Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Neununddreißigstes Kapitel

Von Bard bis Mailand

Civitavecchia, 15. März 1836.

Am Abend, als ich darüber nachdachte, kam ich nicht von meinem Erstaunen los. »Was? Weiter nichts?« fragte ich mich. Dies etwas alberne Erstaunen und dieser Ausruf sind mir durchs ganze Leben gefolgt. Ich glaube, das kommt von der Einbildungskraft... Ich war so töricht, ihn mehrmals laut zu machen; schließlich schalt mich der Kapitän aus. Trotz meiner Unschuld hielt er ihn für Prahlerei. Meine Naivitäten haben sehr oft die gleiche Wirkung gehabt.

Ein lächerliches oder auch nur übertriebenes Wort konnte mir die schönsten Dinge verleiden. So hielt ich bei Wagram neben einem GeschützVgl. Seite 9, Anm. 2. und das Gras fing Feuer. Da rief ein mir befreundeter Oberst, ein rechter Prahlhans: »Welch eine Gigantenschlacht!« Der Eindruck des Großartigen war mir für den ganzen Tag verdorben. Doch zurück zu meiner Erzählung!

Ehe ich meinen Felsvorsprung verließ, merkte ich, daß die Kanonade von Bard einen Höllenlärm machte. Das war das Erhabene, nur etwas zu sehr mit Gefahr verknüpft. Statt rein zu genießen, mußte die Seele sich etwas zusammennehmen... Sehr deutlich entsinne ich mich des Walles, von dem heftig auf uns geschossen wurde. Der Kommandant dieses meisterhaft angelegten Sperrforts glaubte den General Bonaparte aufzuhalten.

Am Abend waren wir, glaube ich, im Quartier bei einem Pfarrer, der bereits von den 25 000 bis 30 000 Mann, die vor dem Kapitän Burelvillers und seinem Schüler durchmarschiert waren, viel zu leiden gehabt hatte. Der selbstsüchtige, boshafte Kapitän fluchte; ich hatte Mitleid mit dem Pfarrer und sprach ihn, glaube ich, auf Lateinisch an, um seine Angst zu lindern. Das war eine große Sünde; zum Glück holte der Kapitän mich nicht.

Aus Dankbarkeit brachte der Pfarrer mir bei, daß Donna Frau hieß, cattiva schlecht, und daß ich fragen mußte: Quante sono miglia di quà a Ivrea? um zu erfahren, wieviel Meilen es noch bis Ivrea seien. Das war der Anfang meines Italienisch.

Der Anblick der vielen gefallenen Pferde und der übrigen Trümmer der Armee zwischen Bard und Ivrea machte mir solchen Eindruck, daß ich keine deutliche Erinnerung mehr daran habe. Zum erstenmal hatte ich jenen Eindruck, den ich seitdem so oft empfunden habe: mich zwischen den Kolonnen einer Armee Napoleons zu befinden. Der Eindruck des Augenblicks verschlang alles, genau wie die Erinnerung an den ersten Abend, wo Madame Jules (Gaulthier) mich als Geliebten behandelte. Meine Erinnerung ist nur ein bei diesem Anlaß gedichteter Roman.

Ich sehe noch den ersten Blick auf Ivrea auf dreiviertel Stunden Entfernung. Es war links im Hintergrunde von Bergen überragt, vielleicht jenem Rezegon di Lek, den ich später so bewundert habe.Siehe »Reise in Italien« (Bd. V dieser Ausgabe), S. 40. Es war zwar nicht schwer, von den verängstigten Einwohnern einen Quartierzettel zu kriegen, wohl aber, ihn gegen die Trupps von drei bis vier plündernden Soldaten zu verteidigen. Mir ist, als hätte ich zum Säbel gegriffen, um unsere Haustür zu verteidigen, die Jäger zu Pferde ins Biwak fortschleppen wollten.

Am Abend hatte ich einen unvergeßlichen Eindruck. Ich ging ins Theater, gegen den Willen des Kapitäns, der mein kindisches Wesen und meine Fechtkunst wohl richtig einschätzte und daher gewiß fürchtete, ich möchte an einer Straßenecke erstochen werden. Uniform trug ich nicht, und das war wohl das Schlimmste inmitten der Kolonnen einer Armee.

Kurz, ich ging ins Theater. Gegeben wurde Cimarosas »Matrimonio segreto«; der Darstellerin der Karoline fehlte ein Vorderzahn. Das ist alles, was mir von einem göttlichen Glück geblieben ist. Sofort verschwanden meine beiden Großtaten, der Übergang über den Sankt Bernhard und die Feuertaufe. Das alles schien mir roh und gemein. Ich empfand eine Begeisterung wie bei der Kirche von Rolle, aber weit reiner und lebhafter. Bei Rousseau hat mich die Pedanterie der Julie von Etange stets geärgert; bei Cimarosa war alles göttlich. In den Pausen meiner Freude sagte ich mir: »Und nun bist du einem rohen Handwerk verfallen, statt dein Leben der Musik zu weihen!«

Ich antwortete mir ohne Groll: »Ich muß leben. Ich will die Welt sehen und ein tapfrer Soldat werden. Nach ein bis zwei Jahren kehre ich zur Musik, meiner einzigen Liebe, zurück.«

Ich fühlte neues Leben; all meine Enttäuschung über Paris war verschwunden. Nun sah ich deutlich, wo das Glück war. Der Abend in Ivrea löschte in mir auch die Erinnerung an das Dauphiné für immer aus. Ohne den Anblick der schönen Berge am Morgen bei der Ankunft wäre sie vielleicht nicht auf ewig tot gewesen. In Italien leben und solche Musik hören, ward der Ausgangspunkt aller meiner Gedanken.

Am nächsten Morgen, als ich mit dem Kapitän neben unseren Pferden einherging, war ich so kindisch, von meinem Glück zu sprechen. Er antwortete mir mit groben Witzen über die lockeren Sitten der Schauspielerinnen. Das Wort Schauspielerin war mir heilig, sowohl wegen der Erinnerung an Fräulein Kably wie vor allem wegen der Karoline (im »Matrimonio segreto«). Ich glaube, wir veruneinigten uns ernstlich und ich hegte Duellgedanken. Ich begreife meinen Wahnsinn nicht; es war wie meine Herausforderung des trefflichen Joinville (jetzt Baron und Militärintendant in Paris). Ich konnte meinen Säbel nicht wagrecht halten.

Nachdem ich mich mit dem Kapitän wieder vertragen hatte, gerieten wir, glaube ich, in die Schlacht am Tessin, aber es war keine Gefahr dabei. Doch ich sage nichts weiter, um keinen Roman zu schreiben. Dies Gefecht wurde mir wenige Monate später mit allen Einzelheiten erzählt, und ich fürchte, diese Darstellung für eine Erinnerung zu halten ... Jedenfalls konnte es sich für uns nur um Geschützfeuer handeln; vielleicht fürchteten wir auch, zusammengehauen zu werden, da wir mitsamt einer Kavallerieabteilung zurückgeworfen wurden. Deutlich sehe ich nun noch den Dampf der Geschütze oder das Gewehrfeuer; alles andre ist undeutlich.

Abgesehen von dem lebhaftesten, tollsten Glücksgefühl habe ich von Ivrea bis Mailand nichts zu erzählen. Der Anblick der Landschaft entzückte mich. Es war nicht die vollkommene Schönheit, aber als jenseits des Tessin der Baumreichtum und die Kraft des Pflanzenwuchses, selbst die hohen Maisfelder die Aussicht auf hundert Schritte beschränkten, fand ich: das war das Schöne.

So war Mailand für mich zwanzig Jahre lang (von 1800 bis 1820). Kaum beginnt dies geliebte Bild sich von der Schönheit zu trennen. Mein Verstand sagt mir: Die wahre Schönheit, das ist Neapel und der Posilipp, das ist die Umgebung von Dresden, sind die niedergelegten Wälle von Leipzig, die Elbe bei Altona, der Genfer See usw. Mein Herz empfindet nur Mailand und die üppige Landschaft seiner Umgebung.Hier bemerkt Stendhal am 26. März bei der Durchsicht des Kapitels: »Genehmigung des Urlaubs nach Paris. Die Phantasie fliegt fort. Damit Unterbrechung dieser Arbeit. Die Langeweile macht den Geist schwerfällig: zu oft in Rom 1832-36 verspürt. Dazu die ewige Unterbrechung durch die Amtsgeschäfte. Das merkt man der Arbeit gewiß an.« In der Tat hat Stendhal nur noch das folgende Kapitel geschrieben; sein dreijähriger Urlaub in Paris nahm ihn als produktiven Schriftsteller ganz in Anspruch. Er verließ Civitavecchia nach dem 5. Mai 1836 und war am 25. in Paris. Erst im Juni 1839 kehrte er zurück.


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