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Rom, 30. Januar bis 2. Februar 1836.
Herr Rosset setzte mich in einem Gasthof an der Ecke der Rue de Bourgogne und der Rue Saint-Dominique ab. Es sollte in der Nähe der Polytechnischen Hochschule sein, weil man glaubte, ich würde sie besuchen.
Ich war sehr erstaunt über den Klang der Glocken, die die Stunden anschlugen. Die Umgebung von Paris war mir äußerst häßlich erschienen: es gab gar keine Berge! Diese Abneigung nahm in den nächsten Tagen rasch zu. Ich verließ den Gasthof und nahm mir aus Sparsamkeit ein Zimmer an der Esplanade des Invalides. Etwas Anschluß und ein paar Ratschläge erhielt ich durch die Mathematikschüler, die im Jahre vorher die Polytechnische Hochschule bezogen hatten. Ich suchte sie auf.
Danach mußte ich meinem Oheim DaruNoël Daru (1729-1804), bis 1786 Generalsekretär des Languedoc. Er war damals also siebzig Jahre alt. meinen Besuch machen. Es war tatsächlich der erste in meinem Leben. Herr Daru, ein Weltmann, etwa fünfundsechzig Jahre alt, muß sich über mein linkisches Benehmen recht geärgert haben, und dies Benehmen muß sehr der Grazie entbehrt haben. Dabei kam ich mit dem festen Vorsatz nach Paris, ein Frauenverführer zu werden, das, was ich heute nach Mozarts Oper einen Don Juan nennen würde.
Herr Daru war lange Generalsekretär des Herrn von Saint-Priest, Intendanten des Languedoc, gewesen, das heute in sieben Departements zerfällt. Als Kronland mit Überresten öffentlicher Rechte und Freiheiten erforderte es einen gewandten Generalsekretär und als Intendanten einen Grandseigneur, wie es Herr von Saint-PriestMarie Joseph de Saint-Priest (geb. 1732 in Grenoble) war 1764-86 Intendant des Languedoc. war. Herr Daru aus Grenoble, der Sohn bürgerlicher Eltern, die Anspruch auf den Adel erhoben, aber arm aus Stolz waren, wie meine ganze Familie, hatte sich aus eigner Kraft emporgearbeitet und auf ehrliche Weise wohl 400-500 000 Franken erworben. Die Revolution hatte er mit Geschick überstanden, ohne sich durch Liebe oder Haß verblenden zu lassen, die er für Vorurteile, Adel oder Klerus hätte haben können. Er war ein Mann ohne andre Passion als das Nützliche in der Eitelkeit oder das Eitle in nützlichen Dingen. Er besaß ein Haus in der Rue de Lille 505, in dem er bescheidentlich nur die kleine Wohnung über der Toreinfahrt innehatte.
Den ersten Stock auf der Rückseite des Hofes hatte Frau Rebuffet gemietet, die Gattin eines äußerst tüchtigen Kaufmanns, eines charaktervollen, warmherzigen Mannes, der das gerade Gegenteil des Herrn Daru war. Herr Rebuffet verbrachte täglich eine Viertelstunde bei seiner Frau und seiner Tochter Adele; Jean Baptiste Rebuffet starb um 1804: seine Tochter Adele(Adelaide) Baptistine, geb. 1788 in Marseille, heiratete 1808 Alexandre Pétiet und starb 1861. im übrigen lebte er in seinem Geschäftshaus in der Rue Saint-Denis mit Fräulein Barberen, seiner Geschäftsteilhaberin und Geliebten, einem tatkräftigen, gewöhnlichen Mädchen von dreißig bis fünfunddreißig Jahren, die mir sehr danach aussah, als ob sie ihrem Liebhaber Szenen machte und Hörner aufsetzte und ihn gründlich langweilte.
Der gute Herr Rebuffet nahm mich liebevoll und mit offnem Herzen auf, wogegen Herr Daru mich mit schönen Worten über seine Zuneigung und Anhänglichkeit für meinen Großvater empfing, die mir das Herz zusammenschnürten und mir den Mund verschlossen.
Wie ganz anders wäre ich geworden, hätte mein Großvater Gagnon mich an Herrn Rebuffet an Stelle des Herrn Daru empfohlen. Er hätte alles aus mir gemacht, und ich wäre verständiger geworden, hätte der Zufall mich unter seine Obhut gestellt. Aber es war mein Schicksal, alles mit dem Degen in der Hand zu erkämpfen. Welchen Ozean heftiger Empfindungen habe ich mein Leben lang durchschwommen, namentlich zu jener Zeit!
Herr Daru war ein großer und recht schöner Greis mit großer Nase, was im Dauphine selten ist. Mit dem einen Auge schielte er leicht und hatte dadurch einen falschen Ausdruck. Bei ihm lebte ein altes verschrumpeltes Frauchen, eine rechte Provinzlerin, seine Frau.Suzanne, geb. Périès Er hatte sie einst ihres Geldes wegen geheiratet; übrigens wagte sie in seiner Gegenwart nicht zu mucksen.
Sie war im Grunde gutmütig und sehr höflich, mit jener Art von Würde, wie sie der Frau eines Unterpräfekten in der Provinz zukommt. Im übrigen bin ich nie einem Wesen begegnet, dem es an himmlischem Feuer mehr gefehlt hätte. Nichts auf der Welt hätte ihre Seele für etwas Edles und Hochherziges begeistern können. Die selbstsüchtigste Klugheit, deren man sich auch noch rühmt, erstickt bei diesem Menschenschlag jede Zorneswallung oder hochherzige Regung.
Diese vorsichtige, verständige, aber wenig liebenswürdige Art machte auch den Charakter ihres ältesten Sohnes aus, des Grafen Pierre Daru,Pierre Antoine Daru, geb. in Montpellier am 12. Januar 1767, 1806 Generalintendant in Preußen, 1809 in Österreich, 1811 Minister und Staatssekretär, 1818 Pair von Frankreich, gest. 5. September 1829. des späteren Ministers und Staatssekretärs Napoleons, der so großen Einfluß auf mein Leben gehabt hat, ebenso den Charakter ihrer jüngeren Töchter, der späteren Frau Sophie de Baure und der Frau Le Brun, jetzt Marquise de Graves.
Ihr zweiter Sohn, Martial Daru,Martial Daru, geb. in Montpellier am 2. Juli 1774, Intendant in Braunschweig 1807, Intendant der Krone in Rom 1811, Baron 1813, gest. 18. Juli 1827. hatte weder Verstand noch Geist, aber ein gutes Herz; er konnte keinem Menschen wehtun.
Frau Cambon, die älteste Tochter des Hauses, hatte vielleicht einen großen Charakter, aber ich konnte ihn nur ahnen; sie starb wenige Monate nach meiner Ankunft in Paris.
Brauche ich zu sagen, daß ich den Charakter dieser Personen so schildere, wie ich sie später sah? Das endgültige Bild, das mir als wahr erscheint, läßt mich alle früheren Züge vergessen. Von meinem ersten Auftreten im Daruschen Salon habe ich nur Erinnerungsbilder. So sehe ich noch deutlich das rote Kattunkleidchen eines hübschen, fünfjährigen Mädchens, des Enkelkindes des alten Herrn, mit dem er seine Kurzweil trieb, wie der alte, müde Ludwig XIV. mit der Herzogin von Burgund. Ohne dies reizende Kind hätte in dem Salon in der Rue de Lille oft trübsinniges Schweigen geherrscht ...
Ich war damals weit entfernt, die Dinge, selbst die äußeren Dinge, deutlich zu sehen. Ich war ganz Erregung, und diese übermäßige Erregung hat mir nur einige sehr deutliche Bilder hinterlassen, ohne Erklärung für das Wie und Warum. Was ich heute sehr klar sehe und 1799 nur sehr undeutlich fühlte, war, daß mit meiner Ankunft in Paris zwei große Ziele meines beständigen, leidenschaftlichen Sehnens mit einem Schlage in Nichts versanken. Ich hatte Paris und die Mathematik angebetet: Paris ohne Berge flößte nur eine so tiefe Abneigung ein, daß ich fast Heimweh bekam. Die Mathematik war für mich nur noch wie das Gerüst eines abgebrannten Feuerwerks. Mich quälte dieser Umschlag, dessen Wie und Warum ich mir mit meinen sechzehneinhalb Jahren nicht zu erklären wußte. Tatsächlich hatte ich Paris nur aus Abscheu vor Grenoble geliebt.
Auch die Mathematik war nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Ich haßte sie sogar etwas im November 1799, denn ich fürchtete sie. Ich war entschlossen, mich in Paris keiner Prüfung zu unterziehen, wie es meine sieben bis acht Mitschüler von der Zentralschule taten, die sämtlich die Polytechnische Hochschule bezogen. Hätte mein Vater sich im geringsten um mich gekümmert, so hätte er mich zu diesem Examen gezwungen und ich hätte die Hochschule bezogen, aber dann konnte ich nicht mehr in Paris leben und Komödien schreiben. Das war die einzige von allen meinen Passionen, die mir geblieben war.
Ich begreife nicht, daß mein Vater mich nicht zu diesem Examen gezwungen hat, aber dieser Gedanke kommt mir erst jetzt, wo ich dies schreibe, siebenunddreißig Jahre später. Wahrscheinlich verließ er sich auf die außergewöhnliche Leidenschaft für die Mathematik, die er bei mir gesehen hatte. Übrigens regte sich mein Vater nur über Dinge in seiner nächsten Nähe auf. Trotzdem hatte ich eine Todesangst, zum Beziehen der Hochschule gezwungen zu werden, und wartete mit größter Ungeduld auf den Beginn der Vorlesungen. In den exakten Wissenschaften kann man nämlich einen Kursus von der dritten Stunde an nicht mehr anfangen.
Doch kehren wir zu meinen Erinnerungsbildern zurück. Ich sehe mich allein und verlassen in meinem möblierten Stübchen sitzen und essen. Die tiefe Enttäuschung über Paris war mir auf den Magen gefallen. Der Pariser Schmutz, das Fehlen der Berge, der Anblick so vieler geschäftiger Leute, die in schönen Wagen an mir vorüberfuhren, als hätten sie nichts zu tun, versenkte mich in tiefen Kummer. Ein Arzt, der sich die Mühe gemacht hätte, meinen gewiß nicht komplizierten Fall zu untersuchen, hätte mir ein Brechmittel gegeben und mich alle drei Tage nach Versailles oder Saint-Germain geschickt. Ich fiel jedoch in die Hände eines Kurpfuschers, eines Wundarztes, der in der Nähe des Invalidendoms wohnte, einer damals sehr ärmlichen Stadtgegend, und der die Schüler der Polytechnischen Hochschule von ihren Studentenleiden kurierte. Er verschrieb mir Teufelszeug, das ich in meinem Stübchen allein und verlassen einnahm. Es war ein reines Kellerloch mit einem einzigen, sehr hoch gelegenen Fenster. Dort sehe ich mich an einem eisernen Öfchen sitzen; meine Medizin stand am Boden. Aber mein eigentliches Leiden war der stets wiederkehrende Gedanke: »Mein Gott! Welche Enttäuschung! Was soll ich mir denn noch wünschen!«