Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Siebentes Kapitel

Vater und Familienleben

Rom, 2. Dezember 1835.

Beim Tode meiner Mutter (um 1790) bestand die Familie also aus: Gagnon Vater, sechzigjährig, Romain Gagnon, seinem Sohn, fünfundzwanzig, Seraphie, seiner Tochter, vierundzwanzig, Elisabeth, seiner Schwester, vierundsechzig, Cherubin Beyle, seinem Schwiegersohn, dreiundvierzig, Henri, dessen Sohn, sieben, Pauline, seine Tochter, vier, und Zenaïde, seine Tochter, zweijährig. Das sind die Personen des traurigen Dramas meiner Jugend, das mich fast nur an Leiden und an tiefe innere Widerwärtigkeiten erinnert. Doch sehen wir uns den Charakter dieser Figuren etwas näher an.

Die Tochter meines Großvaters, Seraphie Gagnon, war ein Teufel in Frauengestalt, seine Schwester Elisabeth Gagnon eine große hagere Frau mit schönen italienischen Zügen. Sie besaß einen durchaus edlen Charakter, aber edel mit allen Raffinements und Skrupeln des spanischen Gewissens. Sie hat in dieser Hinsicht mein Herz geformt: dieser Tante Elisabeth verdanke ich die abscheulichen Phantastereien spanischen Edelmutes, die ich in den ersten dreißig Jahren meines Lebens beging. Ich vermute, daß meine Tante Elisabeth, obwohl für Grenoble reich, infolge einer unglücklichen Liebe ledig geblieben war. Ich hörte so etwas in meinen ersten Kinderjahren aus dem Munde meiner Tante Seraphie.

Schließlich gehörte auch mein Vater zur Familie. Joseph Cherubin Beyle, Advokat am Parlamentsgericht, Ultraroyalist und Ritter der Ehrenlegion, Adjunkt des Bürgermeisters von Grenoble, starb 1819 mit zweiundsiebzig Jahren, war also 1747 geboren. Im Jahre 1799 war er somit dreiundvierzig Jahre alt. Er war äußerst unliebenswürdig, hatte stets Käufe und Verkäufe von Gütern im Sinne, war äußerst gerieben durch die Gewohnheit, mit den Bauern zu handeln, ein Erzdauphineser. Ihm fehlte alles Spanische, verstiegen Vornehme, und so war er auch meiner Großtante Elisabeth zuwider. Er war äußerst häßlich und runzlig und den Frauen gegenüber verwirrt und schweigsam, obwohl er sie nicht missen konnte.

Wegen dieser Eigenschaft hatte er Verständnis für die »Neue Heloise« und die übrigen Werke Rousseaus, von dem er nur mit Verehrung sprach, obwohl er ihn als gottlos schmähte, denn der Tod meiner Mutter hatte ihn zum Frömmler im höchsten und übertriebensten Maße gemacht. Er erlegte sich die Pflicht auf, alle Messen nachzusprechen; ein paar Monate lang wollte er sogar ins Kloster gehen und verzichtete wahrscheinlich nur darauf, um mir seine Advokatenstelle offen zu halten. Er sollte Konsistorialadvokat werden, eine vornehme Auszeichnung in seinem Stande, von der er sprach wie ein junger Offizier von dem Ehrenkreuz. Er liebte mich nicht als Menschen, sondern als Sohn und als Stammhalter der Familie.

Er konnte mich auch schwerlich lieben, denn er sah deutlich, daß ich ihn nicht liebte und nie ohne Not mit ihm sprach. Stand er doch allen meinen schöngeistigen und philosophischen Ideen fremd gegenüber, welche die Grundlage meiner Fragen an meinen Großvater und der ausgezeichneten Antworten dieses liebenswürdigen Greises bildeten. Ich sah ihn nur selten. Mein leidenschaftlicher Wunsch, Grenoble, d. h. ihn zu verlassen, und meine Vorliebe für die Mathematik, das einzige Mittel, um aus dieser Stadt fortzukommen, die ich haßte und noch hasse, denn dort lernte ich die Menschen kennen, versenkten mich in den Jahren 1797 bis 1799 in tiefe Einsamkeit. Ich kann wohl sagen, in jenen beiden Jahren und schon teils im Jahre 1796 habe ich gearbeitet wie Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle.

Seit meiner Abreise Ende Oktober 1799 – ich entsinne mich des Datums, denn am 18. Brumaire (9. November)Der Staatsstreich Napoleons fand an diesem Tage statt. war ich in Remours – bin ich für meinen Vater nur noch ein Geldforderer gewesen. Die Entfremdung nahm dauernd zu; er konnte kein Wort sagen, das mir nicht mißfiel. Für mich war es entsetzlich, einem Bauern ein Stück Land abzukaufen und acht Tage zu feilschen, um dreihundert Franken zu verdienen; das war gerade seine Leidenschaft.

Nichts war natürlicher. Sein Vater, der den stolzen Namen Pierre Beyle trug, starb in Claix mit dreiundsechzig Jahren unversehens an der Gicht. Mein Vater sah sich dadurch mit achtzehn Jahren (es war also um 1765) im Besitz eines Gutes in Claix, das 800 oder 1800 Franken (eins von beiden) einbrachte, und einer Anwaltsstelle; dabei hatte er zehn Schwestern zu versorgen. Seine Mutter war eine reiche Erbin, d. h. sie besaß etwa 60 000 Franken und hatte als solche den Teufel im Leibe. Sie hat mich als Kind oft geohrfeigt, wenn ich ihren Azor, ein Bologneserhündchen mit langem weißen Seidenhaar, am Schwanze zog. Das Geld war also mit vollem Recht der einzige Gedanke meines Vaters; ich dagegen habe stets nur mit Ekel daran gedacht. Der Gedanke an Geld war mir stets qualvoll, denn Geld zu haben erregt mir keine Freude, und keins zu haben, ist ein elender Notstand.

Nie vielleicht hat der Zufall zwei Wesen zusammengeführt, die mehr Abneigung gegeneinander hatten als mein Vater und ich. Daher meine freudlose Kindheit von 1790 bis 1799. Dies Lebensalter, von dem jedermann sagt, es sei die Zeit der wahren Lebensfreude, war für mich dank meinem Vater nur eine Kette von bittrem Leid und Ekel. Zwei Teufel waren auf meine armselige Kindheit losgelassen, meine Tante Seraphie und mein Vater, der seit 1791 ihr Sklave wurde.

Der Leser braucht keine Angst vor dem Bericht meines Unglücks zu haben. Zunächst kann er ein paar Seiten überschlagen, worum ich ihn selbst bitte, denn ich schreibe drauf los, und was ich schreibe, ist vielleicht schon im Jahre 1835 langweilig, wieviel mehr also im Jahre 1880! Zweitens habe ich fast gar keine Erinnerung mehr an die traurige Zeit von 1790 bis 1795, wo ich ein armes verfolgtes Kind war, das bei jeder Gelegenheit gescholten wurde und allein bei einem sanften Weltweisen Schutz fand, der es meinetwegen aber nicht zum Kampf kommen lassen wollte, zumal seine großväterliche Autorität ihm gebot, seine Stimme zu erheben, wovor er gerade einen Graus hatte. Meine Tante Seraphie, die mich, ich weiß nicht weshalb, nicht ausstehen konnte, wußte das auch wohl.

Vierzehn Tage bis drei Wochen nach dem Tode meiner Mutter kehrten mein Vater und ich in das traurige Haus zurück. Ich schlief in einem lackierten Kastenbettchen, das im Alkoven meines Vaters stand. Er entließ seine Dienstboten und speiste bei meinem Großvater, der nie etwas dafür annehmen wollte. Ich glaube, es geschah aus Liebe zu mir, daß mein Großvater derart die tägliche Gesellschaft eines ihm unsympathischen Mannes ertrug. Beide hatten nichts gemeinsam als den tiefen Schmerz über den Tod meiner Mutter. Meine Familie brach alle Beziehungen ab und lebte seitdem, um meinen Verdruß vollzumachen, in dauernder Zurückgezogenheit.

Joubert, mein Pedant aus den Bergen, bei dem ich Lateinisch lernte – Gott weiß wie töricht, denn er ließ mich die Elementarregeln aufsagen, was meinen Verstand beleidigte, den man mir in hohem Maße zuschrieb – starb. Zum Unterricht ging ich zu ihm nach der kleinen Place Notre Dame –, wohl nicht ein einziges Mal, ohne an meine Mutter und das fröhliche Leben zu denken, das ich bei ihren Lebzeiten gefühlt hatte. Jetzt war mir selbst die Umarmung meines guten Großvaters zuwider.

Der schreckliche Pedant, ein baumlanger, spindeldürrer Mensch in schwarzem, schmutzigem, zerrissenem Überrock, war im Grunde kein schlechter Mensch. Aber sein Nachfolger, der Abbé Raillane, war ein schwarzer Halunke im vollsten Sinne.Er ist das Urbild des Abbé Castanède in Stendhals Roman »Rot und Schwarz«. Ich meine nicht, daß er Verbrechen begangen hätte, aber schwerlich kann ein Mensch eine dürrere, allem Anständigen feindlichere, jedes Gefühls von Menschlichkeit barere Seele haben. Er war Priester, aus einem Dorf in der Provence stammend, klein, mager, sehr förmlich, mit grüner Gesichtsfarbe und falschen Augen mit schrecklichen Brauen. Er hatte soeben die Erziehung von Casimir und Augustin Périer und ihren vier bis sechs Brüdern beendet. Casimir ist ein sehr berühmter Minister geworden, hat sich aber nach meiner Meinung von Louis Philippe nasführen lassen ... Alle diese Brüder waren etwas verrückt; ich glaube, sie haben unsern gemeinsamen Lehrer, den Abbé Raillane, damit angesteckt.

Dieser Mensch war aus Schlauheit oder aus Priesterinstinkt ein geschworener Feind der Logik und jeder geraden Vernunft. Mein Vater nahm ihn offenbar aus Eitelkeit. Périer, der Vater, galt für den reichsten Mann der Gegend. Tatsächlich hatte er zehn bis elf Kinder und hat jedem 500 000 Franken hinterlassen. Welche Ehre für einen Parlamentsadvokaten, den früheren Erzieher des Périerschen Hauses für seinen Sohn anzunehmen!

Von den pekuniären Vereinbarungen, die mein Vater mit dem Abbé Raillane traf, habe ich nichts erfahren. Jede Erörterung von Geldfragen galt in meiner Familie als überaus niedrig und gemein. Es war gleichsam gegen den Anstand, von Geld zu reden. Das Geld war eine traurige, unvermeidliche Notdurft des Lebens, von der man nie sprechen durfte. Höchstens wurden einmal runde Summen genannt, die ein Grundstück kostete; das Wort Grundstück wurde mit Ehrerbietung ausgesprochen.

Dieser Widerwille, von Geld zu reden, der dem Pariser Brauch so zuwiderläuft, hat sich in meinem Charakter völlig eingenistet. Der Anblick einer großen Summe Goldes bringt mich nur auf den einen Gedanken, wie verdrießlich es sein muß, sie vor Dieben zu schützen. Da dies Gefühl oft für Affektiertheit gehalten wurde, rede ich nicht mehr davon.

Alle Ehrbegriffe, alle hohen, stolzen Gefühle der Familie stammten von meiner Großtante Elisabeth. Diese Gefühle herrschten despotisch im Hause, und doch sprach sie nur selten darüber, vielleicht alle zwei Jahre einmal. Diese Frau von seltnem Edelsinn betete ich an. Sie mochte damals fünfundsechzig Jahre alt sein. Sie war stets peinlich sauber und sehr einfach gekleidet, aber die Stoffe ihrer Kleider waren kostbar. Wie man sich denken kann, entdecke ich dies alles erst jetzt, wo ich darüber nachdenke. So habe ich den Gesichtsausdruck meiner sämtlichen Verwandten vergessen, und doch sehe ich ihre Züge bis in die kleinsten Einzelheiten vor mir. Wenn ich mir den Gesichtsausdruck meines trefflichen Großvaters etwas deutlicher vorstelle, so liegt das daran, daß ich ihn noch einmal besuchte, als ich schon Auditor oder Kriegskommissar war. Mein Charakter hat sich äußerst spät entwickelt; daraus erkläre ich mir heute diesen Mangel an Physiognomiengedächtnis. Bis in mein fünfundzwanzigstes Jahr, was sage ich, oft noch jetzt, muß ich mich zusammennehmen, um nicht dem Eindruck der Dinge zu unterliegen und sie mit Vernunft, mit meiner Erfahrung zu beurteilen. Aber was zum Teufel geht das den Leser an? Was liegt ihm an diesem ganzen Buche? Und doch: wenn ich Henris Charakter nicht vertiefe, so schwer mir auch die Selbsterkenntnis fällt, so bin ich kein ehrlicher Autor, der über seinen Gegenstand alles sagt, was er weiß.

Eines Tages sprach meine Großtante Elisabeth gerührt von ihrem Bruder, der in jungen Jahren in Paris gestorben war. Ich war allein mit ihr in ihrem Zimmer an der Place Grenette, an einem Nachmittag. Offenbar entsprach seine hohe Seele ihrem Denken, und der Form halber sagte sie zu mir:

»Welch ein Charakter!« (Sie meinte: welche Willenskraft.) »Welche Tatkraft! Ach, welch ein Unterschied!« (Das hieß: zwischen ihm und meinem Großvater Henri Gagnon.) Aber sofort besann sie sich, mit wem sie so sprach, und setzte hinzu: »So viel habe ich nie gesagt.«

Das Gespräch dauerte lange. Sie kam auf ihren Vater. Unter hundert Einzelheiten, die ich vergessen habe, sagte sie: »Damals weinte er vor Wut, als er hörte, daß der Feind auf Toulon rückte.« (Das war wohl um 1736, in dem Kriege, der durch die Schlacht bei Assiette bezeichnet wird.) Er wollte, daß die Miliz aufgeboten würde. Nichts aber widersprach mehr der Gesinnung meines Großvaters Gagnon, eines wahren Fontenelle, des geistvollsten und unpatriotischsten Mannes, den ich kennen gelernt habe. Der Patriotismus hätte ihn in unvornehmer Weise von seinen eleganten literarischen Ideen abgelenkt. Mein Vater hätte sofort berechnet, was er dabei verdiente. Mein Oheim Romain hätte mit erschrockener Miene gesagt: »Zum Teufel, das kann gefährlich für mich werden!« Das Herz meiner alten Großtante und das meine hätte vor Teilnahme gepocht...

Vielleicht gehe ich hier zu weit und schreibe mir mit sieben bis acht Jahren die Gefühle zu, die ich erst mit neun oder zehn Jahren hatte... Soviel aber steht fest: Das ernste, steife Bild meines Urgroßvaters in seinem vergoldeten Rahmen mit großen, einen halben Fuß breiten Rosetten, das mir fast Furcht einflößte, wurde mir teuer und heilig, als ich erfuhr, welche hochherzigen, mutigen Gefühle das Vordringen der Feinde gegen Toulon in ihm ausgelöst hatte.


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