Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Hier das Bild eines wackeren Mannes, mit dem ich acht Jahre lang alle meine Vormittage verbrachte. Uns verband Achtung, aber keine Freundschaft. Ich war im Hotel de Bruxelles abgestiegen, weil dort der nüchternste, trockenste Piemontese wohnte, das genauste Ebenbild des La Rancune (in Scarrons »Roman comique«), dem ich je begegnet bin. Der Baron von MaresteIm Urtext der Deckname de Lussinge. war von 1821 bis 1831 mein Lebensgefährte. Er war um 1785 geboren und im Jahre 1821 sechsunddreißig Jahre alt. Er entfremdete sich mir erst und wurde unhöflich gegen mich, als ich in den Ruf kam, geistreich zu sein. Das war nach dem furchtbaren Unglück vom 15. September 1826.
Mareste war klein, vierschrötig, untersetzt, sah keine drei Schritt weit, war aus Geiz stets schlecht angezogen und von seltnem Scharfsinn. Bei unsern Spaziergängen stellte er stets Berechnungen über die Ausgaben eines in Paris allein lebenden Junggesellen an. In meinen romantischen, leuchtenden Illusionen schlug ich Genie, Güte, Ruhm und Glück eines mir begegnenden Menschen immer doppelt zu hoch an; er aber schätzte sie nur auf die Hälfte.
Das war die Grundlage unserer Unterhaltung in acht Jahren; wir suchten uns von einem Ende von Paris zum andern. Bei seinen sechsunddreißig Jahren besaß er das Herz und das Hirn eines Fünfzigjährigen. Wirklich nahe gingen ihm nur persönliche Ereignisse; dann wurde er toll wie in der Zeit seiner Eheschließung. Sonst war die Gemütsbewegung ständig die Zielscheibe seiner Ironie. Mareste hatte nur eine Religion: die Achtung vor vornehmer Abkunft. In der Tat stammte er von einer Familie aus Bugey ab, die dort seit 1500 eine große Rolle spielte; sie war den Herzögen von Savoyen nach Turin gefolgt, als sie Könige von Sardinien wurden.
Mareste war in Turin in der gleichen Akademie erzogen worden wie Alfieri; dort hatte er jene tiefe piemontesische Bosheit angenommen, die in der Welt einzig dasteht, aber im Grunde nichts ist als Schicksals- und Menschenverachtung. Manche Züge davon finde ich in Rom wieder, aber außerdem gibt es in Rom Leidenschaften, und da der Schauplatz größer ist, weniger Spießbürgertum. Trotzdem habe ich Mareste geliebt, bis er reich, dann geizig, furchtsam und schließlich im Verkehr unhöflich und im Januar 1830 fast unanständig wurde.
Er hatte eine geizige und vor allem verrückte Mutter, die ihr ganzes Vermögen der Kirche hätte vererben können. Da dachte er ans Heiraten, damit seine Mutter an Verträge gebunden würde und ihr Hab und Gut nicht ihrem Beichtvater vermachte. Seine Ränke und Maßnahmen, als er auf Freiersfüßen ging, haben mich sehr belustigt. Mareste war im Begriff, um ein reizendes Mädchen anzuhalten, das ihn glücklich gemacht und unsere Freundschaft auf ewig besiegelt hätte: die Tochter des Generals Gilly, die später einen Advokaten Douin heiratete. Aber der General war nach 1815 zum Tode verurteilt worden, und das hätte die edle Baronin, Marestes Mutter, entsetzt. Zu seinem Glück scheiterte die Ehe mit einer Kokette, der späteren Frau Varambon. Schließlich heiratete er eine richtige Gans, groß und ganz hübsch – wenn sie eine Nase gehabt hätte. Diese Gans war ein Beichtkind des Monseigneur de Quelen, des Erzbischofs von Paris, in dessen Salon sie beichtete. Zufällig kam ich hinter die Liebschaften dieses Erzbischofs, der damals wohl ein Verhältnis mit Frau von Podinas, der Ehrendame der Herzogin von Berry, unterhielt, die vorher oder nachher die Geliebte des berüchtigten Herzogs von Ragusa war.Der Napoleonische Marschall Marmont, Herzog von Ragusa (1774–1852). Eines Tages beging ich die Indiskretion – wenn ich mich irre, ist dies einer meiner zahlreichen Fehler –vor Frau von Mareste Witze über den Erzbischof zu machen. Es war im Hause der Gräfin d'Argout.Im Urtext der Deckname Gräfin d'Avelles. Sie war die Gattin des späteren Ministers Graf Apollinaire d'Argout (1782–1858).
»Liebe Kusine, gebieten Sie Herrn Beyle Stillschweigen«, rief sie wütend aus.
Seitdem war sie meine Feindin, freilich mit recht seltsamen Rückfällen in die Koketterie. Aber da bin ich in eine recht lange Abschweifung geraten; ich fahre indes fort, da ich Mareste acht Jahre lang täglich zweimal sah und später auf die Baronin, eine große, üppige Erscheinung, zurückkommen muß.
Mit ihrer Mitgift, seinem Gehalt als Bureauchef im Polizeiministerium und den Geschenken seiner Mutter besaß Mareste im Jahre 1828 etwa 22000 bis 23000 Franken Einkommen. Seitdem beherrschte ihn nur noch ein Gefühl: die Angst vor Verlusten. Er verachtete die Bourbonen, aber nicht wie ich aus politischen Idealen, sondern wegen ihrer Ungeschicklichkeit. Schließlich konnte er Kundgebungen ihrer Dummheit nur noch mit Zornesausbrüchen ansehen.
Lebhaft und unwillkürlich sah er darin eine Gefahr für sein Eigentum. Jeder Tag gebar eine neue Torheit, wie man es aus den Tageszeitungen von 1826 bis 1830 erfahren kann. Abends ging Mareste ins Theater, aber nie in Gesellschaft; er fühlte sich in seiner Stellung etwas gedemütigt. Allmorgendlich trafen wir uns im Café, und ich erzählte ihm, was ich am Abend vorher gehört hatte. Gewöhnlich scherzten wir über unsere verschiedene Parteiansicht. Am 3. Januar 1830, glaube ich, bestritt er irgendeine bourbonenfeindliche Tatsache, die ich bei dem damaligen Staatsrat CuvierBaron Georges Cuvier (1769 – 1832), bekannter Naturforscher. in aller Form gehört hatte. Auf diese Dummheit folgte ein langes Stillschweigen. Wir gingen stumm durch das Louvre. Ich hatte damals nur das Nötigste, er dagegen, wie gesagt, 22000 Franken. Seit Jahresfrist glaubte ich wahrzunehmen, daß er mir gegenüber einen überlegenen Ton anschlagen wollte. Bei unsern politischen Gesprächen pflegte er zu sagen: »Ach, Sie haben ja kein Vermögen!«
Schließlich brachte ich das peinliche Opfer dar, das Café zu wechseln, sagte ihm aber nichts davon. Seit neun Jahren war ich täglich ins Café de Rouen gegangen. Nun besuchte ich das Café Lemblin, das berühmte liberale Kaffeehaus, ebenfalls im Palais Royal. So sah ich Mareste nur alle vierzehn Tage. Unsre Freundschaft war uns beiden zum Bedürfnis geworden; wir suchten sie wieder einzurenken, aber sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Musik und Malerei, über die er Bescheid wußte, gaben uns zwar einen neutralen Boden, aber die Unhöflichkeit seines Benehmens kam immer wieder schroff zum Ausbruch, sobald wir auf die Politik kamen und er Angst um seine 22 000 Franken hatte. Dann gab es kein Weiterkommen mehr. Sein gesunder Verstand hielt mich ab, mich zu sehr in meine poetischen Träumereien zu verlieren, und meine Heiterkeit – denn ich wurde heiter oder lernte, es zu scheinen – verscheuchte seine trübe Laune und seine schreckliche Furcht vor Verlusten.
Als ich 1830 meine bescheidene Stellung erhielt, fand er das Gehalt wohl zu hoch. Aber schließlich sah ich ihn von 1821 bis 1828 täglich zweimal, und abgesehen von der Liebe und meinen literarischen Plänen, von denen er nichts verstand, plauderten wir lang und breit über alle unsre Handlungen, in den Tuilerien und auf dem Quai du Louvre, der zu seinem Bureau führte. Von elf bis zwölf Uhr waren wir zusammen, und oft gelang es ihm, meinen Kummer, von dem er nichts ahnte, zu verscheuchen.
Damit bin ich am Ende dieser langen Abschweifung. Aber es handelte sich um die Hauptperson dieser Denkwürdigkeiten, um den Mann, auf den ich später in so scherzhafter Weise meine leidenschaftliche Liebe für Madame AzurAlberthe de Rubempré. übertrug. Er ist seit zwei Jahren ihr treuer Liebhaber, und, was noch komischer ist, er hat ihr Treue beigebracht. Sie ist eine der am wenigsten puppenhaften Französinnen, die ich kenne. Doch ich will nicht vorgreifen; nichts ist bei dieser ernsten Geschichte schwieriger, als die zeitliche Reihenfolge innezuhalten.
Wir sind also im August 1821, wo ich mit Mareste im Hôtel de Bruxelles wohnte und mit ihm um fünf Uhr zu der ausgezeichneten Wirtstafel ging. Dort konnte Mareste, der sich stets scheute, mich seinen Freunden vorzustellen (das erkenne ich jetzt im Jahre 1832) nicht umhin, mich bekannt zu machen:
1. mit einem liebenswürdigen, hübschen, aber völlig geistlosen Junggesellen, dem Bankier LolotIm Urtext der Deckname Barot. aus Lunéville, der sich damals ein Vermögen von 80 000 Franken Einkommen erwarb;
2. mit einem bei Waterloo ausgezeichneten pensionierten Offizier, der völlig geistlos und, wenn das möglich ist, noch phantasieloser war, aber ein tadelloses Benehmen und so viele Frauen besessen hatte, daß er sich ehrlich über sie aussprach.
Die Unterhaltung mit diesem Herrn Poitevin, der Anblick seines gesunden Menschenverstandes ohne eine Spur von Phantasie, seine Gedanken über die Frauen, sein Rat in Kleiderfragen waren mir sehr nützlich. Der arme Kerl hatte, glaube ich, 1200 Franken Rente und eine Pension von 1500 Franken; dabei war er einer der bestgekleideten jungen Pariser. Allerdings ging er nie ohne eine Vorbereitung von zweieinhalb Stunden aus. Zwei Monate lang hatte er zu guter Letzt ein Verhältnis mit der Marquise von R..., der ich später so viel zu danken hatte und die zu besitzen ich mir zehnmal vornahm, ohne je den Versuch zu machen, was sehr falsch von mir war. Sie verzieh mir meine Häßlichkeit, und ich war es ihr schuldig, ihr Liebhaber zu werden. Ich werde versuchen, diese Schuld bei meiner ersten Reise nach Paris abzutragen; sie wird für meine Aufmerksamkeit wohl desto empfänglicher sein, als wir beide nicht mehr jung sind. Aber ich prahle vielleicht; sie ist seit zehn Jahren sehr tugendhaft – freilich nach meiner Ansicht gegen ihren Willen.
Nur durch Nachdenken über das, was ich niederschreiben will, werde ich mir klar über das, was im Jahre 1821 in meinem Herzen vorging. Ich habe stets in den Tag hinein gelebt und tue es noch, ohne irgendwie an das Morgen zu denken. Daß die Zeit vergeht, merke ich nur an den Sonntagen, wo ich mich gewöhnlich langweile und über alles ärgere, warum, habe ich nie ergründen können. Im Jahre 1821 in Paris waren die Sonntage freilich schrecklich für mich. Ich saß unter den hohen Kastanienbäumen in den Tuilerien, die zu dieser Jahreszeit so majestätisch sind, und dachte an Mathilde, die ihre Sonntage bei der wohlhabenden Frau Traversi, ihrer unheilvollen Freundin, verbrachte. Die haßte mich, war eifersüchtig auf ihre Kusine und hatte ihr im Bunde mit ihren Freundinnen eingeredet, daß sie sich völlig entehrte, wenn sie mich zum Liebhaber nähme.
Da ich in düstere Träumereien versank, solange ich nicht mit meinen drei Freunden Mareste, Lolot und Poitevin zusammen war, nahm ich ihre Gesellschaft nur als Zerstreuung hin. Die Freude, für ein Weilchen von meinem Schmerz abgelenkt zu werden, oder der Widerwille gegen diese Ablenkung bestimmte mein ganzes Benehmen. Wenn einer dieser Herren mich für traurig hielt, sprach ich viel, und es begegnete mir, daß ich die größten Dummheiten sagte, vor allem Dinge, die man in Frankreich nie aussprechen darf, weil sie die Eitelkeit des Zuhörers verletzen. Poitevin vergalt mir den Ärger über solche Bemerkungen hundertfältig.
Ich habe stets vielzuviel aufs Geratewohl und ohne Überlegung geredet, damals nur, um meinen nagenden Schmerz für einen Augenblick zu lindern, und vor allem, um dem Vorwurf zu entgehen, ich hätte in Mailand eine Liebe zurückgelassen und sei daher traurig. Das hätte zu Scherzen über meine angebliche Geliebte geführt, die mir unerträglich gewesen wären. Ich muß jenen drei phantasielosen Menschen tatsächlich verrückt erschienen sein. Später erfuhr ich, daß man mich für höchst affektiert gehalten hatte. Während ich dies schreibe, erkenne ich: wenn ich durch Zufall oder aus etwas Klugheit Umgang mit Frauen gesucht hätte, so hätte ich trotz meiner Jahre, meiner Häßlichkeit usw. Erfolg und vielleicht Trost bei ihnen gefunden. Nur durch Zufall bekam ich drei Jahre darauf (1824) eine Geliebte. Erst damals war die Erinnerung an Mathilde nicht mehr herzzerreißend. Sie wurde für mich zu einer zarten, tieftraurigen Traumgestalt, deren Erscheinen mich in höchstem Maße zärtlich, gut, gerecht und nachsichtig machte.
Es fiel mir sauer, im Jahre 1821 zum ersten Male wieder die Häuser aufzusuchen, wo man mich zu der Zeit, wo ich noch am Hofe Napoleons lebte, wohl aufgenommen hatte. Ich schob es immer wieder hinaus. Als ich schließlich alten Freunden, die ich auf der Straße traf, die Hand drücken mußte, erfuhr man, daß ich in Paris war, und beschwerte sich über meine Nachlässigkeit.
Graf d'Argout, mein Kamerad, als ich Auditor im Staatsrat gewesen war, ein sehr tüchtiger, unermüdlicher Arbeiter, aber geistlos, war 1821 Pair von Frankreich geworden. Er gab mir eine Eintrittskarte zum Pairsgericht, vor dem einer Anzahl armer, törichter Narren der Prozeß gemacht wurde. Man nannte ihre Sache, glaube ich, die Verschwörung vom 19. oder 29. August. Es war nur ein Zufall, daß sie nicht geköpft wurden. Dort sah ich zum erstenmal Odilon Barot, ein Männchen mit schwarzblauem Bart, das einen jener armen Toren verteidigte, denen ein Drittel oder ein Viertel des zu einer Verschwörung nötigen Mutes fehlt. Barots Logik machte mich betroffen. Ich stand gewöhnlich hinter dem Stuhl des Kanzlers d'Ambrays, der die Verhandlung in einer für einen Adligen recht ehrlichen Weise führte. Er hatte den Ton und die Manieren meines Hotelwirts Petit, nur weniger vornehm. Ich rühmte seine Unparteilichkeit am nächsten Tage bei der Gräfin Beugnot. Dort befand sich auch die Geliebte d'Ambrays, eine frische, üppige Frau von sechsunddreißig Jahren. Es war sehr falsch von mir, mich mit ihr nicht anzufreunden, mein Wahnsinn war in ihren Augen ein Vorzug an mir. Übrigens hielt sie mich für den Liebhaber oder einen der Liebhaber der Gräfin Beugnot. Dort hätte ich Abhilfe für meine Leiden gefunden, aber ich war blind.
Eines Tages, als ich aus dem Pairsgericht kam, traf ich meinen Vetter, den Baron Martial Daru. Er hielt viel auf seinen Titel; sonst war er der beste Mensch auf der Welt, mein Wohltäter und Lehrer, der mir 1800 in Mailand und 1807 in Braunschweig das Wenige beigebracht hat, was ich von der Kunst des Verkehrs mit Frauen verstehe. Er hatte ihrer zweiundzwanzig im Leben besessen, und zwar die hübschesten, das Beste, was es am Orte gab. Ich habe die Bilder, Locken, Briefe usw. verbrannt.
»Was, du bist in Paris? Seit wann?«
»Seit drei Tagen.«
»Komm morgen zu uns. Mein Bruder wird sich freuen, dich zu sehen.«
Was war meine Antwort auf diese höchst liebenswürdige und herzliche Begrüßung? Ich habe diese trefflichen Verwandten erst sechs bis sieben Jahre später aufgesucht. Und aus Scham, mich bei meinen Wohltätern nicht gezeigt zu haben, bin ich vor ihrem frühen Tode nicht zehnmal bei ihnen gewesen. Im Jahre 1827 starb der liebenswürdige Martial Daru. Ein paar Monate später, in meinem Café de Rouen, erstarrte ich, als ich in meiner Zeitung die Todesanzeige des Grafen Pierre Daru las. Mit Tränen im Auge sprang ich in eine Droschke und fuhr nach der Rue Grenelle Nr. 81. Ich fand einen weinenden Diener und weinte selbst heiße Tränen. Ich fand mich sehr undankbar, aber ich setzte meinem Undank die Krone auf, indem ich am selben Abend nach Italien abreiste.Dies geschah im Sommer 1827. Es handelt sich also um den Tod Martial Darus. Graf Pierre Daru starb erst am 5. September 1829 auf seinem Landgut Bécheville. Ich reiste sogar vor der Zeit ab; ich wäre vor Schmerz gestorben, wenn ich sein Haus nochmals betreten hätte. Auch darin lag etwas von dem Wahnsinn, der mich 1821 so wunderlich erscheinen ließ.