Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Tagebuch aus Italien (1815-1816)

Reise nach Venedig und Padua

Padua, 17. Juli 1815.

Ich beginne dies Tagebuch wegen der hübschen Anekdote, die mir Graf Br. vorgestern erzählt hat und die ich schon fast vergesse. Da ich sie nicht aufschrieb, bleibt mir nur das Skelett.

Er erzählte uns also im Cafeé del Principe Carlo, einmal, nei sui anni fervidi,In seinen leidenschaftlichen Jahren. hätte er zehn Jahre mit einer reizenden Venezianerin gelebt. Ein Diener erbot sich, ihm den Beweis ihrer Untreue zu erbringen. Er schien traurig; sie wollte den Grund wissen. Er sagte ihr sehr bekümmert: »Ach Gott, ich glaubte, daß du es sähest und daß du mich mehr als Gatten denn als Liebhaber behandeltest. Das geht nun schon anderthalb Jahre so. Ich hänge an ihm, aber einerlei, ich will ihm den Laufpaß geben.« Der Liebhaber reiste nach London. Sie bekam das Fieber und magerte vor Kummer sichtlich ab. Da sagte der Graf zu ihr: »Ich will dir kein so großes Leid zufügen. Rufe ihn zurück. Wenn er wieder in Venedig ist, schicke mir meine Maske, und ich will versuchen, zu genesen.«

Er sah sie täglich wie zuvor. Sechs Wochen darauf, als er im Cafe war, suchte ihn ein Diener und brachte ihm eine Maske. Ohne in seinen Palazzo zurückzukehren, geht er zum Canale grande, nimmt eine Gondel, verdoppelt die Ruderer und läßt sich nach einem seiner Landhäuser fahren. Dort verbringt er sechs Monate, ohne nach Venedig zurückzukehren, und fast untröstlich. Mir scheint, darin liegt eine Natürlichkeit und wahre Vornehmheit, die unsere eleganten Sitten nie gezeitigt haben.

Die Heldin dieser Geschichte ist gegenwärtig in meinem eignen Gasthof, der Croce di Malta. Sie ist achtundvierzig Jahre alt und wird von einem jungen Engländer von achtunddreißigWahrscheinlich ein Druckfehler. Lies: achtundzwanzig. Jahren angebetet, der kein gewöhnlicher Mensch sein soll. Er hat sie vor zwei Jahren aus Galanterie geliebt, und das dauert so weiter.

Am 11. Juli in Mailand fand ich, daß ich bei der Aussicht, binnen acht Tagen abzureisen, nicht recht zum Arbeiten kam. Ich hatte keine Neigung, mich in P. oder Signora S. zu verlieben. Am 12. beschloß ich abzureisen. Ich zweifelte etwas an meiner Gesundheit und an der Stimmung, in der ich die Gräfin Simonetta antreffen würde. Vor der Abreise benahm sich Frau S. erstaunlich herausfordernd. Wenn ich mit der Gräfin Simonetta bräche, müßte ich mir sofort ein Weibchen dieses Schlages zulegen, um die Schwermut nicht aufkommen zu lassen.

Die Gräfin Simonetta hatte mir ausdrücklich verboten, im selben Gasthof zu wohnen.Mit Frau S. Das hätte ich gerade tun sollen.

In Padua habe ich den ersten Einblick in das venezianische Leben getan, Frauen in den Cafés und Geselligkeit bis zwei Uhr nachts. Der Frohsinn und die leichten Sitten geben diesem Land einen großen Vorzug vor Mailand. Mailand hat den allgemeinen Vorteil der Großstädte für sich. Aber in Venedig vermiede man den ganzen Klatsch von Padua.

Ist Venedig als Großstadt von Mailand verschieden? Das vermag ich nicht zu entscheiden. Trotzdem ist diese Frage für mich sehr wesentlich, denn auf Grund der Antwort werde ich hier Anker werfen.

Neapel ist von Teufeln bewohnt. In Rom muß man zu sehr heucheln. Florenz und Genua langweilen mich. Bleiben einzig Mailand und Venedig.

19. Juli nachmittags.

Ich las heute die Kapitulation von Paris.Nach dem Intermezzo der »hundert Tage«, der Rückkehr Napoleons von Elba. Nach seiner Niederlage bei Belle-Alliance (18. Juni) rückten die Alliierten am 7. Juli in Paris ein. Alles ist verloren, auch die Ehre!

Am 20. gebe ich ein Diner zu sieben Personen, die einzige vornehme Weise für einen Fremden, empfangene Höflichkeiten zu erwidern, besonders eindrucksvoll einem Lande, das durch den Geiz in Diners auffällt. Vorgestern Diner von vier Personen, stets in dem ausgezeichneten Restaurant Pedrocchi, dem besten in Italien und fast gleichwertig mit Paris.

Ich wäre glücklich, könnte ich mir das Herz ausreißen. So sagte ich mir in Padua in einem Anfall von Schwermut. Da zerstreuten mich die »Lettere sirmiensi« des armen Apostoli,Francesco Apostoli (1750-1816) aus Venedig. Über seine Lettere Sirmiensi« (2. Aufl., Mailand 1801) s. »Reise in Italien«, S. 61 f. der am Verhungern ist. Ein unterhaltendes Buch, obwohl akademisch.

Br. verliert um fünfzig Prozent seines Ansehens bei der Lady Simonetta. Muß mein Glück denn von den Frauen abhängen?

Venedig.

Meine Reisen verlieren fünfzig Prozent an Kolorit. Ich schreibe immer nur, wenn ich kein Glied mehr rühren kann. Am 22. Juli abends kam ich mit der Briefpost von Padua in Venedig an. Ich war todmüde. Ich schlafe in der Regina d'Inghilterra.

Als ich um elf Uhr ausgehe, ist der erste Mensch, den ich treffe, Vald... Er schlägt mir ein Seebad mitten im Kanal der Giudecca vor, mittels einer kleinen Leiter, die an die Gondel angehängt wird. Das ist sehr angenehm und vermutlich sehr bekömmlich.

Bei der Rückkehr schreiben wir gemeinsam ein Briefchen an Gina,Angelina Pietragrua. um ihr das ganze Maß ihres Irrtums vorzuhalten, wenn sie ein elendes Loch wie Padua einer Stadt wie Venedig vorzieht, die trotz all ihres Unglücks noch zu den liebenswertesten Städten Europas gehört. Man kann nicht mehr Recht haben als wir, aber das Vergnügen, in Padua vom ersten Tage an eine Stellung in der Gesellschaft zu haben, und die Liebenswürdigkeit des Herrn Br. wird sie bestimmen, dort Anker zu werfen.

Ich habe mir einen Überschlag über das Leben in Venedig gemacht. Für 3000 Franken habe ich Gondel, Theaterloge und Gasthof. Dann bleiben 5000 Franken für besondere Vergnügungen.

Dies Land ist auch in seinem jetzigen Zustand vielleicht noch das heiterste in Europa. Man knüpft erstaunlich leicht Bekanntschaften an, setzt sich neben eine Frau, mischt sich ohne weiteres in die Unterhaltung und wiederholt dies drei- bis viermal. Gefällt man ihr, so besucht man sie, und nach vierzehn Tagen, wenn man das erstemal mit ihr in der Gondel sitzt, hat man sie lieb.

Das ist nicht der Traum eines jungen, ahnungslosen Gecken, sondern das strenge Ergebnis der Erfahrung. Am Sonntag machte Bald... der hübschesten Frau, die wir sahen, einem jungen Mädchen, schöne Augen, und zwar sehr dreist, ja in meinen Augen sehr lächerlich. Aber lächerlich waren nur meine nordischen Skrupel. Am Ende der Gesellschaft, als sie an ihm vorbeikam, machte sie ihm Zeichen.

Die Eitelkeit wird hier nicht durch die Equipage des Herrn Maruzzi,Ein reicher, in Venedig lebender Russe. Vgl. »Reise in Italien«, 208 ff., 447 ff. des reichsten Bankiers, verletzt. Er hat nur eine Gondel wie ich, und niemand sieht ihn je darin. Man trifft sich auf der Piazza San Marco und sieht sich die schönsten Frauen aus der Nähe an. Ihnen vorgestellt zu werden ist kein Mysterium wie in andern Ländern, Trotz meiner Liebe zur Einsamkeit würde ich binnen Jahresfrist ganz Venedig kennen, d.h. etwa hundert der hübschesten Frauen. Danach trifft man seine Wahl. Sich am Vormittag ernstlich zu beschäftigen, ist hier gar nicht lächerlich, ganz im Gegenteil.

Mein Glück besteht darin, inmitten einer großen Stadt einsam zu sein und alle Abende mit meiner Geliebten zu verbringen. Diese Bedingungen erfüllt Venedig vollkommen. Allerdings sieht der arme Fremde, der in einer Stadt weder Geliebte, noch Freunde, noch Kunstleidenschaft besitzt, sie nicht in so verführerischem Lichte.

Langweilt sich das Publikum, so stößt es ihn ab; amüsiert es sich, so verdrießt es ihn. Auch Herr F. empfindet die Leere des Fremdseins.

Ich habe die Gelegenheit, nach Padua zurückzukehren, eifrig ergriffen; ich fahre morgen mit Bald ... ab. Ich war in Venedig zur Zeit der größten Hitze und habe nicht den geringsten schlechten Geruch bemerkt, wohl aber den südländischen Mangel aller kleinen Bequemlichkeiten. Ich schreibe mit einer Feder, die mit der Nagelschere geschnitten ist, und mit abscheulicher Tinte. Kein Federmesser im ganzen Hotel, dem ersten des Landes.

Montag, 25. Juli 1825.

Im Cafe Florian las ich das Unglück und die Schmach Frankreichs. Ich meine den Einzug des KönigsLudwig XVIII. war zwei Tage nach den Alliierten in Paris wieder eingezogen. und seine ersten Handlungen. Die Partei der Dunkelmänner triumphiert. Geht hin und seht euch das an, würde ich zu den deutschen Philosophen sagen, die so gegen Bonaparte wettern, wenn sie so viel Geist hätten, mich zu verstehen. Mir bleibt nur ein Wunsch: daß die feigen Pariser von den bei ihnen einquartierten preußischen Soldaten tüchtig schikaniert werden. Die Feiglinge! Man kann Unglück haben, aber nicht die Ehre verlieren!

Die BastardeAnspielung auf seinen Vater (vgl. S. 422), der Anhänger der Bourbonen war. müssen recht zufrieden sein. Frankreich wird nur glücklich sein, solange es von einem illegitimen Fürsten beherrscht wird, d.h. von einem, der seine Stellung der Verfassung verdankt.

Um mich über das große Unglück zu trösten, das die menschliche Vernunft betroffen hat, habe ich eine Rundfahrt um ganz Venedig gemacht. Um zwei Uhr habe ich an der Piazetta eine Gondel genommen, bin um die Landspitze der Gärten gefahren und schließlich am Eingang zum Canale grande geendet.

Es wird lange dauern, bis ich in ein Land ohne Freiheit und Ruhm zurückkehre. Ich glaube deutlich zu erkennen, daß Venedig der passendste Aufenthalt für mich ist. Heute abend reise ich mit meinen beiden liebenswürdigen Reisegefährten ab. Alles in allem beginnt meine Reisepassion abzuflauen. Das Neue ergreift meine Seele nicht mehr mit ganzer Macht.

Wenn ich nicht vier bis fünf Stunden gearbeitet habe – allerdings ist es nur ein Aufreihen von Perlen –, bin ich den Rest des Tages nicht recht zufrieden. Auf Reisen fehlt mir die Arbeit. Demnächst sagt mir am meisten eine fröhliche Gesellschaft zu, in der ich nicht die erste Rolle spiele. Der Anblick des Schmutzes, den die Menschheit unter schwierigen Verhältnissen gewährt, kurz alles, was ich in Rußland gesehen habe, verleidet mir alle etwas gefahrvollen Reisen. Ich möchte nicht mehr nach Amerika, kaum noch nach Konstantinopel. Von Italien fehlt mir nur noch Ferrara. Die Schweiz will ich mir einmal auf der Rückreise nach Paris ansehen. An Wichtigem fehlt mir nur noch England, aber auf dies Land der Puritaner brenne ich nicht. Was ich von ihnen gehört habe, und die Geschichte der Stuarts von Hume, die ich eben in Mailand las, um mich über die Schlacht bei Belle-Alliance zu trösten, hat mich abgestoßen.

Zum erstenmal im Leben fühle ich wahre Vaterlandsliebe. Ich liebe zwar die platten heutigen Franzosen nicht, aber es tut mir leid um das, was sie in fünfzig Jahren hätten sein können. Ich schätze mich glücklich, unter der weisen Regierung des Hauses Österreich zu leben. Zudem kann nichts, was hier geschieht, mich berühren. Ich bin wie ein Reisender auf einem Schiff. Die Hauptsache ist Ruhe und ein gutes Theater.

Padua, 26. Juli 1815.

In Venedig langweilte ich mich. Die Nähe der Personen, die in Padua sind, hat mich nicht zum Kunstgenuß kommen lassen. Nächstdem kann man nichts anderes tun, als eine Liebschaft anzufangen. Sonst hat man nicht mehr Vergnügen als ein Mensch, der bei einem Souper zusieht, ohne zu essen. Ich war also sehr zufrieden, als ich gestern um Mitternacht die Barke bestieg. Für vierzehn Lire sind wir mit unserm Gepäck bis La Mira zu Wasser gefahren. Dort haben wir für weitere vierzehn Lire zwei Sediolen, eine für uns, eine für das Gepäck, genommen und sind um acht Uhr in Padua angelangt.

Ich wurde mit größter Natürlichkeit und großer Zärtlichkeit empfangen. Ich bin höchst zufrieden mit meiner Reise, obwohl ich wahrscheinlich morgen abend wieder abreisen muß. Die Gräfin Simonetta kommt Sonntag nach Venedig. Sie sagte mir, seit sie aus meinem Briefe ersehen hätte, daß Venedig mir mehr zusagte als Padua, hätte sie nicht mehr an Padua gedacht. Das merkwürdigste dabei ist, daß dies wahr zu sein scheint. Wenn solche Aufrichtigkeit zwischen uns herrscht, bliebe mir nichts mehr zu wünschen.

27. Juli.

Der liebenswürdige ... redet nicht mit mir, aber er blickt Gina traurig an, obwohl sein Gesicht heiter ist. Das besagt, daß er eifersüchtig ist. Hat er ein Recht dazu, oder sind es lediglich enttäuschte Hoffnungen?

Heute vormittag ging ich zur Gräfin Simonetta. I have had her,Ich habe sie besessen. aber sie sprach etwas von unseren Verabredungen. Die Illusion von gestern morgen war dahin. Ich hatte kein Vergnügen dabei. Bei mir tötet die Politik die Wollust, offenbar, weil sie alle Nervenkraft in das Gehirn zieht. Montag früh kommt sie nach Venedig, eine angenehme Gesellschaft für mich. Schade, daß sie nicht einen Eingeborenen mit hat, der gut redet, um ihr die Stadt zu zeigen. Das Fehlen eines solchen kann ihr eine der heitersten Städte Europas verleiden.

23. August 1815.

Bruch.Der endgültige Bruch mit Angela erfolgte erst im Dezember 1815, nachdem er sie durch Verrat ihrer Kammerzofe auf frischer Tat bei einer Untreue ertappt hatte. (Chuquet 156.) – Im letzten Jahrhundert war man der Durchschnittsmeinung voraus, wenn man auf den heiligen Paulus schalt. Im jetzigen wird den Titel Philosoph verdienen, wer die Zweckmäßigkeit der unebenbürtigen Herrscher nachweist und den Menschen klar macht, daß es außer der englischen Verfassung kein Heil gibt.

Träumerei am Gestade bei Genua

Recco, 8. September 1816.

Man feierte das Fest der Madonna in Recco. Ich bin mit den jungen Töchtern des früheren Dogen S... hingeritten, die in Flandern in einem Kloster erzogen sind. Wir waren unser zehn, alle auf Eseln; wir führten uns selbst ein Theater auf, während wir auf der schmalen Straße am Meeresstrand ritten, die immerfort bergauf und bergab über die Vorgebirge führt, deren Spitzen die Wellen benetzen. Eine tolle, echt italienische Lustigkeit ohne jede Ziererei.

Ich benutze diese Freiheit, verlasse den Schwarm bei der Ankunft in Recco und gehe zu Fuß am Strande hin. Ich habe einst bedauert, nicht in Italien geboren zu sein. Aber was ist sinnloser, als sich die Seele durch Ereignisse vergiften zu lassen, die nun einmal stattfinden mußten!... Wäre es nicht tausendmal besser, nicht an diese Ereignisse zu denken wie die jungen Italienerinnen? Was ist für jeden Menschen Wirklichkeit, wenn nicht sein eignes Dasein? Und ich sollte die kurze Spanne zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Jahr, die ich ganz für mich habe, mit Tränen und Seufzern verlieren, weil gewisse Ereignisse in der ewigen Verkettung des Schicksals stattgefunden haben? Was ist schwächlicher, was lächerlicher?

Ich habe kein Bedauern für meine verflossenen Ehren und Würden, nur Bedauern für das Unglück der Menschheit. Aus falscher Philosophie spottet man über die Unwissenheit der Italiener, aber bei etwas mehr Lebenserfahrung beneidet man diese glückliche Unwissenheit. Die Geschichte ist für sie weiter nichts als die Daten der Ereignisse und der Todesjahre der Päpste; sie haben nicht das Unglück gehabt, die Menschheit zu lieben. Sie glauben fest, daß alles in hundert Jahren genau so sein wird wie hundert Jahre zuvor, und dieser glückliche Irrtum nimmt ihren Seelen alle Bangigkeit. Geschichte und Mythologie ist für Italiener das gleiche, etwas, das man wissen muß, um in der Gesellschaft nicht unangenehm aufzufallen. All ihr Denken gilt der Gegenwart und dem Liebesglück.

Diese Gedanken haben mich über eine Stunde weit von Recco fortgeführt, am Fuße der einsamen Berge. Die Sonne ist untergegangen. Ich habe mich an den Meeresstrand gesetzt; der Wogenschaum bricht sich zu meinen Füßen. Ein Schritt weiter, und ich bin nicht mehr. Ich sitze am Rande der Ewigkeit.

Der westliche Himmel ist dunkler geworden, der Mond ist aufgegangen. Die Bitterkeit meines Kummers ist verschwunden, und ich finde zwei Stunden eines Glückes, das gewiß düsterer ist, aber die ganze Seele mehr erfüllt als das Glück unsrer jungen Italiener. Sie wissen nicht, was es heißt, sein Leben ohne Liebe zu verbringen, ein Wanderleben zu führen, alle vierzehn Tage den Wohnort zu wechseln, alle Wallungen der Jugend für eine edle Sache oder für das, was man dafür hält, zu opfern. Das alles ist für sie Mythologie...

Und dann, sagte ich mir, habe ich einen falschen Lebensweg eingeschlagen. Noch acht bis zehn Jahre, und das Glück, nach dem ich mich sehne und das ich doch nicht verfolge, wird für mich auf immer vorüber sein. Wer denkt mit vierzig Jahren noch an Liebe!

Die schönsten Erinnerungen des Menschengeschlechts und seine tiefste Sehnsucht knüpfen sich an die Küsten, die vor mir liegen. Alles, was die Menschheit an Freiheit, Glück, Macht über die Natur und Wissen besitzt, führt uns, wenn wir seinem Ursprung nachgehen, zu diesen zaubervollen Gestaden des Mittelmeers.

Aber der Geist des Christentums und sein geheimer Verbündeter, der Geist des Despotismus, brachten das schlimmste Unglück über diese Küsten von Spanien bis Griechenland, die unter der Herrschaft des olympischen Zeus und des delphischen Apollo ebenso glücklich durch ihre Lebensgewohnheiten wie durch ihr Klima gewesen sind...

Ich höre das Knallen der Flinten und Moltarelli (Böller), die die habsüchtigen und räuberischen Bewohner zu Ehren der Madonna abfeuern. Es stört kaum die Einsamkeit dieser Berge, die zur Zeit des Augustus und Tiberius so stark bevölkert und von einem so glücklichen Volke bewohnt waren.

Nein, die Gestade keines andern Meeres besitzen diesen Reiz heroischer Erinnerungen. Wie viel größer wird der Reiz der Heldengeschichte des Marschalls Ney durch seinen Tod!Der Marschall Michel Ney war am 7. Dezember 1815 erschossen worden, weil er bei der Rückkehr Napoleons von Elba zu diesem übergegangen war. Napoleons und Frankreichs Unglück waren der einzige Zauber, der diesen erhabenen Gefährten unserer Jugendzeit fehlte. Als Künstler bin ich fast versucht, mich über die Schlacht bei Waterloo zu freuen. »So also«, werden künftige Geschlechter sagen, »ging der Mann unter, der uns vor achtzehnhundert Jahren Christentum und Feudalwesen erlösen wollte!«

Zur Vorbereitung dieses großen Tages verschwand überall das Verbrechen; Raub und Mord wurden an denselben Gestaden bestraft, wo man heute mit einem Räuberhauptmann verhandelt.

Um 1900 wird Europa nur ein Gegenmittel für die ungeheure Volkszahl und die tiefe Vernunft Amerikas haben: nämlich seine Zivilisation auf Kleinasien, Griechenland und Dalmatien auszudehnen, d.h. ihnen die gleiche Stufe der Freiheit zu geben, die in Pennsylvanien herrscht.

Es ist zehn Uhr. Das Schauspiel wird jeden Augenblick herrlicher. Der strahlende Mond steht mitten am funkelnden Himmel.

Ich habe keine andere Waffe als meinen Dolch. Wenn die Bauern vom Fest der Madonna zurückkehren und einer Signore in so schöner Lage finden, würden sie ihn gewiß ohne Zaudern ins Meer werfen... Ich gehe fort.

9. September.

Gestern abend um elf Uhr kehrte ich nach Recco zurück. Eine Miglie vor dem Dorfe traf ich die Damen, hörte den Klang der Pfeifen und Klarinetten. Das Dorf war reich illuminiert. Man machte mir ernstliche Vorwürfe wegen meiner Unvorsichtigkeit. Eine Dame, die mich auf dem ganzen Wege herausfordernd geneckt hatte, nötigte mich zum Tanzen. Das währte bis zwei Uhr früh. Endlich Souper.

Heute schäme ich mich fast über meine Bleistiftaufzeichnungen von gestern abend und noch mehr über die Gefühle, die mich ergriffen hatten und für die ich keinen Ausdruck fand. Nach solchen Ekstasen der Schwermut bin ich linkisch und schüchtern. Die junge, schöne zwanzigjährige Sposa, die ich nicht kannte und die ich in Genua nicht wiedersehen kann, hat mir unglaublich herausfordernde Bemerkungen gemacht, und ich stand mit offenen Augen ganz blöde da, als wäre ich aus dem Mond gefallen. Morgen denkt sie vielleicht nicht mehr an mich, ja sie macht sich wohl gar über mich lustig, wenn ich mir einbilde, daß es morgen ebenso sein wird wie gestern. Die Sinnenliebe ist wie der Ruhm in der Armee; sie läßt sich nur einen Augenblick erfassen.

Begegnung mit Lord Byron (1816)Aus einem Brief an Louise Swanton Belloc (»Correspondance«, II, 342 ff.). Vgl. die etwas abweichende Darstellung in den »Erinnerungen an Lord Byron« (»Reise in Italien«, S. 416 ff.). Byron weilte mit seinem Freund Hobhouse vom 12. Oktober bis 3. November 1816 in Mailand.

Im Herbst 1816 lernte ich Lord Byron im Scalatheater in Mailand in der Loge des Herrn Lodovico di Breme kennen. Tiefen Eindruck machten mir seine Augen, als er ein Sextett aus der Oper »Elena« von Mahr anhörte. Nie im Leben habe ich etwas Schöneres und Ausdrucksvolleres gesehen. Noch jetzt, wenn ich mir überlege, welchen Ausdruck ein großer Maler dem Genius geben sollte, taucht dieser herrliche Kopf plötzlich wieder vor mir auf. Einen Augenblick war ich voller Begeisterung, und vergaß den berechtigten Widerwillen jedes etwas stolzen Mannes, sich einem englischen Peer vorstellen zu lassen. Ich bat Herrn di Breme, dies zu tun.

Am nächsten Tage speiste ich mit Lord Byron und dem berühmten Monti,Über Vincenzo Monti (1754–1828) und seine Werke s. »Reise in Italien«, S. 411 ff. dem unsterblichen Verfasser der »Basvigliana«. Das Gespräch drehte sich um Poesie; man fragte sich, welches die zwölf schönsten Verse seien, die seit einem Jahrhundert auf französisch, italienisch und englisch gedichtet seien. Die anwesenden Italiener nannten einstimmig die zwölf ersten Verse von Montis »Mascheroniana«. Monti war so gütig, sie uns aufzusagen. Ich beobachtete Lord Byron; er war entzückt. Der Anflug von Hochmut, der sein schönes Antlitz etwas entstellt, verschwand sofort und machte dem Ausdruck des Glückes Platz. Durch den Beifall seiner Zuhörer hingerissen, sagte Monti fast den ganzen ersten Gesang der »Mascheroniana« auf. Er machte dem Dichter des »Childe Harold« den lebhaftesten Eindruck. Nie werde ich den göttlichen Ausdruck seiner Züge vergessen; es war die heitere Miene der Macht und des Genies. In jenem Augenblick hatte Lord Byron sich keine Affektiertheit vorzuwerfen.

Man verglich die tragischen Systeme von Alfieri und Schiller. Lord Byron fand es höchst lächerlich, daß Don Carlos in Alfieris »Philipp II.« schon in der ersten Szene ohne jede Schwierigkeit ein Gespräch unter vier Augen mit der Gemahlin des argwöhnischen Philipp hat. Monti, der als Schaffender so genial ist, brachte über die Theorie so seltsame Begründungen vor, daß Lord Byron seinem Nachbar»Monti philosophierte eines Tages über die Theorie der Dichtkunst in Gegenwart des berühmten Lord Byron und des Historikers Hobhouse. Er richtete das Wort an mich und gab alle alten Theorien zum besten. Es sei besser, daß der Dichter schildere, wie Minerva den Arm des Achill hemmt, als einen Helden in allen Ängsten des Zornes oder im Ringen mit einem Entschluß darzustellen. Da rief Hobhouse plötzlich aus: »He knows not, how he is a poet.« Brief Stendhals an Louis Crozet vom 31. Dezember 1816). – John Cam Hobhouse, Lord Broughton (1786–1869), liberaler Staatsmann, Schulgefährte und Reisebegleiter Byrons, der ihm den 4. Gesang seines obenerwähnten »Childe Harold« widmete. ins Ohr flüsterte: »He knows not how he is a poet.« (Er weiß nicht, wie sehr er Dichter ist.)

Von jenem Tage an verbrachte ich fast alle Abende mit Lord Byron. Allemal, wenn dieser eigenartige Mann in Stimmung war und mit Begeisterung sprach, waren seine Ansichten edel, groß, hochherzig, kurz auf der Höhe seines Genius. Aber in den prosaischen Augenblicken des Lebens schienen mir die Ansichten des Dichters auch sehr gewöhnlich. Es mischte sich viel kleinliche Eitelkeit hinein, eine stete kindische Angst, lächerlich zu erscheinen, und bisweilen, wenn ich so sagen darf, jene Heuchelei, die die Engländer cant nennen. Und mir schien, daß Lord Byron stets bereit war, einen Kompromiß zu schließen, um ein Lob zu ernten.

Etwas, das besonders den Italienern auffiel, war, wie leicht zu erkennen war, daß dieser große Dichter viel stolzer darauf war, ein Nachkomme der normannischen Byrons zu sein, die Wilhelm dem Eroberer nach England folgten, als »Parisina« und »Lara« gedichtet zu haben. Ich hatte das Glück, seine Neugier zu erregen, indem ich ihm persönliche Einzelheiten über Napoleon und den Rückzug aus Rußland gab, die im Jahre 1816 noch kein Gemeinplatz waren. Diese Art von Verdienst verschaffte mir den Vorzug, mit ihm allein mehrmals in dem riesigen, leeren Vestibül der Scala auf und ab zu promenieren. Der große Mann erschien allabendlich eine halbe Stunde lang; dann entspann sich die schönste Unterhaltung, die ich in meinem Leben gefunden habe, ein Vulkan neuer Ideen und hochherziger Ansichten, so eng verstrickt, daß man diese Ansichten zum erstenmal zu genießen wähnte. Den Rest des Abends war der große Mann derart Engländer und Lord, daß ich mich nie entschließen konnte, eine Einladung zum Diner bei ihm anzunehmen, obwohl er sie von Zeit zu Zeit wiederholte. Er arbeitete damals an seinem »Childe Harold«; jeden Morgen schrieb er hundert Verse, die er am Abend auf zwanzig bis dreißig zusammenstrich. Zwischen diesen beiden Arbeiten hatte er ein Bedürfnis nach Ruhe. Diese notwendige Zerstreuung fand er, indem er nach Tisch plauderte, mit aufgestemmten Ellbogen und, wie man sagte, mit liebenswürdigster Natürlichkeit.

Ich bemerkte, daß Lord Byron in seinen genialen Augenblicken Napoleon bewunderte, wie dieser Corneille bewunderte. In den gewöhnlichen Augenblicken, wo Lord Byron sich als vornehmer Herr fühlte, suchte er den Verbannten von Sankt Helena lächerlich zu machen. Er beneidete Napoleon um die glänzenden Seiten seines Charakters; seine erhabenen Worte ärgerten ihn. Es verdroß ihn, als wir an die berühmte Ansprache an die Truppen bei der Expedition nach Ägypten erinnerten: »Soldaten, bedenkt, daß vierzig Jahrhunderte von diesen Pyramiden auf euch herabblicken!« Lord Byron hätte es Napoleon eher verziehen, wenn er das etwas spießbürgerliche Wesen Washingtons gehabt hätte. Das Spaßigste war, daß es nicht das Despotische in Napoleons Charakter war, was den englischen Peer abstieß.

Eines Abends, als Lord Byron mir die Ehre erwies, im Vestibül der Scala mit mir zu promenieren, wurde ihm gemeldet, daß der wachthabende österreichische Offizier seinen Sekretär Polidori, einen Arzt, verhaftet hätte. Sofort nahm Lord Byrons Antlitz eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Ausdruck Napoleons an, wenn er in Zorn geriet. Sieben bis acht Personen begleiteten ihn nach der Wachtstube; seine verhaltene Entrüstung und Energie während der vollen Stunde, die die plebejische Wut des Österreichers dauerte, war prachtvoll. Bei der Rückkehr in die Loge des Herrn di Breme begann man die aristokratischen Grundsätze zu preisen, die gewöhnlich sehr nach dem Geschmack Lord Byrons waren. Er war empfindlich gegen den Scherz und verließ die Loge voller Wut, aber ohne im mindesten gegen den Ton vollendeter Höflichkeit zu verstoßen.

Kurz darauf veranlaßte mich Herr di Breme, Lord Byron ins Breramuseum zu führen. Ich bewunderte die Tiefe, mit der dieser große Dichter die gegensätzlichsten Maler begriff, Raffael, Guercino, Luini und Tizian. »Hagars Verstoßung« von Guercino elektrisierte ihn. Seit diesem Augenblick ließ die Bewunderung uns verstummen; eine Stunde lang improvisierte er und nach meiner Ansicht besser als Frau von Staël.

Was mich an diesem eigenartigen Manne am meisten betroffen machte, besonders wenn er über Napoleon herzog, das war, daß er – wenigstens nach meiner Meinung – keine wirkliche Menschenkenntnis besaß. Sein Stolz, sein Stand, sein Ruhm hatten ihn bisher daran gehindert, mit Menschen wie mit Gleichstehenden zu verkehren. Sein Hochmut und sein Mißtrauen hatten sie ihm stets zu weit vom Leibe gehalten, um sie beobachten zu können; er war zu gewohnt, nichts zu unternehmen, was er nicht siegreich durchführen konnte. Dafür beobachtete man bei ihm eine Menge feiner, richtiger Ideen, wenn man auf die Frauen kam, mit denen er verkehrte, denn er hatte das Bedürfnis, ihnen zu gefallen und sie zu betrügen. Er beklagte die Engländerinnen, die Frauen in Genf, Neuchâtel usw. Was seinem Genie abging, war, daß er es niemals nötig gehabt hatte, mit Gleichstehenden zu unterhandeln und zu diskutieren. Wäre er aus GriechenlandLord Byron ging 1823 nach Griechenland, um sich an dem Freiheitskampfe gegen die Türken zu beteiligen. Er starb 1824 in Missolunghi. zurückgekehrt, so hätten seine Talente nach meiner Überzeugung plötzlich um die Hälfte zugenommen. Durch Friedensvermittlung zwischen Mavrokrodato und Kolokotronis hätte er positive Kenntnisse über das Menschenherz erworben. Dann hätte Lord Byron sich vielleicht zur Höhe der echten Tragödie erhoben. Er hätte weniger Anwandlungen von Menschenverachtung gehabt, hätte nicht stets gewähnt, daß seine ganze Umgebung sich mit ihm beschäftigte, um ihn zu beneiden oder zu betrügen. Die Anlage zum Misanthropen, die dieser große Mann hatte, war durch die englische Gesellschaft auf die Spitze getrieben worden. Wie seine Freunde bemerkten, wurde er um so glücklicher und gütiger, je mehr er mit Italienern verkehrte. Setzt man an Stelle seiner finsteren Laune kindische Wutanfälle, so wird man finden, daß Lord Byrons Charakter auffällige Verwandtschaft mit dem Voltaires aufweist.


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