Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Elftes Kapitel

Ich hatte während des Sommers 1822 also eine Beschäftigung, das Korrekturlesen meines Buches »Über die Liebe«, das in Duodez auf schlechtem Papier gedruckt erschien. Mongie schwor entrüstet, man hätte ihn mit dem Papier betrogen. Im Jahre 1822 kannte ich die Verleger noch nicht. Ich hatte nur mit Firmin Didot zu tun gehabt, dem ich sein Papier nach dem Tarif bezahlte. »Nein, der ist kein Gauner!« rief er laut lachend aus und verglich mich mit Ancelot, Bitet und andern Autoren von Beruf. Und doch habe ich später entdeckt, daß Herr Mongie bei weitem der ehrlichste war.

Es war recht gefährlich für mich, die Korrekturen eines Buches zu lesen, das mir alle Schattierungen meiner Empfindungen in Italien wieder in Erinnerung rief. Ich war so schwach gewesen, mir ein Zimmer in Montmorency zu mieten. Am Abend fuhr ich mit der Post in zwei Stunden hin. Mitten im Walde, besonders links von der Sandgrube, las ich meine Korrekturen. Ich kam fast um den Verstand. Der tolle Gedanke, nach Mailand zurückzukehren, den ich so oft bezwungen hatte, kehrte mit erstaunlicher Gewalt wieder. Ich weiß nicht, wie ich es anstellte, um fest zu bleiben.

Die Gewalt der Leidenschaft, die unsere Blicke stets auf den gleichen Gegenstand richtet, raubt mir jede Erinnerung an jene entrückte Zeit. Ich entsinne mich nur noch der Umrisse der Bäume in jenem Teil des Waldes von Montmorency. Das sogenannte Tal von Montmorency ist nur eine Einbuchtung des Höhenzuges, der gegen das Seinetal und grade auf den Invalidendom vorspringt.

Wenn Lanfranco eine Kuppel von 150 Fuß Höhe malte, übertrieb er gewisse Linien. L'aria dipinge (die Luft malt), sagte er. Ebenso geht es mir. Da man sich im Jahre 1870 weniger Täuschungen über Könige, Adel und Priester hingeben wird als heute, komme ich in Versuchung, gewisse Züge an diesem Gewürm der Menschheit zu übertreiben. Aber ich bleibe fest, denn das hieße der Wahrheit untreu werden, »untreu seinem Bett« (»Cymbeline«).

Warum habe ich keinen Schreiber, um Tatsachen und Anekdoten, aber keine Urteile über diese drei Menschenklassen zu diktieren? Aber da ich heute siebenundzwanzig Seiten geschrieben habe, bin ich zu müde, um die Anekdoten, die mein Gedächtnis belasten, ausführlich zu beschreiben.

Ziemlich häufig ging ich in den Park der Frau DolignyGräfin Beugnot. in Corbeil, um meine Korrekturen zu lesen. Dort konnte ich trübe Gedanken meiden; war meine Arbeit beendet, so kehrte ich in den Salon zurück.

Im Jahre 1824 war ich nahe daran, glücklich zu werden. Wenn ich in den sechs bis sieben Jahren meines Mailänder Aufenthalts an Frankreich dachte, in der Hoffnung, das von den Bourbonen besudelte Paris und Frankreich nie wiederzusehen, so sagte ich mir: wegen einer Frau, der Gräfin BertoisVermutlich Gräfin Bertrand. S. Seite 179. könnte ich diesem Lande verzeihen. Ich liebte sie im Jahre 1824. Wir dachten aneinander, seit ich sie im Jahre 1814 am Tage nach der Schlacht bei Montmirail um sechs Uhr morgens mit bloßen Füßen in das Zimmer ihrer Mutter, der Frau von M., treten sah, um nach Nachrichten über die Schlacht zu fragen. Nun wohl! Frau Bertois war auf dem Lande bei ihrer Freundin, der Gräfin Doligny. Als ich mich endlich entschloß, meine schlechte Laune bei Frau Doligny zur Schau zu tragen, sagte sie zu mir: .

»Frau Bertois hat Sie erwartet. Sie hat mich vorgestern nur wegen eines furchtbaren Ereignisses verlassen: sie hat eine ihrer reizenden Töchter verloren.«

Im Munde einer so verständigen Frau hatten diese Worte eine große Tragweite. Im Jahre 1814 hatte sie zu mir gesagt: »Frau Bertois fühlt Ihren ganzen Wert.«

Im Jahre 1822 oder 1823 hatte Frau Bertois die Güte, mich etwas zu lieben. Eines Tages sagte ihre Freundin zu ihr: »Ihre Augen ruhen auf Beyle. Wäre er etwas schlanker, er hätte Ihnen längst seine Liebe erklärt.« Das stimmt nicht ganz. In meiner Schwermut betrachtete ich die schönen Augen der Frau Bertois mit Entzücken. Weiter ging ich in meinem Stumpfsinn nicht. Ich sagte mir nicht: »Warum blickt diese junge Frau mich an?« Ich hatte völlig die trefflichen Liebesregeln vergessen, die mein Oheim Gagnon und mein Freund und Beschützer Martial Daru mir einst gegeben hatte.

Wie glücklich wäre ich gewesen, hätte ich mich dieses großen Taktikers erinnert. Wie viel Erfolge hätte ich dann nicht verfehlt! Wie viel Demütigungen mir erspart! Aber wäre ich weltgewandt gewesen, ich wäre der Frauen, der Musik und der Malerei bis zum Erbrechen überdrüssig geworden, wie meine Zeitgenossen R. und P. H., die nüchterne, weltüberdrüssige Philosophen geworden sind. Statt dessen hatte ich in allem, was die Frauen betraf, das Glück, ein Gimpel wie mit fünfundzwanzig Jahren zu sein.

Infolgedessen werde ich mich nie aus Ekel an allem, aus Lebensüberdruß totschießen. In der literarischen Laufbahn sehe ich noch eine Menge Aufgaben vor mir. Ich habe Arbeit genug für zehn Menschenleben.


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