode bestrafte, sagte ich von den Pariser Spießbürgern: sie halten ihre seelische Verkümmerung für Zivilisation und Großmut. Wie kann man nach einer solchen Schwäche den Mut haben, einen vierfachen Mörder zum Tode zu verurteilen?

Ich war von diesem großen Akt der nationalen Justiz so begeistert, daß ich meinen Roman, zweifellos einen der rührendsten, die es gibt, nicht weiter lesen konnte. Ich versteckte ihn, nahm ein ernstes Buch vor – jedenfalls den Rollin, den ich lesen sollte – und schloß die Augen, um das große Ereignis in Frieden zu genießen. Genau das gleiche täte ich auch heute, nur muß ich hinzusetzen: außer einer gebieterischen Pflicht könnte nichts mich zum Zusehen bewegen, wenn das öffentliche Interesse den Verräter aufs Blutgerüst schickt. Ich könnte zehn Seiten mit Einzelheiten über diesen Abend füllen, aber wenn die Leser von 1880 ebenso blutarm sind wie die gute Gesellschaft von 1835, würden Held wie Szene ihnen ein Gefühl tiefer Entfremdung einflößen, das sich fast bis zu dem Gefühl steigern könnte, das die schwammigen Seelen Abscheu nennen. Ich hätte weit mehr Mitleid mit einem ohne völlig hinreichende Beweise zum Tode verurteilten Mörder, als mit einem König im gleichen Falle. Der Tod eines schuldigen Königs ist stets nützlich, weil er von den seltsamen Torheiten abschreckt, zu denen der Größenwahn die Inhaber absoluter Macht verleitet ...

Diese Zeilen würden im Jahre 1835 selbst bei meinen Freunden Ärgernis erregen. Im Jahre 1829 verabscheute mich Frau Bernonde im Herzen, weil ich den Tod des Herzogs von Burgund gewünscht hatte. Selbst Herr Mignet (der heute Staatsrat ist), hatte einen Abscheu vor mir, und seine Gattin, die ich gern hatte, verzieh es mir nie. Sie nannte mich im höchsten Grade unsittlich und nahm im Jahre 1833 in Aix Anstoß daran, daß die Gräfin C[uria]l mich verteidigte. Ich kann wohl sagen, daß die Zustimmung von Wesen, die ich für schwach halte, mir höchst gleichgültig ist. Sie erscheinen mir als geistesschwach; ich erkenne deutlich, daß sie das Problem nicht verstehen.

Kurz, angenommen, ich sei grausam! Schön, ich bin es! Man wird noch ganz andre Dinge von mir hören, wenn ich weiter schreibe.

Aus dieser Erinnerung, die mir noch heute vor Augen steht wie vor vierundvierzig Jahren, ziehe ich den Schluß, daß ich im Jahre 1793 in der nämlichen Weise auf die Glücksjagd ging wie heute. Mit andern Worten: mein Charakter hat sich gar nicht verändert. Wenn es um das Vaterland geht, scheinen mir alle Rücksichten kindisch, ja ich würde sagen, verbrecherisch, wäre meine Verachtung der schwachen Seelen nicht grenzenlos. Ein Beispiel für diese ist Herr Felix Faure, Pair von Frankreich und Oberpräsident, der 1828 zu seinem Sohne über den Tod Ludwigs XVI. sagte: »Er ist von Elenden umgebracht worden.« Derselbe Mann verurteilt heute in der Pairskammer die achtbaren jungen Leute, die man Aprilverschwörer nennt. Ich würde sie für ein Jahr nach Cincinnati in Amerika verbannen und ihnen während dieser Zeit monatlich 200 Franken geben.

Da die Post damals fünf volle Tage, wo nicht sechs, von Paris bis Grenoble brauchte, fand die Szene im Wohnzimmer meines Vaters wohl am 28. oder 29. Januar statt. Beim Nachtessen machte meine Tante Seraphie mir eine Szene über meinen abscheulichen Charakter. Ich blickte meinen Vater an, er tat den Mund nicht auf, anscheinend, um die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. So grausam und abscheulich ich auch bin, ich galt in meiner Familie wenigstens nicht für feige. Mein Vater war zu sehr Dauphineser und zu schlau, um nicht, selbst abends in seinem Zimmer, die Gesinnung eines Zehnjährigen erraten zu haben.

Mit zwölf Jahren war ich ein Wunder an Kenntnissen. Ich fragte meinen trefflichen Großvater immerfort aus, und mir zu antworten war sein Glück. Mit mir allein sprach er von meiner Mutter. Sonst wagte kein Familienmitglied mit ihm von diesem geliebten Wesen zu reden. Mit zwölf Jahren also war ich ein Wunder an Kenntnissen, und mit zwanzig ein Wunder an Unwissenheit.

Von 1796 bis 1799 dachte ich an weiter nichts, als wie ich aus Grenoble fortkommen könnte, d. h. an die Mathematik. Voller Bangen berechnete ich, wie ich es anstellen könnte, um eine halbe Stunde Arbeit mehr zu gewinnen. Zudem liebte ich die Mathematik um ihrer selbst willen und liebe sie noch, weil sie die Heuchelei und die Unklarheit, meine beiden Schreckgespenster, ausschließt. In diesem Geisteszustände machte mir jede verständige und ausführliche Antwort meines trefflichen Großvaters tiefen Eindruck...

Mit zehn Jahren schrieb ich ganz heimlich ein Lustspiel in Prosa, oder vielmehr einen ersten Akt. Ich arbeitete langsam, weil ich auf den Augenblick der Eingebung wartete, d. h. auf jenen Zustand der Begeisterung, der mich damals vielleicht zweimal im Monat ergriff. Diese Arbeit war ein großes Geheimnis. In meinen Werken war ich stets ebenso schamhaft wie in meinen Liebschaften. Nichts wäre mir peinlicher gewesen, als davon sprechen zu hören. Dies Gefühl empfand ich noch sehr lebhaft im Jahre 1830, als Herr Victor de Tracy mit mir über meinen Roman »Rot und Schwarz« sprach.


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