Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Jugendfreundschaft

Rom, 6. bis 10. Januar 1836.

Zu jener Zeit freundete ich mich, wie, weiß ich nicht, mit François Bigillion an (der später Selbstmord beging, ich glaube, aus Verdruß über seine Frau).Er lernte François Bigillion in der Kirche Saint-André bei einer republikanischen Feier kennen. (Arbelet, Jeunesse, I, 371). François Bigillion war 1782 geboren, sein unten genannter Bruder Rémy 1784, die Schwester Viktorine 1783. Er war schlicht, natürlich, aufrichtig und prahlte nie mit seinen »Erfahrungen« mit der Welt und den Frauen. Das war nämlich unser großer Ehrgeiz und unsere Hauptnarrheit in der Schule. Jeder von diesen Schlingels wollte den andern weismachen, er hätte Frauen besessen und kennte die Welt. Nichts dergleichen tat der gute Bigillion. Wir machten zusammen lange Spaziergänge, besonders nach der Tour de Rabot, einem alten Turm, und der Bastille, die in verschiedener Höhe auf dem Berge lagen, der die Stadtwälle umschließt. Der herrliche Blick von dort, besonders gegen Eybens, dahinter die hohen Alpenketten, erhob unsere Seele.

Auf diesen Spaziergängen teilten wir uns ehrlich alles mit, was wir von jenem wilden, düsteren und köstlichen Walde hielten, den wir alsbald betreten sollten. Ich meine die Welt und die Gesellschaft. Bigillion hatte den großen Vorzug vor mir, daß er von klein auf frei gelebt hatte. Sein Vater liebte ihn nicht übermäßig und hatte andre Freuden als die, seinen Sohn zu seinem Spielzeug zu machen. Dieser Vater war ein sehr wohlhabender Ackerbürger aus Saint-Ismier, einem Dorf östlich von Grenoble in schöner Lage im Isèretal. Er aß und trank gern gut und vergnügte sich mit den Bauerndirnen. In Grenoble hatte er eine Wohnung für seine beiden Söhne gemietet, die dort erzogen wurden. Der ältere wurde nach Landesbrauch Bigillion genannt, der zweite Rémy. Das war ein witziger, wunderlicher Bursche, ein echter Dauphineser, aber hochherzig und etwas eifersüchtig auf seines Bruders Freundschaft mit mir. Da diese Freundschaft völlig ehrlich war, wurde sie binnen vierzehn Tagen intim.

Bigillions Oheim war ein gelehrter Mönch und, wie mich dünkt, sehr wenig Mönch; der gute Pater Morlon war, glaube ich, Benediktiner. Was mich überraschte, war sein sanftes und höfliches Wesen, so ganz anders als die Rauhbeinigkeit der trübsinnigen Schulfüchse, wie der Abbé Raillane, denen mein Vater mich zumeist ausgeliefert hatte. Dieser gute Pater war von großem Einfluß auf meinen Geist. Er besaß Shakespeare in der Übersetzung von Letourneur, und sein Neffe lieh sich bei ihm für mich nacheinander alle achtzehn oder zwanzig Bände dieses großen Werkes aus.

Bei dieser Lektüre fühlte ich mich wie neugeboren. Zunächst besaß sie den gewaltigen Vorteil, daß meine Angehörigen mir Shakespeare nie gerühmt und anempfohlen hatten, wie Racine. Denn es genügte, daß sie etwas lobten, um es mir gründlich zu verleiden. Damit nichts an Shakespeares Macht über mein Herz fehlte, schalt mein Vater, glaube ich, auch noch auf ihn ... Von 1796 bis 1799 habe ich ständig Shakespeare gelesen. Racine, den meine Verwandten immerfort priesen, erschien mir als platter Heuchler. Mein Großvater hatte mir die Anekdote erzählt, daß er gestorben sei, weil Ludwig XIV. ihn nicht mehr anblickte. Außerdem verdrossen mich seine Verse, weil sie die Sätze dehnten und sie um ihre Deutlichkeit brachten. Das Wort »Renner« statt Pferd war mir abscheulich; ich nannte das Heuchelei ...

Corneille mißfiel mir schon weniger. Die Schriftsteller, für die ich damals bis zum Wahnsinn schwärmte, waren Cervantes (»Don Quichotte«) und Ariost (alle beide in Übersetzung). Gleich darauf kam Rousseau, der aber das doppelte drawback (Nachteil) hatte, daß er die Priester lobte und von meinem Vater gelobt wurde. Mit Wonne las ich La Fontaines Fabeln und »Félicia«, doch das waren keine »literarischen Genüsse«. Ich las sie sozusagen nur mit einem Auge ... Als ich 1824, zu der Zeit, wo ich mich in Clementine verliebte, meine Seele nicht durch den Anblick ihrer Reize schwach werden lassen wollte, schrieb ich »Racine und Shakespeare«. Man beschuldigte mich damals des Komödienspiels und der Verleugnung meiner ersten Kindheitseindrücke.Auch der Stendhalforscher A. Chuquet bezweifelt diese frühe Abneigung gegen Racine, da Beyles Tagebuch von 1804 (9. Floreal) noch voller Bewunderung Racines ist. Hier sieht man nun, wie wahr es war (ich hütete mich, es zu sagen, weil es mir keiner geglaubt hätte), daß meine erste Liebe Shakespeare gegolten hatte, unter andern »Hamlet« und »Romeo und Julia«.

Die Bigillions wohnten, wenn ich nicht irre, in der Rue Chenoise, gegenüber dem Oratorium, in dem mein Vater und Herr Colomb, der Vater meines ältesten Freundes, ein paar Tage lang gefangen gesessen hatten.Dort hatte sich Beyles Vater vielleicht verborgen gehalten, aber gewiß war er dort nicht eingekerkert worden. Colombs Vater war in der Conciergerie eingekerkert. (Anmerkung Colombs.) Dort war ein berühmter Antiquar, den ich oft besuchte. Die Wohnung lag im dritten Stock; dort hausten die beiden Brüder mit ihrer Schwester Viktorine, einem sehr hübschen, sehr schlichten Mädchen von durchaus ungriechischer Schönheit. Sie hatte vielmehr ein völlig allobrogisches Gesicht; heute nennt man das wohl gallische Rasse.

Fräulein Viktorine besaß Geist und dachte viel nach; sie war äußerst frisch. Ich leistete ihr und ihren Brüdern oft Gesellschaft beim Nachtessen, das ihnen eine schlichte Bauernmagd anrichtete. Sie aßen Graubrot, was mir unbegreiflich dünkte, denn ich war nur an Weißbrot gewöhnt.

Das war mein ganzer Vorzug ihnen gegenüber; für sie war ich von höherem Stande; der Enkel des Herrn Gagnon, Mitglieds der Schulkommission, war adlig und sie Ackerbürgerskinder ... Wir saßen in aller Harmlosigkeit zu viert um den mit einem Tischtuch aus ungebleichter Leinwand bedeckten Tische, aber noch halbe Kinder, von keinem Erwachsenen gestört. Wir lebten miteinander wie junge Kaninchen, die im Walde äsen und spielen. Viktorine spielte die Hausfrau; sie hatte getrocknete Weintrauben, die sie in einem zugebundenen Weinblatt aufhob; die liebte ich fast ebenso wie ihr hübsches Gesicht. Manchmal bat ich sie um eine zweite Traube, aber sie verweigerte sie mir oft mit den Worten: »Wir haben nur noch acht und müssen für die Woche ausreichen.« Allwöchentlich ein- bis zweimal wurden die Vorräte aus Saint-Ismier gebracht, wie es in Grenoble Brauch ist ...

Ich liebte Viktorine nicht; dazu war mein Herz noch zu wund von Fräulein Kablys Abreise, und ihrem Bruder stand ich so nahe, daß ich ihm meine Torheit aus Furcht vor Spott kurz und bündig gestanden hatte. Er nahm es mir gar nicht übel, denn er war der beste und schlichteste Mensch, dazu mit dem klügsten gesunden Menschenverstand begabt. Noch weit mehr davon besaß sein Bruder und Busenfreund Rémy, eine kalte Natur, der manchmal den ganzen Nachmittag den Mund nicht auftat.

In diesem dritten Stockwerk habe ich die glücklichsten Tage meines Lebens verbracht. Gegen Viktorine war ich sehr schüchtern; ich bewunderte ihren keimenden Busen, vertraute ihr aber alles an, z. B. die Verfolgungen, die ich durch Seraphie erduldet hatte und die ja noch kaum hinter mir lagen. Wie ich mich erinnere, wollte sie mir das nicht glauben, was mich tief schmerzte. Sie ließ durchblicken, daß ich einen schlechten Charakter hätte.


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