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Rom, 23. Juni 1832.
Wie ich sehe, war ich bei Herrn de Tracy stehen geblieben. Er wurde 1754 als Sohn einer Witwe mit 300 000 Franken Einkommen geboren. Sein Haus lag in der Rue de Tracy. Er wurde Kaufmann, ohne es zu wissen, wie viele reiche Leute um 1780. Er legte die Rue de Tracy an und verlor dabei eine viertel Million und so weiter. Ich glaube, dieser tiefe Denker hat sein Einkommen von 300 000 Franken in ein solches von höchstens 30 000 verwandelt.
Seine Mutter, eine Frau von seltner Klugheit, gehörte ganz zum Hofe. So wurde ihr Sohn mit zweiundzwanzig Jahren Oberst eines Regiments, zu dessen Kapitänen ein Vetter gleichen Namens gehörte, jedenfalls von ebensogutem Adel. Trotzdem kam es ihm nie in den Sinn, sich dadurch gekränkt zu fühlen, daß eine Puppe von zweiundzwanzig Jahren das Regiment kommandiert, dem er angehörte.
Diese Puppe besaß gleichwohl einen scharfen Verstand. Da Frau de Tracy, diese einzige Mutter, gehört hatte, daß in Straßburg ein Philosoph lebte, und zwar keiner wie Voltaire, Diderot und Raynal, sondern ein Philosoph, der das menschliche Denken, die Bilder oder Zeichen aller gesehenen und gefühlten Dinge, zergliederte, begriff sie, daß die Handhabung dieser Bilder den Beistand ihres Sohnes fördern könnte. Man denke sich, wie dieser Verstand im Jahre 1785 aussehen mußte. Er war ein bildhübscher junger Mann, hochadlig und besaß 300 000 Franken Einkommen. Frau de Tracy ließ ihren Sohn zur Artillerie versetzen, und so kam er nach zwei Jahren nach Straßburg. Wenn ich jemals dorthin komme, muß ich nachforschen, wer jener berühmte deutsche Philosoph war.
Herr de Tracy hat mir nie von jener Zeit erzählt, wohl aber hat er mir viele Züge aus dem Anfang der Revolution berichtet, als Lafayette die Nationalgarde kommandierte.
Eine hohe Gestalt und darauf ein unerschütterliches, kaltes Gesicht, nichtssagend wie ein altes Familienbild, den Kopf mit einer kurzen, schlecht gemachten Perücke bedeckt, einen schlecht sitzenden Rock am Leibe, etwas hinkend und auf seinen Stock gestützt, so betrat im Jahre 1821 den Salon der Frau de Tracy, die ihn »mein lieber Herr« nannte, der General von Lafayette. Diese Anrede und in diesem Ton verdroß Herrn de Tracy, glaube ich, sehr. Nicht als ob Lafayette Beziehungen zu seiner Gattin gehabt hätte oder als ob er sich in seinem Alter über ein solches Mißgeschick gegrämt hätte, sondern weil die aufrichtige, nie gespielte oder übertriebene Bewunderung der Frau de Tracy für Lafayette ihn zur ersten Person des Salons machte.
Ich war zwar im Jahre 1821 noch ein Neuling, denn ich hatte stets in den Illusionen der Begeisterung und der Leidenschaften gelebt, aber das merkte ich doch von selbst. Ebenso merkte ich, daß Lafayette einfach ein plutarchischer Held war. Er lebte ohne zu viel Geist in den Tag hinein und vollbrachte wie Epaminondas die große Tat, wie sie sich darbot. Dabei schämte er sich trotz seines Alters nicht (er war 1757 geboren, wie sein Spielkamerad Karl X.), jedes hübsche Mädchen von hinten zu betätscheln.
In Erwartung der großen Taten, die sich nicht alle Tage darbieten, und der Gelegenheit, bei jungen Mädchen handgreiflich zu werden, die sich nur nach Mitternacht beim Hinausgehen bietet, setzte Herr von Lafayette den Gemeinplatz der Nationalgarde ohne allzu großes Ungeschick auseinander. Diese Regierungsform ist gut; sie ist die einzige, die die Sicherheit auf den Landstraßen, gleiches Recht für alle, eine vollwichtige Münze, leidliche Straßen und gerechten Schutz der Ausländer gewährleistet. Derart ins reine gebracht, ist die Sache nicht allzu schwierig.
Wie weit ist es von diesem Manne zum Oberzeremonienmeister Ségur! Und so wird denn auch Frankreich, insbesondere Paris, von der Nachwelt verflucht werden, weil es den großen Mann nicht anerkannt hat. Ich, der an Napoleon und Byron gewöhnt war – ich füge Lord Brougham, Monti, Canova und Rossini hinzu – erkannte auf der Stelle Lafayettes Größe, und dabei bin ich geblieben. Während der Julirevolution sah ich ihn mit zerrissenem Hemd; er empfing jeden Ränkeschmied, jeden Tropf, jeden Schönredner. Mich hat er weniger gut empfangen. Es ist mir ebensowenig eingefallen, mich darüber zu ärgern, oder ihn weniger zu verehren, wie es mir in den Sinn kommt, die Sonne zu lästern, wenn sie sich hinter Wolken verbirgt.
Lafayette hatte in seinem zarten Alter von fünfundsiebzig Jahren den gleichen Fehler wie ich: er verliebte sich in eine achtzehnjährige Portugiesin, die er im Salon der Frau de Tracy kennen lernte und die so alt war wie seine Enkeltöchter. Er bildete sich ein, daß sie ihn auszeichnete, dachte nur an sie, und was das Spaßigste ist, er hatte oft Grund dazu. Sein europäischer Ruf, die trotz scheinbarer Einfalt tiefe Vornehmheit seiner Unterhaltung, seine Blicke, die in der Nähe eines schönen Busens aufflammen, alles trägt dazu bei, seine letzten Lebensjahre fröhlich zu gestalten, zum großen Ärgernis der fünfunddreißigjährigen Damen, die in jenem Salon verkehrten. Das alles begreift eben nicht, daß man in ganz anderer Weise liebenswürdig sein kann als Herr de Ségur mit seinen feinen Bemerkungen oder Benjamin ConstantBenjamin Constant de Rebèque (1767–1830), ein geborener Schweizer, liberaler Staatsmann und Schriftsteller. Sein analytischer Roman »Adolphe« (1816) stellt ihn als einzigen ebenbürtigen Zeitgenossen Stendhals hin. mit seinen geistsprühenden Betrachtungen.
Lafayette ist äußerst höflich, sogar freundlich gegen jedermann, aber höflich wie ein König, wie ich einmal zu Frau de Tracy sagte. Sie wurde darob so wütend, wie die fleischgewordene Anmut es werden kann, aber seitdem begriff sie vielleicht, daß die kraftvolle Schlichtheit meiner Worte nicht die Dummheit der Dunoyer und Genossen war.
Dunoyer war ein biederer Liberaler, jetzt ehrbarer Präfekt, wohl der tapferste und auch der dümmste liberale Schriftsteller. Man kann es mir glauben; ich gehöre der gleichen Partei an. Der Redakteur und Zensor Dunoyer und zwei bis drei seines Schlages standen immerfort um den Lehnstuhl Lafayettes und staunten ihn blöde an, bis er sie zu ihrem großen Ärgernis stehen ließ, um mit flammenden Blicken aus nächster Nähe die weißen Schultern einer eben eingetretenen jungen Dame zu bewundern. Die armen tugendhaften Leute machten in ihrer Verlassenheit klägliche Gesichter, und ich spottete darüber, was meine neue FreundinFrau de Tracy. wieder aufbrachte. Trotzdem galt es als feststehend, daß sie eine Schwäche für mich hatte.
Bei alledem war Lafayette Parteiführer und ist es noch heute. Damit hat er wohl 1789 angefangen. Die Hauptsache ist, niemand zu ärgern und alle Namen zu behalten; dann ist er groß. Die Interessen eines Parteiführers ertöten bei ihm jede literarische Idee, zu der er ohnedies wohl kaum fähig wäre. Infolgedessen merkte er die Plumpheit und Langweiligkeit der Herren Dunoyer und Konsorten wohl gar nicht.
Ich habe vergessen, den Salon zu beschreiben. Walter Scott und dessen Nachahmer hätten damit begonnen, mir dagegen ist die Beschreibung von Örtlichkeiten ein Greuel. Sie langweilt mich derart, daß ich keine Romane schreibe.
Die Eingangstür führt in einen länglichen Salon mit einer großen, stets offnen Flügeltür. Dann kommt man in einen ziemlich großen viereckigen Saal mit schönem, großem Kronleuchter und einer scheußlichen kleinen Stutzuhr auf dem Kaminsims. Rechts beim Eingang in diesen Salon steht ein großer blauer Diwan, auf dem fünfzehn junge Mädchen im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren mit ihren Bewerbern sitzen:Beyle hat diesen blauen Diwan in »Rot und Schwarz« verewigt. Dort steht er im Hause La Môle. Charles de Remusat, sehr geistvoll und noch mehr geziert, ein Abklatsch des berühmten Schauspielers Fleury, und François de Corcelles, ein Mann mit der Freimütigkeit und Ungeschliffenheit eines Republikaners. – Im Jahre 1821 waren beide sehr distinguiert; sie haben später Enkeltöchter Lafayettes geheiratet.
Neben ihnen erschien ein kalter Gaskogner, der Maler S(cheffer).Gemeint ist der Bruder des bekannten Malers Ary Scheffer, Hendrik Scheffer (1798–1862). Er war wohl der frechste Lügner und hatte das gemeinste Gesicht, das ich kenne. Damals versicherte man mir, daß er der himmlischen Virginie, der ältesten Enkeltochter Lafayettes, den Hof machte, die später den Sohn von Augustin Périer heiratete, den aufgeblasensten und steifsten Landsmann von mir. Virginie war Frau de Tracys Liebling.
Neben dem eleganten Remusat sah man zwei Jesuitengesichter mit falschen tückischen Blicken, zwei Brüder, die das Vorrecht hatten, stundenlang mit dem Grafen Tracy zu sprechen. Ich bewunderte sie mit der ganzen Lebhaftigkeit meiner Jugend. (In Dingen des Gefühls war ich erst einundzwanzig Jahre alt.) Bald aber durchschaute ich sie, was meiner Begeisterung für Herrn de Tracy einen ziemlichen Stoß versetzte. Der ältere dieser Brüder hat eine rührselige Geschichte der Eroberung Englands durch Wilhelm von der Normandie geschrieben; er ist jetzt Mitglied der Akademie der Inchristen und hat das Verdienst, Chlodwig, Chilperich und andre Schattengestalten aus den Anfängen der französischen Geschichte ins rechte Licht gesetzt zu haben. Er hat auch ein weniger sentimentales Werk über die Gemeindeverfassung Frankreichs in zwölf Bänden geschrieben. Sein jüngerer Bruder, innerlich und in seinem Benehmen noch jesuitischer, wenn auch ultraliberal, wurde 1830 Präfekt und hat sich wahrscheinlich für seine Stellung verkauft.
Im völligen Gegensatz zu diesen beiden Jesuiten wie zum Grafen Dunoyer und zu Remusat stand der junge Viktor Jacquemont,Geb. 1801, gest. 1832 zu Bombay in Indien. der jetzt in Indien ist. Er war sehr mager, fast sechs Fuß groß und damals ohne jede Logik, somit Misanthrop unter der Maske des Geistreichen. Er wollte sich nicht die Mühe geben, vernünftig zu denken. Dieser echte Franzose faßte die Aufforderung dazu buchstäblich als Unverschämtheit auf. Seine Reise war tatsächlich die einzige Pforte, die die Eitelkeit der Wahrheit offenließ. Aber (vielleicht täusche ich mich) mir erscheint Viktor als ein ganz hervorragender Mensch, wie ein Kenner (Verzeihung für dies Wort!) in einem vier Monate alten Füllen mit dicken Beinen schon ein schönes Pferd erblickt. Er wurde mein Freund, und heute erhalte ich einen Brief von ihm aus Kaschmir in Indien.Vgl. Jacquemonts Brief von 1825 in Band IV dieser Ausgabe, S. 326 ff. Sein Herz hatte nur einen Fehler, einen niedrigen, subalternen Neid auf Napoleon.
Dieser Neid war übrigens auch die einzige Leidenschaft, die ich am Grafen Tracy bemerkte. Mit unsäglichem Vergnügen erzählten sich der alte Metaphysiker und der lange Viktor die Anekdote von der Kaninchenjagd, zu der Talleyrand Napoleon einlud, der damals seit sechs Wochen erster Konsul war und bereits Ludwig XIV. nachahmen wollte.
Viktors Fehler war seine Liebe zu Frau de Lavenelle, der Gattin eines Spions, der 40 000 Franken Einkommen hatte und in den Tuilerien über die Reden und Handlungen des Generals Lafayette Bericht erstatten mußte. Das Spaßigste war, daß der General, Benjamin Constant und Brignon diesem Lavenelle ihre liberalen Ansichten anvertrauten. Wie man sich denken kann, redete der Spion, ein Schreckensmann von 1793, nur davon, gegen das Schloß zu marschieren und die Bourbonen umzubringen. Seine Frau war so ausschweifend und mannstoll, daß sie mir die freie Unterhaltung auf französisch vollends verekelt hat. Ich liebe diese Art von Unterhaltung nur auf italienisch. Schon als blutjungen Dragonerleutnant stieß sie mich im Munde der Frau Henriette, der Frau meines Rittmeisters, ab. Frau de Lavenelle war trocken wie ein Stück Leder und zudem völlig geistlos und selbst leidenschaftslos. Eindruck machten ihr nur die strammen Schenkel einer Grenadierkompagnie, die in weißen Hosen durch die Tuilerien marschierte ... Wie ganz anders waren in Mailand die Signora RugaDie in Stendhals »Reise in Italien« (S. 31, 71) und in »Vie de Napoléon« als eine der ersten Schönheiten Mailands gefeierte Gattin eines Advokaten, der einer der Direktoren der Zisalpinischen Republik gewesen war. und Aresi.Gräfin Aresi (1778-1847). S. »Reise in Italien«, S. 71. Kurz, ich habe einen Abscheu vor der freien französischen Unterhaltung, diesem Gemisch von Geist und Aufregung, das mir in der Seele weh tut, wie das Durchschneiden eines Korkstücks mit dem Messer mein Ohr verletzt. Die Personenbeschreibung dieses Salons ist vielleicht recht lang; ich habe nur noch zwei bis drei Figuren hinzuzufügen. Zunächst die reizende Louise Letort, die Tochter des Generals von den Gardedragonern, den ich in Wien im Jahre 1809 gut gekannt hatte. Fräulein Louise, die seitdem so schön geworden ist und bisher so wenig Ziererei und zugleich eine so hohe Seele hat, ist einen Tag vor oder nach der Schlacht bei Waterloo geboren. Ihre Mutter, die reizende Sarah Newton, heiratete später Herrn Viktor de Tracy,Antoine César Victor de Tracy (1781-1864), seit 1818 verabschiedet, seit 1824 oppositioneller Abgeordneter. Seine Gattin Marie (Sarah) (1789-1850), in erster Ehe mit General Letort vermählt. Nach ihrem Tode erschienen ihre »Essais divers, lettres et pensées« (Paris 1855, 3 Bde.). den Sohn des Pairs und damaligen Infanteriemajor. Wir nannten ihn »Eisenstange« wegen seines Charakters. Er war tapfer, in Spanien unter Napoleon mehrmals verwundet worden und hatte das Unglück, ein Schwarzseher zu sein. Vor acht Tagen hat König Louis Philippe das Artillerieregiment der Nationalgarde aufgelöst, dessen Oberst Viktor de Tracy war. Als Abgeordneter spricht er oft und leider allzu höflich. Es ist, als wagte er nicht mit der Sprache herauszukommen. Wie sein Vater hegt er eine kleinliche Eifersucht auf Napoleon. Jetzt, wo der Heros tot ist, lenkt er etwas ein, aber er lebte noch, als ich den Salon in der Rue d'Anjou betrat. Dort sah ich, welche Freude Napoleons Tod hervorrief. Seine Blicke sagten: »Hatten wir nicht recht, daß ein Bürger, der sich zum König macht, kein gutes Ende nehmen kann!«
Ich habe zehn Jahre in diesem Salon verkehrt. Ich wurde höflich aufgenommen, ja geschätzt, aber täglich wurde ich fremder. Das ist einer meiner Charakterfehler. Das ist auch der Grund, weshalb ich es so wenig weit gebracht habe, obwohl der General Duroc mir zwei- bis dreimal gesagt hat, ich besäße militärische Talente. Ich bin mit einer untergeordneten Stellung zufrieden, höchst zufrieden, wenn ich nur, wie heute, zweihundert Meilen von meinen Vorgesetzten entfernt bin.
Hoffentlich faßt man dies nicht als Menschenhaß auf, wenn der Leser dies Buch nicht aus Langeweile zuklappt. Die Gunst der Menschen fängt man nur mit einem bestimmten Angelhaken. Wenn ich damit angle, erlange ich wohl die Gunst von ein bis zwei Menschen, bald aber ermüdet meine Hand. Trotzdem sagte mir die Gräfin Daru im Jahre 1814, als Napoleon mich zum 7. Wehrbezirk schickte: »Ohne diese verfluchte Invasion wären Sie jetzt Präfekt in einer Großstadt.« Ich glaube, es handelte sich um Toulon.
Ich vergaß einen drolligen Frauencharakter zu schildern, nämlich Frau von Montcortin, der ich nicht zu gefallen suchte und die deshalb meine Feindin wurde. Sie war groß und gut gebaut, sehr schüchtern, träg und völlig Gewohnheitsmensch. Sie hatte zwei Liebhaber, einen für die Stadt und einen fürs Land. Diese Einrichtung hat, ich weiß nicht wie lange, bestanden. Ich glaube, der Geliebte fürs Land war der Maler Scheffel, der andre war der damalige Oberst und jetzige General Carbonel, der sich zum Leibwächter Lafayettes gemacht hatte. Eines Tages wurde Frau von Montcortin von ihren acht bis zehn Nichten gefragt, was die Liebe sei. »Eine schmutzige Sache«, antwortete sie, »deren man bisweilen die Dienstmädchen bezichtigt. Wenn man sie dabei ertappt, jagt man sie weg.«
Ich hätte ihr den Hof machen sollen, das war nicht gefährlich. Nie hätte ich ihre Gunst erlangt, denn sie hielt sich an ihre zwei Männer. Aber ich betrachtete sie als Ding und nicht als Menschen. Sie rächte sich damit, daß sie wöchentlich drei- bis viermal erklärte, ich sei ein Leichtfuß und halb verrückt. Sie machte den Tee, und tatsächlich sprach ich mit ihr sehr oft erst, wenn sie mir eine Tasse Tee anbot.
Die Menge Menschen, nach deren Befinden ich mich erkundigen mußte, wenn ich den Salon betrat, machte mich vollends mutlos. Außer den fünfzehn bis zwanzig Enkeltöchtern des Generals Lafayette und ihren Freundinnen, fast alle blond und mit blendend weißem Teint, aber gewöhnlichen Gesichtern (ich kam freilich aus Italien!), die auf dem blauen Diwan in Schlachtordnung saßen, mußte ich begrüßen: die Gräfin und den Grafen de Tracy, den General Lafayette und seinen Sohn Georges Washington Lafayette,1777–1849, der einzige Sohn des Generals Lafayette. einen richtigen Amerikaner, der jedes Adelsgedankens bar war, Herrn Viktor de Tracy, Frau Sarah de Tracy, seine junge glänzende Frau, ein Muster englischer Schönheit, ein wenig zu mager; und ihre zwei Töchter, Frau Georges de Lafayette und Frau de Laubépin, schließlich auch ihren Gatten, einen Schriftsteller, der stets anwesend war und am ganzen Abend nur acht bis zehn Worte sprach.
Lange hielt ich Frau von Lafayette für eine Nonne, die Frau de Tracy aus Menschlichkeit aufgenommen hatte. Zu diesem Wesen kam bei ihr ein starres Festhalten an bestimmten Ideen, als wäre sie Jansenistin gewesen. Dabei hatte sie vier bis fünf Töchter und Frau de Maubourg, Lafayettes Tochter, fünf bis sechs. Ich habe zehn Jahre gebraucht, um sie auseinanderzuhalten. Alle diese blonden Gesichter sagten höchst passende Dinge, aber für mich, um stehend einzuschlafen. War ich doch an die sprechenden Augen und den entschlossenen Charakter der schönen Mailänderinnen und vorher an die anbetungswürdige Natürlichkeit der guten Deutschen gewöhnt, als ich Intendant in Braunschweig und in Sagan war.
Graf de Tracy war der Busenfreund des berühmten Cabanis gewesen, des Vaters des Materialismus, dessen »Rapports du physique et du moral«, als ich sechzehn Jahre alt war, meine Bibel gewesen war. Frau Cabanis und deren Tochter, sechs Fuß lang und trotzdem sehr liebenswürdig, verkehrten in diesem Salon, und Herr de Tracy führte mich in ihr Haus ein. Die Hitze vertrieb mich daraus. Damals besaß ich noch die ganze italienische Empfindlichkeit; ein geschlossenes Zimmer mit zehn Personen darin genügte, um bei mir ein schauderhaftes Unwohlsein hervorzurufen, so daß ich fast ohnmächtig wurde. Nun denke man sich erst ein fest zugemachtes Zimmer, das höllisch geheizt war. Ich betonte diese körperliche Schwäche nicht genug; nur das Heizen vertrieb mich aus dem Salon der Frau Cabanis; Herr de Tracy hat es mir niemals verziehen. Ich hätte der Gräfin de Tracy ein Wort sagen können, aber damals war ich nach Herzenslust ungeschickt und bin es teils heute noch.
Fräulein Cabanis wollte trotz ihrer sechs Fuß Länge heiraten. Sie heiratete einen kleinen Tänzer mit wohlgepflegter Perücke, Herrn Dupaty,Louis Marie Mercier Dupaty (1771-1825) einen angeblichen Bildhauer, den Schöpfer der Statue Ludwigs XIII. aus der Place royale, der auf einer Art Maultier reitet. Das Modell dieses Maultieres, ein arabisches Pferd, sah ich oft bei Herrn Dupaty. Das arme Tier langweilte sich in einer Ecke seines Ateliers. Herr Dupaty empfing mich feierlich als Schriftsteller über Italien und Verfasser einer Geschichte der italienischen Malerei. Man konnte schwerlich höflicher, aber ärmer an Feuer, unverhofften Einfällen und Schwung sein als dieser Biedermann. Für die geschniegelten, blitzsauberen, wohlanständigen Pariser ist das Handwerk des Bildhauers wohl das allerletzte. Übrigens war der so höfliche Herr Dupaty sehr tapfer: er hätte Soldat bleiben sollen.
Bei Frau Cabanis lernte ich einen braven Mann kennen, der aber höchst spießbürgerlich, sehr beschränkt in seinen Ideen, sehr kleinlich in seiner kleinen Haushaltspolitik war: den Professor des Griechischen, Herrn Thurot. Sein einziges Ziel war, Mitglied der Académie des Inscriptions zu werden. Dieser Mann, der sich nicht schnaubte, ohne dabei auf die Eitelkeit irgendeines Mannes Rücksicht zu nehmen, der von weither auf seine Berufung in die Akademie Einfluß haben konnte, war – ein seltsamer Widerspruch – ultraliberal. Das führte uns anfangs zusammen, aber eines Tages fand seine kleinbürgerliche Frau, mit der ich mich nur notgedrungen unterhielt, mich unbesonnen.
Eines Tages fragten Herr de Tracy und Herr Thurot mich nach meiner politischen Stellung. Ich entfremdete mir beide durch meine radikale Antwort. Ich erschien diesen durch die Pariser Höflichkeit blutarm gewordenen Seelen als ein Ungeheuer. Eine anwesende junge Frau bewunderte meine Ideen und besonders das Übermaß von Unbesonnenheit, womit ich sie aussprach. Aber die Gesichter der beiden Herren wurden lang und länger.
Das außerordentliche Wohlwollen dieser jungen Frau hat mich für manche Mißerfolge getröstet. Ich bin nie völlig ihr Liebhaber geworden. Hätte ich soviel Verstand gehabt, ihr begreiflich zu machen, daß ich sie liebte, sie hätte sich wahrscheinlich sehr darüber gefreut. Tatsächlich liebte ich sie nicht genug, um zu vergessen, daß ich häßlich bin. Sie hatte es vergessen. Als ich einmal von Paris abreiste, sagte sie mir mitten in ihrem Salon: »Ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Und in einem Durchgang zu einem Vorzimmer, wo glücklicherweise kein Mensch war, gab sie mir einen Kuß auf den Mund, den ich leidenschaftlich erwiderte. Am nächsten Tage reiste ich ab, und damit war die Sache zu Ende.
Bevor es jedoch soweit kam, sprachen wir uns mehrere Jahre. Auf meine Bitte sagte sie mir ehrlich alles Schlechte, was man über mich sprach. Sie hatte einen reizenden Ton; sie schien es weder zu billigen noch zu mißbilligen. Es ist kaum glaublich, was man so zu hören bekommt. Eines Tages sagte sie:
»Herr [Perret], der Spion, sagte bei Herrn de Tracy: ›Ach, da ist ja Herr Beyle in einem neuen Rock! Man merkt, daß die Frau Pasta eine Benefizvorstellung gegeben hat.‹«
Diese Dummheit fand Anklang, Herr de Tracy, hat mir dies öffentliche (und völlig harmlose) Verhältnis zu der berühmten Schauspielerin nie verziehen. Das Spaßige dabei war, daß Celine, die mir diese Bemerkung des Spions hinterbrachte, vielleicht selbst eifersüchtig auf meine Beharrlichkeit bei Frau Pasta war.
Zu welcher Stunde meine Abendgesellschaften auch zu Ende sein mochten, nachher ging ich zu Frau PastaGiuditta Pasta (1798-1865), geb. Negri, berühmte Sängerin jüdischer Abkunft. Beyle hat ihr Kap. 35 seines »Leben Rossinis« (1824) gewidmet. in der Rue Richelieu gegenüber der Bibliothek im Hotel Lillois. Ich wohnte hundert Schritt von ihr, in Nr. 47. Gelangweilt durch die Wut des Portiers, dem es gar nicht paßte, mir oft um drei Uhr morgens öffnen zu müssen, siedelte ich schließlich in das Haus der Frau Pasta über.
Vierzehn Tage darauf war mein Ansehen im Salon der Frau de Tracy um 70 Prozent gesunken. Es war höchst verkehrt von mir, daß ich meine Freundin, Frau de Tracy, nicht um Rat gefragt hatte. Mein damaliges Benehmen war lediglich eine Reihe von Launen. Als Marquis oder Oberst mit 40 000 Franken Einkommen hätte ich mich schließlich zugrunde gerichtet.
Ich liebte leidenschaftlich die Musik, aber nur die von Cimarosa und Mozart. Der Salon der Frau Pasta war der Treffpunkt aller Mailänder, die nach Paris kamen. Von ihnen hörte ich zufällig ein paarmal Mathildes Namen nennen. Mathilde erfuhr in Mailand, daß ich bei einer Schauspielerin lebte. Dieser Gedanke hat sie vielleicht völlig geheilt.
Gegen das alles war ich völlig blind. Einen ganzen Sommer hindurch saß ich bei Frau Pasta bis in den Morgen hinein am Spieltisch; ich sprach kein Wort, hörte mit Entzücken mailändisch sprechen und ging völlig in dem Gedanken an Mathilde auf. Ich ging in mein reizendes Zimmer im dritten Stock hinauf und las mit Tränen in den Augen die Korrekturen zu meinem Buch »Über die Liebe«. Dies Buch hatte ich in Mailand in meinen lichten Augenblicken mit Bleistift geschrieben. In Paris daran zu arbeiten tat mir weh; ich habe es nie durchfeilen mögen.
Die Schriftsteller sagen: »In fremden Ländern kann man geistvolle Gedanken haben, aber ein Buch versteht man nur in Frankreich zu schreiben.« Ja, wenn das Buch nur den Zweck hat, einen Gedanken verständlich zu machen, nicht aber, wenn es gleichzeitig Empfindungen und Gefühlsnuancen zum Ausdruck bringen will. Die französische Regel ist nur gut für ein Geschichtswerk, wie die »Geschichte der Regentschaft« von Lemontey, deren wahrhaft akademischen Stil ich bewundre.
Ich aber will vor allem wahr sein. Welches Wunder in diesem Jahrhundert der Komödie, in einer Gesellschaft, in der dreiviertel der Mitwirkenden freche Marktschreier sind, wie der Graf Regnault de Saint Jean d'Angély oder der Baron Gérard! Es ist ein Kennzeichen des Jahrhunderts der Revolution (1789–1832), daß es keinen großen Erfolg ohne ein gewisses Maß von Unverschämtheit, ja von ausgesprochener Marktschreierei gibt. Nur Herr von Lafayette steht über der Marktschreierei, die man hier nicht mit Leutseligkeit, der notwendigen Waffe eines Parteiführers, verwechseln darf.
Bei Frau Cabanis lernte ich einen Mann kennen, der sicherlich kein Marktschreier ist: Herrn Fauriel,S. Seite 54, 68 f. den früheren Geliebten der Frau Concordet. Er ist außer Mérimée und mir das einzige mir bekannte Beispiel eines Schriftstellers ohne Marktschreierei. So besitzt Herr Fauriel denn auch gar keinen Ruf. Eines Tages ließ mir der Verleger Bossanges fünfzig Exemplare eines seiner Bücher anbieten, wenn ich einen schönen Reklameartikel darüber schreiben und ihn in irgendeiner Zeitung unterbringen wollte, bei der ich (für vierzehn Tage) in Gunst stand. Ich war empört und wollte den Artikel für ein einziges Exemplar schreiben. Aber bald ekelte es mich, dem schmutzigen Zeitungsschreiberpack den Hof zu machen, und ich habe den Artikel nicht geschrieben. Jetzt mache ich mir Vorwürfe darüber.
Herr Fauriel, der von Frau Concordet schlecht behandelt wurde (sie war nur ein sinnliches Weib), ging nach ihrem Tode oft zu einer kleinen halbbuckligen Vogelscheuche, Miß Clarke,Über Fauriels Verhältnis zu Miß Clarke s. »Le roman de Claude Fauriel et de Mary Clarke«, »Revue des deux Mondes vom 1. Dezember 1908 ff, (A. Schurig.) Sie soll nach Berichten von Zeitgenossen keineswegs bucklig oder häßlich gewesen sein. Später heiratete sie den Orientalisten Mohl, einen Freund Wilhelm Hauffs. Vgl. Doris Gunnel, S. 62 ff. einer Engländerin, die gewiß Geist besaß, aber einen Geist wie die Hörner eines Gemsbockes, trocken, hart und verbogen. Herr Fauriel, der damals viel von mir hielt, führte mich alsbald zu ihr. Dort traf ich meinen Freund A.T,, der dort Regen und Sonnenschein machte. Überrascht war ich von dem Gesicht der Frau BellocLuise Swanton Belloc, der Beyle für ihr Buch über Lord Byron die auf S. 437ff. des vorliegenden Bandes abgedruckten Nachrichten gab. (der Frau des Malers): sie glich auf ein Haar Lord Byron, den ich damals sehr liebte. Ein ganz Schlauer, der mich für einen Machiavell hielt, weil ich aus Italien kam, sagte zu mir: »Sehen Sie nicht, daß Sie bei Frau Belloc Ihre Zeit verlieren? Sie hat eine Liebschaft mit Fräulein M.« (Das war ein kleines Scheusal mit schönen Augen.)
Ich war verblüfft, sowohl über meinen Machiavellismus, wie über meine angebliche Liebe zu Frau Belloc und noch mehr über die Liebe dieser Dame, wenn die Sache zutraf.
Nach ein bis zwei Jahren verzankte Fräulein Clarke sich mit mir um nichts. Ich besuchte sie seitdem nicht mehr, und Herr Fauriel ergriff zu meinem Leidwesen ihre Partei. Fauriel und Viktor Jacquemont standen turmhoch über all meinen Bekanntschaften in den ersten Pariser Monaten. Frau de Tracy stand wenigstens ebenso hoch.
Im Grunde überraschte oder ärgerte ich alle meine Bekannten. Ich war ein Ungeheuer oder ein Gott. Noch jetzt glaubt der ganze Kreis der Miß Clarke, daß ich ein Ungeheuer bin, vor allem ein Ungeheuer an Unmoral. Der Leser weiß, woran er sich zu halten hat. Ich war nur ein einziges Mal zu Dirnen gegangen, und er entsinnt sich wohl noch meines schönen Erfolges bei der himmlischen Alexandrine.