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Ich beginne dies Heft mit der ganzen Demut, die ein guter Christ verlangen kann. Das Abenteuer mit M[inette]Minna (Wilhelmine) v. Griesheim (1786-1861), eine Tochter des Generals August Heinrich Ernst v. Griesheim (1757–1810). Sie starb als Stiftsdame zu St. Marien in Pr.-Minden. ist eine verlorene Schlacht: das wird mich lehren, den Wert der Zeit zu schätzen. Hat sie mir auch keinen holden Augenblick geschenkt, wie AdeleAdele Rebuffet. »Einer der köstlichsten Augenblicke meines Lebens«, schreibt Beyle in seinem »Journal« (18. August 1804), »war, als Adele sich bei dem Feuerwerk in Frascati [Vergnügungspark] auf meinen Arm stützte. Es war wohl im Jahre X.« (1802.) Vgl. die Aufzeichnung vom 29. Juli 1802. in Frascati, so habe ich doch manche köstliche Stunde mit ihr verlebt.
Je ne veux en aimant que la douceur d'aimer.
Dieser Vers trifft für meine Seele fast zu, wenn auch nicht für meinen Stolz, der mich seit Donnerstag in schlechte Laune versetzt hat...
Ich will unverzüglich reiten lernen... Ich habe mich im Pistolenschießen geübt; ich habe etwa zehnmal geschossen, höchstens sieben- bis achthundert Schuß.
M[inette] sagte: »Es wäre sehr undankbar von mir, wenn ich ihn nicht liebte. Er liebt mich ja schon so lange...«
17. Juni 1807.
Konzert im »Grünen Jäger«, nachdem ich Fräulein von T[reuenfels]In den weiter unten genannten »Briefen einer Braut« wird um diese Zeit eine aus Breslau angekommene Familie v. Treuenfels erwähnt, die mit der Familie v. Griesheim intim verkehrte. Die älteste Tochter, Minette v. Treuenfels, besaß »unendlich viel Verstand«. begleitet hatte... Minette war reizend anzusehen.
Wir haben mit der Pistole geschossen, Str[ombeck]Freiherr Friedrich Karl v. Strombeck (1771–1848), seit 1799 Hof- und Abteirat und verheiratet mit Amalie v. Bülow, wurde 1810 Präsident des Man kann sich ein bis zwei Monate verstellen, aber der wahre Charakter bricht doch wieder durch. Ich werde es nicht darauf anlegen, viele Frauen zu besitzen. Martial [Daru] hat vom achtzehnten bis einunddreißigsten Jahre etwa zweiundzwanzig Frauen besessen, zwölf davon nach einem richtigen Liebeshandel. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und werde in den nächsten zehn Jahren vielleicht sechs Frauen besitzen. Dagegen werde ich zwanzig Pferde besitzen, bis mir das Alter das Reiten verbietet. und ich, dreißig Schuß, ich sehr schlecht.
Donnerstag, 18. Juni.
Minette sagte beim IntendantenAppellationsgerichts in Celle, 1813 Geheimrat in Kassel. Er hat in jenen ›Darstellungen aus meinem Leben und meiner Zeit‹ (Braunschweig 1833) Erinnerungen an Stendhal hinterlassen. (Näheres in der Einleitung dieses Bandes). Ausführlich handelt über ihn und seine Tätigkeit in der Literatur wie im Staatsdienst die Monatsschrift ›Zeitgenossen‹, V, 3 S. 143 ff. (Leipzig 1821). zu mir: »Sie haben mir neulich ein paar Fragen gestellt. Nun darf ich Ihnen wohl eine Frage stellen. Meinen Sie es mit Fräulein von T[reuenfels] ernst oder halten Sie sie zum besten?«
»Damit ich Ihnen jetzt antworten könnte, hätten Sie mir neulich eine andere Antwort geben müssen. Ich habe Sie leidenschaftlich geliebt und liebe Sie noch; es gibt kein Opfer, keine Torheit usw. ... (Leidenschaftliche Liebeserklärung, die sie zweifellos mit selbstgefälliger Freude anhörte.) Werden Sie mich noch empfangen, wenn Sie erst Frau von Heerdt sind?«
»Gewiß, aber das hat noch gute Weile.«
Der Zukünftige kam dazu und machte unserem Gespräch ein Ende. Das beweist, daß ich noch nicht zu den Gleichgültigen zähle und daß sie für H[eerdt] keine Leidenschaft empfindet.
Ich war zu Beginn der Gesellschaft sehr geistreich, aber in lächerlicher Weise, wie Desmazure. Wirklicher Geist wäre höchstens von Frau von SpiegelEmilie Freifrau v. Spiegel, geb. Gräfin Stolberg, die Gattin des weimarischen Oberhofmarschalls Emil Frhr. v. Spiegel. verstanden worden, einer wirklich schönen Frau, die aber in acht Tagen nach Weimar zurückkehrt...
Minette und PhilippineWilhelmines u. Griesheim jüngste Schwester (1790–1881). Sie verlobte sich bald darauf mit dem Leutnant Alfred v. Wedell, den Napoleon mit zehn anderen Offizieren wegen Beteiligung am Schillschen Aufstand 1809 in Wesel erschießen ließ. Vgl. ihre »Briefe einer Braut aus den Jahren 1806–1813« (Berlin 1905). haben Herrn von Str[ombeck] über mich ausgefragt.
Minette sagte zu ihm: »Ich bin sicher, daß MinnaMinette v. Treuenfels ihn nicht liebt; sie hat einen andern im Herzen.«
Phil[ippine]: »Sagen Sie mir, sind Sie neulich zufällig in den ›Grünen Jäger‹ gekommen?«
Str[ombeck] sagte ihr, er wisse es nicht. Ich sei zu Pferde gekommen, um ihn abzuholen usw. ...
Ich reize ihre Gefallsucht. Bei Tisch sprach ich viel mit Emperius,S. Seite 290, Anm. 1. einem geistvollen, aber seelenlosen Manne. Er hat im Gespräch keinen Funken von Corinnas Feuer. Er stellt Str[ombeck] völlig in Schatten.
Freitag, 19. Juni 1807.
Um fünf Uhr nehme ich meine erste Reitstunde beim Brigadier Lefèvre,Dieser Lefèvre, ein würdiger Vorfahr der jetzigen Franzosen, erstach nach einem Streit im Theater in der Nacht vom 4. zum 5. September einen Braunschweiger Bürger. Es kam zu einem Volksaufruhr, der blutig niedergeschlagen wurde. Auch Beyle wurde darein verwickelt; sein Anteil ist später von ihm selbst und von Zeitgenossen stark aufgebauscht worden. Vgl. Chuquet, 92 f., und »Braunschweiger Magazin«, 1897, S. 181. einem beschränkten Kopfe. Ich gehe mit MünchhausenArthur Schurig hat sechs Mitglieder der Familie v. Münchhausen ausfindig gemacht, die damals mit Beyle verkehrt haben. S. »Das Leben eines Sonderlings«, herausgegeben von Arthur Schurig (Leipzig 1921, S. 718 f.). Auguste v. Griesheim, Wilhelmines älteste Schwester, hatte 1804 Christian Frhr. v. Münchhausen geheiratet. und Herrn von Heerdt Pistolen schießen. Ich schieße ziemlich schlecht. Diese Gesellschaft ist mir zuwider.
Herr von Heerdt gleicht körperlich wie geistig dem Mathematiklehrer David. Er ist klein, ohne Anmut und Kraft, ziemlich vernünftig, spricht mehrere Sprachen ganz gut, bringt es aber nach meiner Meinung nicht zum Esprit. Infolgedessen hat er wohl nicht gemerkt, daß mein Witz gezwungen war. Sie haben ziemlich frei über Minette und Minna gescherzt; ich brauchte nur auf diesen Ton einzugehen, aber ich war ziemlich peinlich berührt und ließ die Gelegenheit ungenutzt; nachher bot sie sich nicht mehr dar.
Heerdt sagte zu Str[ombeck]: »Es freut mich sehr, daß Herr de BeyleBeyle legte sich damals ein de offiziell zu und ließ sich ein Wappensiegel seines Vaters aus Grenoble kommen. »Dergleichen Albernheiten«, sagte er, »stehen in Deutschland in hohem Werte. Mit Hilfe dieses Sprungbrettes überspringen viele anständige Leute die Vorurteile, die sie von mir trennen.« (Chuquet 91). mit mir geht. Ich mag ihn sehr gern.« Ich gefalle ihm sehr; er behandelt mich durchaus nicht als Nebenbuhler. Ich muß diese Meinung bei ihm auf unserm morgigen Ausflug bestärken...
In Frau von Str[ombecks] Augen habe ich mich herabgesetzt, weil ich eines Abends den Schwerenöter gespielt habe. Es ist nicht das erstemal, daß ich zu stark anklopfe.
Herr von Lauingen hat mich nach Lauingen zu Tisch eingeladen, ferner Frau und Fräulein von Griesheim, Herrn von Heerdt, Herrn von Str[ombeck]. Die Damen kehren am Abend zurück; Str[ombeck] und ich gehen nach Groß-Twülpstedt.Strombecks Landgut.
Heute mittag ein Uhr, bei der Rückkehr von der Masch, wo ich zwei Stunden mit den Herren von Heerdt und Münchhausen verbracht hatte, war mir zwei Stunden lang die ganze Welt zuwider, selbst das Buch »Vom Menschen« von Helvétius,»De l'Esprit«, Paris 1758. in dem ich las und das mir als ein Ausbund von Vernunft erscheint. In einem Kapitel davon finde ich mehr Verstand als in ganzen Bänden von anderen, dazu klarer ausgedrückt und besser bewiesen.
Str[ombeck] gab mir heute abend zu, daß die Deutschen den Fehler haben, zu kleinlich zu sein. Gewiß verleitet sie ihre Gesetzgebung dazu. Wieviel Steuerzahlstellen, wie viel Kassen, wie viel Ämter in der Finanzverwaltung von Braunschweig! Wie verzwickt ist das Gerichtsverfahren!
Nachher ging ich ins Theater. Der »Theaterdirektor«»L'Impresario in angustie«, Operette von Cismaro (1786). von Cimarosa, entzückende Musik...
23. Juni 1807.
Gestern abend bin ich von Groß-Twülpstedt zurückgekommen. Wir fuhren Sonnabend um halb neun Uhr hin, Str[ombeck] und ich, Frau von Strombeck und Frau von Griesheim.Sophie Louise, geb. Freiin v. Cornberg (geb. 1758). Philippine und Minette waren eine halbe Stunde vorher abgefahren; Herr von Heerdt begleitete sie zu Pferde.
Um halb zwölf kamen wir in LauingenDas Gut des vorher genannten Herrn v. Lauingen bei Königslutter. an, wo wir gut frühstückten, wie ein Deutscher sagen würde: Rum, Bischof, Kuchen, Butter und Schokolade, nichts Warmes. Ich war den ganzen Tag mit mir zufrieden; meine Stellung zu Minette und Herrn von Heerdt beschäftigte mich. Minette machte sich beständig an mich heran; ich war bis zum Mittagessen etwas schüchtern, dann erfolgte ein Umschwung.
Nach Tisch sah ich deutlich, daß Minette in einer verliebten Ekstase war, die zwar nicht gefühlvoll war, im Gegenteil, aber gerade deshalb eine gute Gelegenheit zur Verführung bot. Schließlich sprach ich zu ihr von meiner Liebe, und zwar sehr gut, verblümt und doch sehr deutlich. Von diesem Augenblick bis zur Abfahrt war Herr von Heerdt traurig: er liebt sie wirklich.
Heerdt ist ein leicht französierter Holländer; der gesunde Verstand kommt bei ihm immer wieder durch. Er riet Str[ombeck], nicht dazu beizutragen, daß PhilippineVgl. Brief 10 Philippines in »Briefe einer Braut«. Lauingen war 44 Jahre alt, Philippine 17. Herrn von Lauingen heiratet. Das gäbe eine schlechte Ehe, d. h. sie würde ihn betrügen. Er jedoch liebt Minette tief; er ist dauernd um sie und redet immerfort mit ihr. Das ist durchaus gegen die französischen Sitten. Diese offne Bevorzugung verletzt die Gesellschaft, ja stört sie. Die Deutschen sind weniger gesellschaftlich gebildet; sie denken weit weniger als wir an das, was die Geselligkeit stört.
Die Ehemänner liebkosen ihre Frauen immerzu, aber kalt und phlegmatisch. Alle Deutschen aus Str[ombecks] Bekanntschaft haben aus Liebe geheiratet, nämlich er selbst, Herr von Münchhausen, dessen Bruder Georg,Karl v. Münchhausen (1777–1859) und Georg (gest. 1829). Herr von Bülow, Herr von Lauingen. Ich muß Faure um eine Liste von zwanzig bis dreißig französischen Ehemännern mit den Beweggründen ihrer Heirat bitten; es sind meist Konvenienzehen, was mit der Eitelkeit, der Hauptleidenschaft der Franzosen, zusammenhängt. Die Deutschen, die ich kenne ...Hier ist eine Lücke in der Handschrift. Die Ergänzung bietet das Buch »Über die Liebe« (Band IV dieser Ausgabe, S. 234 f.), wo dies Tagebuch unter Verwendung von Decknamen verwertet ist.
30. Juni (1. Juli).
Vergnügter Tag wegen der Geldsendung, die ich heute morgen von meinem Vater erhielt. Um ein Uhr reite ich nach dem »Grünen Jäger« zum Scheibenschießen. Ich gebe auf fünfundzwanzig Schritt dreißig Schuß ab, zwei in den Spiegel. Beim Rückweg erster schöner Trab in diesem Jahre. Abends gehe ich mit Str[ombeck] noch einmal hin. Fräulein von Griesheim und von OeynhausenCharlotte v. Oeynhausen, von Strombeck in seinen »Darstellungen«, II, 71, erwähnt. sind da. Beim Abendessen mache ich diese etwas verliebt, soweit ich beurteilen kann. Str[ombeck] kehrt mit mir zurück, wir betrachten die Sterne.
Heute morgen, am 1. Juli, habe ich mit Herrn Denys zum erstenmal das Duett »Se fiato in corpore avete«Aus Cimarosas »Matrimonio segreto« gesungen.
3. Juli.
Glücklicher Tag. Wir gehen auf den Hasseberg, die Fräuleins von Griesheim, ihre Mutter, Frau von Str[ombeck], Fräulein von Oeynhausen, Herr von Heerdt, Strombeck und ich. Die Erfahrung lehrt mich eine Wahrheit, von der mich meine Trägheit fernhält, nämlich, wie nützlich es ist, die Gelegenheit wahrzunehmen. Ich hätte diesen Grundsatz Martial Daru und den Frauen gegenüber wahrnehmen sollen.
Ich sah Philippine, die dicke PhilippineIhr Bildnis in den »Briefen einer Braut« zeigt ein volles Gesicht und volle Formen. gefühlvoll. Heute hätte man ihr Dinge zu verstehen geben können, die an anderen Tagen unmöglich wären.
Wir machen uns alle unglücklich, sie, Minette, Herrn von Heerdt und mich. Zorn bei Frau von Griesheim; gezwungene Mienen des empfindlichen Gastgebers Lauingen; abscheuliche Mahlzeit. Ich war an diesem Tage ein schöner Mann (soweit meine Gestalt dies zuläßt). Zum erstenmal im grauen Rock. Ich glaubte auf Philippines Gesicht etwas Verwirrung zu lesen, als ich um halb neun Uhr bei Str[ombeck] erschien. Sie bleibt vier Tage hier. Glücklicher Tag...
Montag, 6. Juli 1807.
Sehr hübscher Ausflug nach Wolfenbüttel, von Str[ombeck] veranstaltet. Wir brechen um zwei Uhr auf, Frau und Fräulein von Griesheim, Fräulein von Oeynhausen, Herr und Frau von Str[ombeck], Herr von Heerdt und ich. Ich sitze gut zu Pferde und bin elegant gekleidet ...
Heerdt ist ein guter Kerl. Seine Anekdoten, die er für hiesige Verhältnisse gut erzählt, gewinnen ihm Strombecks Freundschaft. Er ist offen und ehrlich in Minette verliebt und fortwährend hinter ihr her. Er spricht immerzu mit ihr, oft zehn Schritt von den andern entfernt, meist Französisch, mit ernster Miene, schwerfällig und ohne Grazie. Er hat ein gewöhnliches Gesicht, plumpe Züge und ist viel kleiner als ich. Kein Geist (neue Gedanken, Einfälle, Lebhaftigkeit), aber gesunder Verstand. Er erzählt deutlich und mit ziemlich viel Wärme, bringt das Holländische und Deutsche immerfort durcheinander, was sehr spaßig wirkt. Lichtenberg sagt: »Ein Esel ist ein Pferd, ins Holländische übersetzt.« Für ein deutsches Ohr ist das Holländische der Gipfel des Lächerlichen.
Ich habe gestern und heute den Fehler begangen, Strombeck mit meiner Person zur Last zu fallen. Ich bringe mich um jede Anmut, wenn ich oft mit ihm zusammen bin; ich langweile ihn damit oft. Jetzt, wo er allein mit seiner Frau speist, will ich mich beliebter machen, indem ich am Abend seltner hingehe.
Die Offenheit, mit der Herr von Heerdt Minette den Hof macht, wäre in Frankreich der Gipfel des Lächerlichen und Unanständigen. Dafür sagte mir Strombeck bei der Heimkehr, er glaube nicht, daß eine einzige Frau in seiner weitverzweigten Familie ihren Mann betröge. Der merkwürdige Vorschlag, den er seiner Schwägerin, Frau von Kniestedt, machte, deren Familie mangels eines männlichen Erben aussterben wird, so daß alle Güter an den Herrscher zurückfallen, wurde mit Kälte aufgenommen: »Sprechen Sie mir nie mehr davon.«
In verhüllten Worten teilt er PhilippineHier ist Philippine v. Bülow (geb. 1777), Strombecks Schwägerin, gemeint. Vgl. den im Anhang (Nr. 3) wiedergegebenen Brief Philippines an Beyle. etwas davon mit. Ungeheuchelte Entrüstung, durch die folgenden Worte eher gemildert als gesteigert: »Haben Sie denn gar keine Achtung mehr vor unserm Geschlecht? Ich will zu Ihrer Ehre annehmen, daß Sie scherzen.«
Während einer Reise lehnte sich Philippine an seine Schulter und schlief oder tat doch so. Ein Stoß des Wagens warf sie etwas auf ihn; er drückte sie an sich; sie setzte sich in die andere Wagenecke. Er hält sie nicht für unverführbar, aber er glaubt sicher, sie würde am nächsten Tage Selbstmord begehen. Diese Folge befürchtet er vielleicht aus Eigenliebe, er hat sie leidenschaftlich geliebt, si fè riamato e non l'ebbe.Fand Gegenliebe und besaß sie doch nicht.
Andrerseits kann ein des Ehebruchs überführter verheirateter Mann vom Gericht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden. Das Gesetz ist außer Gebrauch gekommen, verhindert aber noch immer, daß man in dieser Hinsicht leichtfertig ist. Der Ehebruch ist durchaus nicht wie in Frankreich eine Eigenschaft, die man einem Manne nicht abstreiten darf, ohne ihn zu beleidigen. Wenn jemand meinem Onkel oder Chi[ese]Ein Freund von Stendhals Familie. S. »Vie de Henri Brulard«, Paris 1913, II, 127. ins Gesicht sagte, sie hätten seit ihrer Heirat kein Verhältnis mehr gehabt, so wären sie gewiß beleidigt.
Vor ein paar Jahren gestand eine Frau ihrem Manne, der hier eine Hofstellung hatte, sie hätte ihn betrogen. Er war so dumm, es dem Herzog zu erzählen. Der Ehebrecher mußte alle seine Ämter niederlegen und das Land binnen vierundzwanzig Stunden verlassen; andernfalls drohte der Herzog, das Gesetz in Anwendung zu bringen.
Wie schon früher gesagt, heiraten die Männer meist aus Liebe. Sie werden nicht betrogen – aber welche Frauen sind das auch! Holzpuppen, seelenloses Fleisch. Das ist mir freilich immer noch lieber als die Frau von Martial Daru, die die Rolle einer Französin spielt, aber wie eine schlechte Anfängerin, ohne Beweglichkeit und ohne Fortschritte.
Noch ein Wort über die Mitgift. Sie ist wegen des Lehnswesens gleich Null. Fräulein von Oeynhausen, deren Vater ein Einkommen von 30 000 Franken hat und seine Güter ertragreich bewirtschaftet, bekommt vielleicht 2000 Taler (7500 Franken) Mitgift. Frau von Strombeck hat 4000 Taler bekommen und bekommt vielleicht noch 1500 bis 2000 beim Tod ihrer Mutter. Den Ersatz für die Mitgift bildet die Eitelkeit, bei Hofe zu verkehren. Wie Strombeck mir sagte, könnte man im Bürgerstand Partien mit 100–150 000 Taler finden, aber dann wird man nicht mehr bei Hofe vorgestellt und ist von jeder Gesellschaft ausgeschlossen, in der ein Prinz oder eine Prinzessin erscheint. »Das ist schrecklich.«
Eine Deutsche mit der Seele Philippines, viel Geist und dem edlen, gefühlvollen Antlitz, das sie mit siebzehn Jahren gehabt haben muß (jetzt ist sie neunundzwanzig oder dreißig), die anständig und dank der Landessitten natürlich ist und aus dem gleichen Grunde nur so viel Religion hat, als nützlich ist, könnte ihren Gatten gewiß sehr glücklich machen.
»Aber er war doch verheiratet!« gab sie mir heute morgen zur Antwort, als ich das vierjährige Schweigen von Corinnes Liebhaber, Lord Nelvil, tadelte. Sie hat bis drei Uhr nachts in der »Corinne« gelesen. Sie ist empfänglich dafür, und doch antwortet sie: »Aber er war doch verheiratet.« Eine solche Frau würde sich durch die Ehe gebunden fühlen.
Darum habe ich ihr zuliebe heute gut vier Stunden zurückgelegt, obwohl sie nicht hübsch ist und von kleinen Geistern und kleinen Seelen wie Christian von Münchhausen sogar für spröde und nüchtern gehalten wird ...Ich tat ihm unrecht. Er ist ein guter Kerl und einer der Leute vom besten Ton im Lande, aber geistlos und wenig gefühlvoll. (Zusatz Stendhals vom Oktober 1808.) Über Christian v. Münchhausen s. S. 275, Anmerk. 6.
9. November 1807.
Man muß zu viel Worte machen, um gut zu beschreiben. Deshalb habe ich dies Tagebuch seit Anfang Juli unterbrochen. Es wäre nützlich, die Annalen seiner Begierden, seiner Seele zu schreiben, dadurch lernte man sie verbessern, aber vielleicht hätte das auch den Nachteil, kleinlich zu werden.
Ich habe zu meinem großen Erstaunen drei Rebhühner im Fluge erlegt.
Der Oberhofmarschall von MünchhausenBörries v. Münchhausen (1757–1810). Vgl. S, 189. hat mir durch eine Art von Entschuldigung volle Genugtuung gegeben. Die Sache ist erledigt und wird am besten vergessen.
Von meiner Liebe zu Minette bin ich geheilt.Beide wurden übrigens bald von einander getrennt. Jérôme Napoleon, König von Westfalen, hatte Wilhelmines Vater zum Brigadegeneral ernannt, jedoch verletzt durch einen abratenden Brief seiner Frau, der aufgefangen worden war, die ganze Familie Ende Dezember 1807 »binnen acht Tagen« aus Braunschweig ausgewiesen. Sie siedelte infolgedessen nach Köthen über. Alle drei bis vier Tage schlafe ich, um meinem physischen Bedürfnis zu genügen, mit Charlotte Knabelhuber, einem Mädchen, das ein reicher Holländer, Herr von Kutendvilde, aushält.
Frau Alexandrine D[aru] ist durchgekommen und hat mich sehr freundschaftlich empfangen.
Gestern belebter Ball bei Frau von Marenholtz,S. Seite 285, Anm. 1. mit der B[richaud] öffentlich zusammenlebt.
14. Januar 1808.
Von allen meinen Braunschweiger Bekannten hat nur einer wirklich Geist, nämlich Jacobsohn.Israel Jacobsohn (1768–1828), Bankier, braunschweigischer Hofagent und Rabbiner, 1807 Ehrendoktor der Universität Helmstedt, seit 1808 finanzieller Vertrauensmann des Königs Jérôme. Er spielte eine Rolle in der deutschen Judenemanzipation, für die er sich nach Kräften einsetzte. U. a. führte er den Gottesdienst in deutscher Sprache mit Orgelmusik in der Synagoge ein. Im Bade Helmstedt hatte er eine Brücke erbauen lassen, die seinen Namen erhielt. In Seesen hatte er eine Schule begründet. Er lebte persönlich einfach, gab aber viel für wohltätige Zwecke aus. Ein ausführliches Lebensbild von ihm entwirft Dr. Paul Zimmermann im »Braunschweigischen Magazin« von 1906, Nr. 9–10. Dazu besitzt er die ganze Gerissenheit eines Juden und zwei Millionen. Viel orientalische Phantasie, aber er spricht nicht gut Französisch, und seine Eitelkeit ist zu offensichtlich. Im Bade Helmstedt, wo man ihm schmeichelte, hat er aus Eitelkeit 2000 Taler ausgegeben. Wenn man sich an ihn heranmacht, könnte man ihn dazu bringen, 10 000 auszugeben, aber in seinem Haushalt bleibt er stets knickrig wie ein Jude.
Seine Bemerkung gegenüber der Herzogin über das Agio der Religion ist hübsch.
Der Oberjägermeister von Sierstorpf ist, was den Geist betrifft, Nr. 2. Er ist sechzig Jahre alt und hat 60 000 Franken Einkommen, In seinem Gesichtsausdruck liegt Schlauheit und Bosheit. Herzlos, hat nie einem Menschen mit Geld ausgeholfen. Er bestellt bei einem armen jungen Mechaniker in Braunschweig ein Fernrohr. Der arme Kerl soll 200 Taler dafür bekommen, als es aber fertig ist, will er ihm nur 60 geben. Wie man sagt, ist ihm der Tod seines einzigen Sohnes, der mit vierundzwanzig Jahren starb, nicht sehr nahegegangen. Er bekämpfte dessen Leidenschaft für eine natürliche Tochter des Herzogs, die aber den Titel Gräfin trug, Ehrendame war, bei Hof empfangen wurde usw. Ein harter Mann ohne jede Rücksicht gegen das Unglück. Sieht einem Eber ziemlich ähnlich.
Nr. 3. Gesandter von MünchhausenNach A. Schurig wohl der Oberhauptmann Börries v. Münchhausen (1745 – 1829). und Geheimrat von Strombeck.
Aus diesen zwei Leuten, durcheinandergemischt, könnte man zwei reizende Menschen machen. Sie haben jeder ganz verschiedene Vorzüge. Münchhausen ist Weltmann, ein erbarmungsloser Schwätzer, der immerfort ganz nette Anekdoten erzählt. Er stellt sich etwas zu sehr in den Vordergrund, indem er stets andeutet, daß er dabei war, als Prinz Heinrich,Der Bruder Friedrichs des Großen. Herr von Boufflers,Stanislas Jean Marquis de Boufflers (1738 – 1815), genannt »Chavalier de Boufflers«, Dichter und Soldat, wanderte in der französischen Revolution aus, erhielt vom König von Preußen große Konzessionen in Polen zwecks Begründung einer Kolonie von Réfugiés und wurde Mitglied der Berliner Akademie. Er kehrte 1800 nach Frankreich zurück. Herr von NivernaisDer Herzog von Nivernais war 1756 in politischer Sendung in Berlin gewesen und von Friedrich dem Großen glänzend empfangen worden. usw. eine geistreiche Bemerkung machten. Er hat 36000 Franken Einkommen, meist in Leibrenten. Er ist schmutzig geizig. Sein ganzes Glück, sein ganzes Dasein besteht in Orden und Ordensbändern. Im Herzensgrunde ein guter Kerl. Ein guter Musiker, spielt gut Harmonika, Klavier usw., hat auch Musikstücke drucken lassen. Alles in allem das Bruchstück eines Weltmannes (fünfundfünfzig Jahre).
Das Gegenteil ist Herr von Strombeck, der wie ein Apotheker aussieht. Sein Geist ist schwerfällig, langsam und bedächtig, doch sind seine Vorstellungen von Bürgertugend und Regierung weder klar noch richtig. Ein guter Freund, ein zärtlicher Vater, ein guter Sohn und Bruder. Er liebt die Künste, versteht etwas von Sternenkunde, ist sehr gebildet, aber ohne philosophische Neigungen, kann sich nicht konzentrieren. Liebt Philippine. Fünfunddreißig Jahre und 12000 Franken Einkommen. Seine Frau ist Mutter, weiter nichts. Völlig unbedeutend, sanft, tugendhaft, aber entsetzlich schwerfällig, so deutsch wie nur möglich.
4. Herr von Bothmer, Oberkammerherr, sechsundsechzig Jahre.Hans Friedrich Hartwig Ludwig Hugo Frhr. v. Bothmer (1745 – 1808), braunschweigischer Oberkammerherr. Von seinen fünf Kindern war Friederike (1775 – 1809) mit dem Landdrost Frhr. v. Marenholtz verheiratet und seit 1805 verwitwet, seine Tochter Karoline (1776 – 1837) unverheiratet, sein Sohn Ferdinand (1778 – 1863) braunschweigischer Rittmeister. (Nach gütiger Auskunft des Herrn Major Frhr. v. Bothmer in Arnswalde.) Wäre er vierzig Jahre alt, so gehörte er unter Nr. 1. Unersättlicher Esser, ißt Fleisch für drei. Spricht sechs Sprachen, hat hübsche deutsche Sprichwort-Lustspiele geschrieben und besitzt den literarischen Geschmack, der in Deutschland unter Friedrich dem Großen herrschte. Betet die französische Art mit ihren Vorzügen und Schwächen an. Die großen Deutschen, Goethe, Wieland, Klopstock, Bürger, Herder, Schiller haben darin Wandel geschaffen. Herr von Bothmer ist nur noch der Schatten dessen, was er früher gewesen sein muß. Er lebt allein von seinem Gehalt (6 – 7000 Franken), ist Komtur des protestantischen Zweiges des Deutschordens. Er ist gut durch seine Philosophie und wohl auch infolge seines zärtlichen Herzens. Aus Berechnung lobt er jedermann mit treuherziger Miene, wenn er mit jemand oder über ihn spricht; daher ist er allgemein beliebt. Er liebt seine Tochter, Frau von Marenholtz, sehr; sie ist äußerst gefallsüchtig und hat BrichaudS. S. 283. völlig umgarnt.
Sein Sohn Ferdinand ist ein geistloser Barbar, ein richtiger Soldat, äußerst stark, kann einen denkenden Menschen vom Waffenhandwerk abschrecken.
Seine Tochter, Karoline von Bothmer, war die Geliebte des Herrn von Haugwitz, der sich erschossen hat. Ihre Geschichte ist rührend. Ihr Herz ist nur noch ein Aschenhäufchen; etwas Eitelkeit belebt es hin und wieder noch.
Herr von Bothmer hat über nichts große und feststehende Begriffe. Seine Philosophie ist klein, mittelmäßig und liebenswürdig. Jacobsohn dagegen ist hier wirklich der geistvollste Mann. Niemand zweifelte daran, spräche er nur leidlich Französisch.
17. [Januar].
Diner beim General Rivaud, dem Kommandeur der Division. Seit drei Tagen leichte Schwindelanfälle; Hacur ist ein vernünftiger Arzt.
Martial ist mit seinem Bruder noch immer in Kassel, und ich baue hier Luftschlösser und sehe mich binnen drei Monaten als Kriegskommissar oder, was noch mehr ist, mit Pierre Daru in Portugal oder in Griechenland. Auf die Reise freue ich mich. Im ganzen bin ich mit meiner Stellung zufrieden; nur das Klima verdrießt mich bisweilen. Ich lese mit Vergnügen Sismondi.Sismondis »Histoire des républiques italiennes du moyen-age« (Zürich und Paris 1807–18, 16 Bde., deutsch Zürich 1807–24, 16 Bde.) hat Stendhal in seiner »Geschichte der italienischen Malerei« und auch sonst stark beeinflußt, ist aber später von ihm als »plumpes liberales Machwerk« abgelehnt worden.
20. Januar.
Schlichtheit, Tragödie, Julius Cäsar.
Schichten Riesen eine Mauer aus Felsblöcken auf, so können sie haushohe Felsen ebenso leicht übereinander türmen, wie ein Maurer Stein auf Stein schichtet. Ebenso ist es, wenn große Seelen eine große Tat vollbringen. Einem Brutus, Regulus usw. wird es ebensowenig schwer fallen, jene Taten zu vollbringen, durch die sie berühmt wurden, wie einem Infanterieleutnant, Feuer zu kommandieren. Das ist die edle Schlichtheit und Natürlichkeit, die tragische Helden besitzen müssen. Daraus entspringt sofort das Erhabene; es ist beinahe das sine qua non der Tragödie. Corneille hat es bisweilen, Voltaire nie. I think that I shall have this in my character.Ich denke, das habe ich in meinem Charakter.
Seit acht Monaten habe ich kein Stück von Corneille oder Racine gelesen. Die »Schule der Ehemänner« von Molière, »Othello« und »Julius Cäsar« von Shakespeare. Shakespeare langweilte mich vor drei Monaten. Jetzt achte ich nicht mehr auf seinen Schwulst, und er fesselt mich. »Othello« schien mir fast vollkommen.
26. Januar 1808.
Gestern war ich im deutschen Theater; ich hatte etwas Fieber,..
1. Februar.
Ich erhalte einen Brief von Herrn Daru, worin er mir die Domänenverwaltung überträgt. Ich bin über diesen Gunstbeweis nicht entzückt; ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
18. Februar.
Ich habe mir das »Abendmahl«,Von Leonardo da Vinci. die Bilder Friedrichs [des Großen) und Raffaels gekauft, eine schöne Landschaft von Claude Lorrain und die »Mitternachtssonne« in Torneo. Unter diese Bilder und Landschaften werde ich schreiben: Nord und Süd, beide groß. Welcher war glücklicher?
19. Februar.
Ich besichtige die ganze Domänenkammer... Morgen gehe ich auf die Hasenjagd nach Wolfenbüttel.
Von Zeit zu Zeit tummle ich Fräulein Charlotte. Ich habe starke, aber sehr vergängliche Neigungen für einige Frauen. In dieser Hinsicht habe ich Fortschritte gemacht. Ich bin nicht mehr so schüchtern... Ich muß auch noch eine gewisse Pedanterie in meinem Wesen ablegen, die die Folge meiner Schüchternheit ist.
25. Februar.
Seitdem habe ich drei Hasen geschossen, die ersten Vierfüßler in meinem Leben... Herrliches Wetter, seit acht Tagen Frost und Sonnenschein. Wein und Musik machen mir Vergnügen. Gestern war ich bei Heim von PraunWohl Geheimrat Karl v. Praun, der am 30, März ds. Js. starb. (zum Essen). Ich fühlte mich wohl und spürte mein Fieber nicht mehr, aber ich war Braunschweigs überdrüssig und aus Langeweile fast unglücklich ...
2. März.
Ich habe einen langen Brief an LambertDer auf S. 193 genannte Kriegskommissar, den Beyle 1811 wieder aufsuchte. S. die Aufzeichnung vom 9. Oktober 1811. geschrieben, worin ich ihm meine Meinung über dies Land gesagt habe, d. h. schlimmer als gehenkt werden. Dadurch war ich heute abend gut gelaunt und gar nicht schüchtern. Lamberts Brief enthält Bemerkungen über Kalabrien und die Musik in Neapel, die meine Anschauungen bestätigen. Die Menschen in Kalabrien müssen fast Naturkinder sein. Meine Augen haben sich heute abend an der Schönheit des Fräuleins von Klösterlein ergötzt.Wohl die Tochter des in den »Briefen einer Braut« erwähnten Obersten v. Klösterlein, der in westfälische Dienste getreten war.
3. März.
Gesellschaft und langweiliges Pharaospiel beim General Rivaud ... Ich werde immer mehr der Vertraute der Frau Struve.Wohl Lisette v. Struve, geb. Gräfin Oexel; ihre Mutter war eine geborene v. Sierstorpf.
6. März.
Das Volk von Braunschweig leistet den Treueid. Häßliche Gotik des Gebäudes, in dem sich die Behörden befinden.Gemeint ist jedenfalls das alte Rathaus, eine Perle der deutschen Gotik. Die spießige Gewöhnlichkeit bei Zeremonien verursacht mir immer Übelkeit. Der Bürgermeister von BraunschweigJoh. Heinrich Wilmerding, ein derber Niedersachse. eine lächerliche Gestalt, hat eine Rede vorgelesen, die niemand gehört hat. Er hatte nicht soviel Verstand, dem Volke zu sagen, wann es die Hand hochheben solle. Jeder hat es für sich getan, und alles hat gelacht... Zeremonien sind mir stets zuwider, sie erinnern mich an die Spießbürgerlichkeit von Grenoble. Sähe ich sie dort, sie wären mir noch weit unleidlicher.
11. März.
Ich schreibe alle meine amtlichen Briefe zu Füßen des Bildes von Raffael, dessen Ausdruck nach den Tagesstunden wechselt. Dies schöne Gesicht, das sein Glück aus dem Herzen schöpfte, bewahrt mich davor, daß meine Seele ganz ausdörrt. Ich will das Bild Friedrichs II. neben Raffael hängen...
Gestern abend um elf Uhr wurde an meine Tür geklopft; der treffliche General Michaud und DurcyEin Untergebener von Michaud, Stendhals Brigadegeneral in der Lombardei (s. S. 214), der in seinem Tagebuch von 1801 mehrfach genannt wird. waren im »Englischen Hof« abgestiegen. Der General empfing mich aufs herzlichste. Wie zufrieden war seine Miene! Wie umarmte er mich beim Kommen und Gehen und leuchtete mir bis zur letzten Stufe! Als ich um ein Uhr nachts heimkehrte, war ich von der seltenen Freude erfüllt, die die Zufriedenheit den Menschen gewährt...
17. März.
Ich bin sehr glücklich, daß der Zufall mich vom Hofe ferngehalten hat, wo ich vor zwei Jahren gern eine Anstellung gefunden hätte. Es war ein großer Irrtum von mir, der mich in bezug auf zwei Dinge vorsichtig machen soll: die Ehe und das Aufgeben meiner Stellung. Möglich, daß ich zu beiden Lust bekomme, aber ich muß mir das lange überlegen.
Die Erfahrung eines Jahres, wo ich an eine Person gebunden war, bestärkt mich in dem Gedanken, daß ich mich gar nicht für den Hof eigne. Eine einsame, selbständige Stellung wie die jetzige paßt weit besser für mich. Allerdings langweile ich mich gewaltig dabei... Übrigens bekomme ich von meinem Vater monatlich 400 Franken. Ich habe noch 3000 Franken Schulden, trotz den Wohltaten des Herrn von N.
18. März 1808.
Ich nehme ausgezeichneten englischen Unterricht bei Herrn Emperius.Joh. Ferd. Friedrich Emperius (1759-1822), Professor der klassischen Literatur am Carolinum zu Braunschweig und Kustos des Braunschweiger Museums. Während der Franzosenzeit lehrte er Geschichte und Englisch an dem zur Militärakademie verwandelten Carolinum. Ich erkläre »Richard III.« und bin davon sehr gepackt... Mir kommt der Gedanke, eine Tragödie »Der Usurpator« zu schreiben, der ich einen Stich ins Komische geben möchte, etwa wie im »Richard III.« in der Szene vor dem Erscheinen der Königin Margarete.Gemeint ist wohl 1. Akt, 3. Szene. Ich habe diesen Charakter einen Augenblick deutlich vor Augen und bin sicher, daß er großen und tiefen Eindruck machen würde.
19. März 1808.
Es ließe sich ein sehr fesselndes Buch von 500 Seiten über die Geschichte der katholischen Religion von Christus bis auf die Gegenwart schreiben. Wenn ich 500 Seiten sage, so setze ich damit die größte Unparteilichkeit und vor allem äußerst wenig gelehrte und kritische Erörterung der Tatsachen voraus. Es käme darauf an, far suoi i temi gia prima trattati.Sich die schon behandelten Gegenstände zu eigen zu machen.
29. März.
Ich sehne mich nach Charlotte, seit ich sie nicht mehr habe ...Offenheit war der Hauptzug ihres Wesens. (Randbemerkung Stendhals im Jahre 1815.)
11. April.
Ich schreibe an Frau de Baure und an Mutter Daru und bitte, daß ich nach Spanien geschickt werde, wenn mein hiesiger Auftrag beendet ist. Ich bitte meinen Großvater, in der gleichen Sache an Herrn und Frau Daru und an Martial zu schreiben. Damit werden alle Saiten in Schwingung versetzt.
23. April.
Herr von Bothmer wiederholt mir, daß es weder ein gutes Trauerspiel noch ein gutes Lustspiel in deutscher Sprache gäbe. Ich glaube das nicht ganz, denn in den vier Stücken von Schiller, die ins Französische übersetzt sind,Jean Ferdinand La Martelière (eig. Schwindenhammer) veröffentlichte 1785 die erste Verdeutschung der »Räuber«, die 1792 aufgeführt wurde, und 1799 ein »Thèâtre de Schiller«, das »Kabale und Liebe«, »Fiesco« und »Don Carlos« enthielt (2. Aufl. 1806). Im selben Jahre erschien auch eine Übersetzung des »Don Carlos« von Adrien Lezay-Marnesia. Vgl. Th. Süpfle, Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, Gotha 1886 ff., II, I, S. 63 ff. finde ich manches Gute... Der Architekt des Königs, der aus Rom kommt, ein Mann von Geist und Talent, sagt mir, es gäbe im Deutschen drei gute Lustspiele, nämlich ...Die Titel hat Stendhal weggelassen!
1. Mai.
Zufällig kam ich in eine Gesellschaft beim Justizminister, zu der alle Welt außer den Franzosen eingeladen war. Ich mache beim Pharaospiel gute Beobachtungen. Frau von MarschallWohl die Gattin des zu Lessings Bekannten gehörenden Kammerherrn Aug. Dietr. v. Marschall. (Zimmermann.) könnte mir gefallen, obwohl sie eine heiratsfähige Tochter hat. Sie scheint Geist zu haben und nicht prüde zu sein. Aber ich bin schüchtern gegen sie, und zudem haben wir keine Gelegenheit...
3. Mai 1808.
Ich schreibe dies Punkt acht Uhr. Bisher habe ich ohne jede Mühe das »Leben Johnsons«Das berühmte Werk von James Boswell: »Life of Samuel Johnson« (London 1791). gelesen, die mir Herr Eschenburg geliehen hat.Joh. Joachim Eschenburg (1743-1820), seit 1777 Professor am Carolinum zu Braunschweig, der Überarbeiter und Ergänzer von Wielands Shakespeareübersetzung. Er wies auch sonst auf die englische Literatur hin (»Britisches Museum«, Leipzig 1777-80, »Britische Literatur«, ebd. 1780-81) und verfaßte einflußreiche literarhistorische und ästhetische Schriften. Ich glaube nicht, daß man zu dieser Stunde in Marseille oder Madrid lesen kann. Nachfolgend mein heutiges Leben: es soll mir als Probe dienen, wie ich im Frühjahr 1808 gelebt habe.
Um acht Uhr hat mich der Barbier im großen Salon geweckt, in dem ich zum erstenmal schlief. Das hatte zur Folge, daß ich um vier Uhr morgens einen militärischen Spaziergang mit dem Degen in der Hand machte. Ich hörte Geräusch in den Nebenzimmern und lag noch tief in Träumen; sobald meine Einbildungskraft wach ist, bin ich schüchtern. Tapfer bin ich nur, solange ich blöde bin; dann verliere ich die Erde nicht aus den Augen. Ich rede von der wirklichen Tapferkeit. Meine Phantasie bestärkt die Art von Tapferkeit, die aus den Leidenschaften entspringt. Mein Zorn ist so heftig, daß ich vierundzwanzig Stunden lang Magenweh habe.
Als der Barbier fort war, las ich ein paar Seiten im »Leben Johnsons«, das mir Herr Eschenburg geliehen hatte. Herr KoechiJoh. Karl Theodor Koechi, Professor der neueren Sprachen am Carolinum, dann an der Militärakademie. (Zimmermann.) kommt zum deutschen Unterricht. Ich erkläre drei Seiten der Geschichte »des großes Friederich«. Diese drei Worte, in denen mindestens drei Fehler sind, zeigen meine Fortschritte in dieser Sprache, die von langweiligen Menschen gesprochen wird, aber einige ausdrucksvolle Worte hat. Nachdem Herr Koechi gegangen ist, habe ich das Protokoll über die Zahlung und Verteilung einer Summe von 16 000 Talern in Gold abgefaßt und eine Suppe aus Brot, Wasser und Butter gegessen.
Dann bin ich zu Herrn Emperius gegangen, um meine englische Stunde zu nehmen... Er hat mich ein englisches Buch, das er mir auf französisch vorlas, auf englisch niederschreiben lassen. Dann habe ich die vierte und fünfte Szene des ersten Akts von »Macbeth« erklärt. Es war sehr verkehrt von mir, Herrn Emperius nicht schon bei meiner Ankunft in Braunschweig zu nehmen; dann könnte ich jetzt Englisch und Latein. Er besitzt zwar keinen Esprit, ist aber ein ausgezeichneter Sprachlehrer.
Nachdem ich anderthalb Stunden bei ihm verbracht habe, bin ich nach Hause gegangen und habe bis drei Uhr im »Leben Johnsons« gelesen. Ich habe heute im ganzen 100 Oktavseiten mit Genuß gelesen, und zwar ohne Wörterbuch, denn ich habe keins.
Von drei Uhr ab habe ich dreiviertel Stunden in meinem Bureau gearbeitet; dann habe ich Mittag gegessen: geröstetes Hammelfleisch mit Bratkartoffeln und Salat. Die beiden ersten Gerichte kamen von Janaux; sie kosteten sechs Bonger (18 Sous).
Nach Tisch Johnson. Um sechs Uhr reite ich aus und kehre um 7 ¼ zurück. Ich komme bei der Schuhmacherstochter vorüber, die mich anlächelt und wieder ins Haus tritt. Mein ganzer gestriger Tag war bewegt und glücklich infolge des Stelldicheins, das sie mir gab und das sehr originell war. Um neun Uhr traf ich Charlotte und wir machten einen Mondscheinspaziergang. Aber das hübsche Mädchen, von dem ich kam, hatte mich gegenüber dieser Schönheit von fünfundzwanzig Jahren, die wie zweiunddreißig Jahre alt aussieht, stark abgekühlt.
Heute, als ich vom Spazierritt zurückkam, habe ich Tee getrunken – drei Tassen, um mich diesen Abend mit meinem Geiste zu unterhalten. Ich habe bis acht Uhr gelesen und beende diese Zeilen um acht Uhr fünfunddreißig Minuten.
Am 15. April habe ich die ersten Knospen gesehen und das volle Erwachen der Natur am 26. Dem Pflanzenwuchs und meinen Nerven fehlt ein warmer Regen.
4. Mai, nach der Lektüre von »Tom Jones«Englischer Sittenroman (1750) von Henry Fielding (1707-54).
Die Ideen des Eigentums und der Gefahr kehren in irgendeinem englischen Buche weit öfter wieder als in einem französischen über das gleiche Thema. Ich muß zusehen, ob diese Verallgemeinerung zutrifft, und wenn sie zutrifft, die Ideen heraussuchen, die am häufigsten in französischen und italienischen Büchern vorkommen.
Ich habe die schlechte Angewohnheit, meine Beobachtungen sofort zu verallgemeinern. Das kommt von dem Dünkel, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben, und von der Trägheit; denn es ist weit leichter, auf diese Weise eine Bemerkung zu verallgemeinern, als sorgfältig zu prüfen, ob man wirklich sehr oft Gelegenheit hatte, sie zu machen.
20. September.
Ich komme aus Schillers »Kabale und Liebe«. Ich finde die Gefühle unklar; der Autor hat die großen Gedanken nicht genügend vertieft, und schließlich sind seine Personen nicht geistreich genug. Abgesehen davon und von den Längen am Schluß ist es ein gutes Stück, aber diese Empfindsamkeit, die sich wie die Werthers auf unklare, schwülstige Ideen stützt, rührt mich nicht. Sie scheint eine Folge des Mangels an Geist und Charakter bei diesem Volke zu sein.
Der Hauptfehler der Deutschen ist in meinen Augen ihre Charakterschwäche. Abgesehen von dem Leben, das ich täglich beobachte, ergibt sich das wohl deutlich aus dem Unterschied zwischen dem deutschen und spanischen Stil, selbst in französischer Übersetzung. Man lese die Novellen des Cervantes, die Memoiren des Don Philippo und zwei entsprechende deutsche Werke. Ferner hat ihre Regierung ihnen den Geist des Formalismus und der Juristerei beigebracht. Schließlich sind sie durch ihr Bibellesen einfältig und aufgeblasen geworden. Das wirkt auch auf den englischen Charakter...
Bemerkenswert ist die Ehrlichkeit des Volkes. Ein Beweis sind die zahlreichen Geldsendungen durch die Post.
Seit etwa einem Monat fallen die Vorurteile, die mir den deutschen Charakter verbargen, von mir ab, und ich beginne ihn klar zu erkennen. Die größten Herrscher des 18. Jahrhunderts, Friedrich II. und Katharina II., waren Deutsche. Aber ich finde bisher, seit die Deutschen jenen Charakter verloren haben, den ihnen Tacitus zuschreibt, kein feuriges Genie bei ihnen, wie etwa den Prinzen von Condé.Louis II., Prinz von Condé, der »große Condé« (1621-86), ein berühmter Kriegsmann unter Ludwig XIV.
26. September 1808.
Nun bin ich fast zwei Jahre in Braunschweig, woran ich folgende Betrachtung knüpfe. Ich bin den Menschen dieses Landes so recht als junger Mensch und als Franzose entgegengetreten. Was mir tadelnswert schien, habe ich vor ihnen getadelt, als ob sie alle Philosophen und über Vorurteile erhaben wären. Ich habe sogar meine Verachtung für ihre plumpe Schwerfälligkeit durchblicken lassen. Wenn ich das nächste Mal an den Ufern des Ebro oder der Elbe in Garnison stehe, werde ich gleich bei meiner Ankunft meine Bewunderung für das Land erklären ...
13. Oktober 1808.
Historischer Stil. – Ernst, Ernst... Mein Stil wird von besonderer Art sein, indem er sich ein wenig über alles lustig macht, deutlich ist und nicht einschläfert. Wozu Ernst? Um die Geschichtschreiber zu Predigern zu machen und die Laster auszurotten? Wem soll die Geschichte eine Lehre sein? Den Königen? Sie pfeifen darauf. Indem man ihre Werkzeuge lächerlich macht, macht man es ihnen schwer, ja unmöglich, das zu verabscheuen, was man gebrandmarkt hat. Ich sollte es unterlassen, eine hübsche Frau zu entführen, weil ein ernster, geachteter Schriftsteller, ein Tacitus, dies Verbrechen geißelt. Ein schöner Grund!
14. Oktober 1808.
Die Herrscher haben in Fragen des Geschmacks einen großen Vorteil: sie sind von der Auslese der zeitgenössischen Künstler umgeben. Der Kaiser hat Goethe in Erfurt eine Audienz gewährtDie berühmte Unterredung Goethes mit Napoleon fand am 2. Oktober 1808 statt. und mit ihm über die deutsche Literatur gesprochen. Der Dichter wird vermutlich seine leitenden Gedanken dargelegt haben. Der Kaiser kann über diese Literatur also viel richtigere Ansichten haben als ein Durchschnittsmensch. So ist es in allem. Ludwig XIV. sprach mit Boileau, Molière und Racine über die Dichtkunst.
28. Oktober 1808.
Der schönste Herbsttag, den ich hier erlebt habe. Alles Weitere umstehend.Es sind einige Gedanken über den Spanischen Erbfolgekrieg, an dem Stendhal damals arbeitete. Charlotte ist eifersüchtig und von Liebe durchdrungen ... Ich mache heute meinen ersten deutschen Aufsatz.
November 1808.
Reizende Reise nach Kassel. Hin und zurück in Begleitung des Holländers Mauvillon.
Am 11. November 1808 erhielt ich in Braunschweig Befehl, nach Paris zu kommen. Ich bin am 1. Dezember dort angelangt.