Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Vierunddreißigstes Kapitel

Im Kriegsministerium

Civitavecchia, 1. bis 4. März 1836.

Pierre Daru war ein großer Arbeiter. Allerdings sprach er immerzu davon und wenn er zum Essen kam, war er stets schlechter Laune. Bisweilen ließ er seinen Vater und die ganze Familie eine Stunde lang warten. Schließlich erschien er mit verbüffeltem Gesicht und roten Augen. Am Abend ging er oft nochmals in sein Bureau; allerdings war alles neu zu ordnen: wurde doch insgeheim der Marengofeldzug vorbereitet.

Jetzt werde ich geboren, wie Tristram Shandy sagt, und der Leser wird der Kindereien quitt.

Eines Tages nahm sein Vater mich beiseite und sagte zu mir (ich zitterte): »Mein Sohn will Sie im Kriegsministerium arbeiten lassen.« Wahrscheinlich bedankte ich mich nicht mal, sondern verharrte in scheuem Schweigen. Am nächsten Tage ging ich mit dem Grafen Daru (so will ich ihn nennen, obgleich er erst später Graf wurde). Ich bewunderte ihn, konnte mich aber nie an ihn gewöhnen, noch er an mich. Wir gingen ins Kriegsministerium. Dort sehe ich mich an meinem Tische sitzen. An dem andern Schreibtisch saß Mazoyer,1775-1841. Sein »Theseus« erschien 1800. der Verfasser des Trauerspiels »Theseus«, einer blassen Nachahmung Racines.

Am Ende des Gartens standen unglückliche, stark gekappte Linden – meine ersten Freunde in Paris. Ihr Schicksal rührte mich. Ich verglich sie mit den schönen Linden in Claix, die inmitten der Berge frei aufwuchsen. Aber hätte ich in jene Berge zurückkehren mögen? Ja, wenn ich meinen Vater dort nicht wiedergefunden hätte, wenn ich bei meinem Großvater hätte leben können, aber frei.

Die Linden begannen zu knospen; endlich bekamen sie Blätter; ich war tief gerührt. Der Anblick dieser Freunde erfrischte meine Seele. Ich liebe sie noch heute.

Herr Daru setzte mich an einen Schreibtisch und ließ mich einen Brief abschreiben. Von meiner Handschrift will ich nichts sagen, obwohl sie weit schlechter war als jetzt, aber er entdeckte, daß ich »dies« mit ß schrieb. Das war also der Literat, der glänzende Humanist, der Racine die Palme streitig machte und in Grenoble alle Preise davon getragen hatte! Heute, aber erst heute, bewundre ich die Güte der ganzen Familie Daru. Was sollte man mit einem so hochmütigen und unwissenden Geschöpf anfangen?

Trotzdem griff ich Racine in meinen Unterhaltungen mit Mazoyer kräftig an. Wir waren unser vier, und die beiden andern hörten, glaube ich, zu, wenn ich mit Mazoyer stritt. Ich hatte eine eigne Theorie, die ich unter dem Titel »Filosofia nova«Bruchstücke sind in Stendhals »Journal«, S. 451 f., veröffentlicht worden. zu Papier bringen wollte ... Ich glaube, was mich vor dem schlechten Geschmack bewahrt hat, die »Cléopédie« des Grafen Daru und bald darauf den Abbé Delille zu bewundern, war diese eigne Theorie, die sich auf den wahren, tiefen, überlegten Genuß gründete, den ich der Lektüre von Cervantes, Shakespeare, Corneille, Ariost und dem Haß auf die Kindereien Voltaires und seiner Schule verdankte. Darüber sprach ich mit schneidender, ja fanatischer Schärfe, wenn ich überhaupt zu sprechen wagte. Ich ließ keinen Zweifel darüber, daß alle anständigen und nicht literarisch verbildeten Menschen ebenso dächten. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß die große Mehrzahl sich in ihrem natürlichen Kunstempfinden durch den Modeautor leiten läßt; das war 1788 Voltaire und 1828 Walter Scott. Und heute, im Jahre 1836? Zum Glück keiner.

Diese Vorliebe für Shakespeare und Ariost (wenn auch nur in Übersetzungen) und nächstdem für die »Neue Heloise« bewahrte mich also vor dem schlechten Geschmack, der im Daruschen Hause herrschte und der für mich um so gefährlicher, um so ansteckender war, als Graf Daru gerade damals produktiv war und aus anderen Gründen von jedermann, auch von mir, bewundert wurde. War er doch der Hauptorganisator jener Armee gewesen, die Frankreich bei Zürich unter Massena herausgehauen hatte. Vater Daru wiederholte uns immerfort Massenas Worte von seinem Sohn: »Das ist ein Mann, den ich meinen Freunden wie meinen Feinden vorstellen kann.« Immerhin stahl Massena wie eine Elster, d. h. aus Instinkt (in Rom spricht man noch davon); Herr Daru aber hat nie einen Pfennig gestohlen ...

So turmhoch aber Herr Daru als Mann der Arbeit und als Berater über mir und vielen andern stand, er besaß doch nicht Scharfsinn genug, um den inneren Wert eines hochmütigen Narren zu erkennen. Nur mein Kollege Mazoyer, der sich über mein Gemisch von Hochmut und Wahnsinn offenbar weniger langweilte als über den Stumpfsinn unserer beiden Arbeitsgenossen, machte einiges Aufheben von mir, aber ich war gleichgültig dagegen. Für mich war alles, was den »gewandten Höfling« Racine bewunderte, unfähig, die wahre Schönheit zu erkennen und zu empfinden. Die Schmähreden, mit denen Mazoyer damals Shakespeare beehrte, rührten mich bis zu Tränen und machten mir diesen großen Dichter noch teurer.

Später wurde meine Bewunderung für Mathilde Dembowska durch nichts so bestärkt wie durch den Mailänder Stadtklatsch. Ich darf diese reizende Frau wohl hier nennen, denn wer denkt heute noch an sie? Bin ich nicht vielleicht der einzige seit den elf Jahren, wo sie die Erde verließ? Ein gleiches gilt für die Gräfin Alexandrine Daru.Im Urtext Petit. Bin ich heute, nach zweiundzwanzig Jahren, nicht ihr bester Freund? Und wenn dies Buch je erscheinen sollte, wer denkt dann noch an Mathilde und Alexandrine? Werden sie sich nicht über dies Buch freuen, wenn sie vom Jenseits darauf herabblicken, trotz ihrer frauenhaften Bescheidenheit und ihrem Abscheu, die Öffentlichkeit zu beschäftigen? For who to dumb forgetfulness a preyDenn wer dumpfem Vergessen zur Beute fiel. Aus Grays »Elegien«, Stanze 22 (1750). – wird er nicht nach so langer Zeit froh sein, seinen Namen im Mund eines Freundes zu hören? Aber zum Teufel, wo war ich denn? In meinem Bureau, wo ich »dies« mit ß schrieb.

Ein gewöhnlicher Leser denkt vielleicht, diese Abschweifung hätte nur den Zweck, meine Scham über diesen orthographischen Schnitzer zu verbergen. Doch er irrt sich. Ich bin ein andrer geworden. Die Torheiten des Jünglings von 1800 sind Entdeckungen, die ich meist erst beim Schreiben dieses Buches mache. Nach so vielen Jahren und Erlebnissen erinnere ich mich nur noch des Lächelns meiner Geliebten. Die Farbe der Uniform, die ich trug, hatte ich schon am nächsten Tage vergessen. Und du weißt doch, geneigter Leser, was eine Uniform bei einer siegreichen Armee ist, dem einzigen Augenmerk der Nation, wie es die Heere Napoleons waren. Ich weiß nicht mal mehr, in welcher Straße das Bureau lag, in der ich zum ersten Male die Feder des Verwaltungsbeamten ergriff.

Wie anders wäre es gewesen, hätte Herr Daru zu mir gesagt: »Wenn du einen Brief zu schreiben hast, überlege erst, was du schreiben willst, dann die Form des Tadels oder des Befehls, den der Minister, der ihn unterzeichnet, ihm zu geben wünscht. Bist du dir darüber klar, so schreibe dreist drauf los.« Anstatt dessen suchte ich die Form von Herrn Darus Briefen nachzuahmen. Er gebrauchte häufig die Wendung »in der Tat«, und so spickte ich meine Briefe damit. Wie ganz anders waren die großen Schreiben, die ich 1809 in Wien entwarf, als ich eine scheußliche Krankheit,Beyle hatte seit 1808 die Syphilis, wie ein ärztliches Attest des Dr. Richerand in Paris vom 14. Dezember dieses Jahres beweist. (Arbelet.) die Sorge für ein Lazarett mit 4000 Verwundeten, eine Mätresse, die ich aushielt, und eine angebetete Geliebte hatte.Gräfin Daru. Diesen großen Wandel verdanke ich lediglich eigner Überlegung. Herr Daru gab mir nie einen Rat und strich die Briefe, die ihm mißfielen, wütend durch.

Der gute Martial Daru stand mit mir stets auf dem Scherzfuß. Er kam oft ins Kriegsministerium; das war für ihn als Kriegskommissar der Hof. Er hatte damals die Lazarettverwaltung des Val de Grace unter sich, und sein Bruder, der beste Kopf im Ministerium, besaß das Geheimnis der Reservearmee. Die Eitelkeit aller Kriegskommissare war bis zur Siedehitze gesteigert; es handelte sich um die Organisation dieser Körperschaft und vor allem um die Bestimmung der Uniform für die Intendanturräte; sie bildete den Hauptgesprächsstoff im Daruschen Hause. Der gute Martial eröffnete mir bald die Aussicht, diese reizende Uniform zu tragen. Ich glaube sie noch zu sehen: einen königsblauen Rock mit goldgesticktem Kragen und Aufschlägen. Doch in dieser fernliegenden Zeit verschmilzt das Geschehene mit dem, was ich mir nur einbilde, wenigstens bei Dingen der Eitelkeit, die bei mir nur eine Leidenschaft zweiten Ranges war.

Jedermann zitterte beim Betreten von Darus Bureau. Ich hatte schon Angst, wenn ich nur die Tür sah. Ich war von jeher sehr empfindlich, und er konnte maßlos grob werden. Allerdings hatte ich lange eine zu untergeordnete Stellung, um von ihm angeranzt zu werden. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, entsinne ich mich nicht, daß er mich je wirklich schlecht behandelt hat ... Ich komme daher auf den ganz neuen Gedanken: sollte Herr Daru mich geschont haben? Das ist wohl möglich. Aber meine Angst vor ihm war stets derart, daß ich erst jetzt, 1836, darauf komme.

Die groben Gesellen, mit denen er zu tun hatte, empfanden die Ausfälle dieses wütenden Ochsen gegen alle, die ihm in Augenblicken der Überarbeitung nahten, wohl nicht so wie ich. Doch mit diesem Schrecken, den er verbreitete, regierte er die sieben- bis achthundert Beamten des Kriegsministeriums, dessen fünfzehn bis zwanzig Abteilungsleiter, meist talentlose Leute, er gewaltig anblies. Diese Schafsköpfe verkürzten und vereinfachten die Dienstgeschäfte nicht etwa, sondern brachten sie oft in Verwirrung, und das konnte einen Mann wohl verrückt machen, der auf seinem Schreibtisch zwanzig oder dreißig Schriftstücke liegen sah, die schleunige Erledigung heischten. Oft sah ich auf Darus Schreibtisch einen fußhohen Stoß solcher Briefe, worin um Befehle gebeten wurde ...

Meine Beziehungen zu ihm, die auf diese Weise im Januar oder Februar 1800 begannen, endeten erst mit seinem Tode im Jahre 1829. Er war mein Wohltäter, insofern er mich vielen andern vorgezogen hat. Aber ich habe manchen Regentag in einem überheizten Zimmer mit Kopfschmerzen gesessen und von zehn Uhr früh bis ein Uhr nachts geschrieben, und das unter den Augen eines Mannes, der stets wütend und aufgebracht war, weil er Furcht hatte. So prallte der Ball stets zurück. Er hatte eine Todesangst vor Napoleon und ich vor ihm.

In Erfurt im Jahre 1809 erreichte unsre Arbeit ihr non plus ultra. Herr Daru besorgte mit mir allein die ganzen Intendanturgeschäfte der Armee drei oder acht Tage lang. Wir hatten nicht mal einen Schreiber. Entzückt über seine Leistung brauste Herr Daru nur zwei- bis dreimal am Tage auf; das war seine Erholung. Ich ärgerte mich über mich selbst, daß mich seine harten Worte verletzten. Meine Beförderung wurde dadurch weder beeinträchtigt noch gefördert, und außerdem war ich kein Streber. Heute erkenne ich es: ich suchte mich von Herrn Daru möglichst entfernt zu halten, und wenn es nur durch eine halb offne Tür war. Seine harten Worte über Anwesende und Abwesende waren mir unerträglich.


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