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Rom, 17. bis 22. Dezember 1835.
Als wir im ersten Stock des Hauses auf der Place Grenette wohnten, d. h. vor 1790, oder richtiger, in der Mitte des Jahres 1789, hatte mein Oheim, ein junger Advokat, eine hübsche kleine Wohnung im zweiten Stock an der Ecke des Platzes und der Hauptstraße. Er scherzte mit mir und erlaubte mir zuzusehen, wenn er abends um 9 Uhr vor dem Abendessen seine schönen Kleider ablegte und seinen Schlafrock anzog. Das war für mich ein köstlicher Augenblick. Voller Freude ging ich mit ihm in den ersten Stock hinunter und trug den silbernen Leuchter voran. Meine aristokratische Familie hätte sich für entehrt gehalten, wäre der Leuchter nicht von Silber gewesen. Allerdings steckte darin keine vornehme Wachskerze, sondern das damals gebräuchliche Talglicht ...
Mein Oheim war jung, schmuck, leichtsinnig und galt für den liebenswürdigsten Mann der Stadt. Noch Jahre später wollte Madame Delauney ihre Tugend beweisen, die freilich oft Schiffbruch gelitten hatte. »Trotzdem«, sagte sie, »habe ich den jungen Herrn Gagnon nie erhört.«
Mein Oheim machte sich sehr über die feierliche Miene seines Vaters lustig, als dieser ihn in Gesellschaft in eleganten, aber unbezahlten Kleidern traf und ein sehr erstauntes Gesicht machte. »Ich machte mich flugs aus dem Staube«, sagte er zu mir, als er mir diesen Fall erzählte.
Eines Abends führte er mich ins Theater, trotzdem alles dagegen war. Gegeben wurde der »Cid«. »Der Junge ist verrückt«, sagte mein trefflicher Großvater, als ich zurückkam. Als Freund der schönen Künste hatte er sich meinem Theaterbesuch nicht widersetzt. Ich sah also den »Cid«, aber ich glaube, er trat in himmelblauem Seidenkleid mit weißen Atlasschuhen auf ... Ein andermal machte mein Oheim mir die Freude, mich in »Die Karawane von Kairo« mitzunehmen. Ich merkte sehr wohl, daß ich ihn in seinem Verkehr mit den Damen störte. Der Anblick der Kamele verdrehte mir den Kopf. »Die Infantin von Zamorra«, in der ein Hasenfuß oder vielmehr ein Koch, eine Arie sang – er trug einen Helm mit einer Ratte als Helmzier –, versetzte mich in einen Begeisterungstaumel. Das war für mich die wahre Komik.
Ich sagte mir, allerdings ganz dunkel und nicht so deutlich, wie ich es hier schreibe: »Das Leben meines Oheims ist in jedem Augenblick ebenso köstlich wie dieser reizende Theaterbesuch. Es gibt nichts Schöneres auf Erden, als ein liebenswürdiger Mann zu sein wie mein Oheim.« Es kam mir damals nicht in den Sinn, daß mein Oheim nicht so glücklich wie ich war, als er die Kamele der Karawane vorbeiziehen sah.
Doch ich schoß über das Ziel hinaus. Statt galant zu sein, war ich gegen die Frauen, die ich liebte, leidenschaftlich, und gegen die andern gleichgültig, vor allem jeder Eitelkeit bar. Daher mein Mangel an Erfolg und meine Fiaskos. Vielleicht hat kein Mann am kaiserlichen Hofe weniger Frauen besessen, und doch hielt man mich für den Liebhaber der Gattin des ersten Ministers!
Das Theater, ein schöner tiefer Glockenklang (wie in der Kirche oberhalb Rolle im Mai 1800 beim Übergang über den Sankt Bernhard) haben stets einen tiefen Eindruck auf mein Herz gemacht und tun es noch heute. Selbst die Messe, an die ich doch so wenig glaubte, stimmte mich feierlich. Schon in meiner ersten Jugend, von meinem zehnten Jahre an, glaubte ich, daß Gott diese Taschenspielerei verachtete. Und doch, noch jetzt, nach zweiundvierzig Jahren des Nachdenkens, unterliege ich diesem Zauber, der für alle, die ihn ausüben, zu nützlich ist, um nicht Zauberlehrlinge zu finden.
Deutlich sehe ich noch die runde gepuderte Perücke meines Großvaters mit ihren drei Lockenreihen vor mir. Diese Tracht – er trug nie einen Hut – machte ihn wohl im Volke bekannt und geachtet, zumal er von kleinen Leuten nie ein ärztliches Honorar nahm. Er war der Arzt und Hausfreund der meisten adligen Häuser und seit fünfundzwanzig Jahren, d. h. seit der Zeit, wo ich ihn kannte, der Anreger aller nützlichen Einrichtungen in Grenoble ... Ihm verdankt man die Bibliothek. Das war keine Kleinigkeit. Sie mußte zunächst gekauft und dann untergebracht und ein Bibliothekar angestellt werden. Er nahm sich aller jungen Leute an, die geistige Interessen hatten, unterstützte sie gegen ihre Eltern und half ihnen später aus. Den widerstrebenden Eltern hielt er das Beispiel VaucansonsBerühmter Mechaniker aus Grenoble (1709-82). vor.
Als mein Großvater von Montpellier als Doktor der Medizin nach Grenoble kam, hatte er sehr schönes Haar. Aber die öffentliche Meinung von 1760 dekretierte gebieterisch: wenn er keine Perücke trüge, hätte kein Mensch Vertrauen zu ihm ....
Sein Schlafzimmer im ersten Stock nach der Rue Grenette hatte einen grasgrünen Anstrich. Mein Vater sagte damals zu mir: »Der Großvater hat viel Verstand, aber gar keinen Kunstgeschmack.«
Bei ihrem schüchternen Wesen mögen die Franzosen die kräftigen Farben nicht. Statt Grün, Rot, Blau, kräftiges Gelb ziehen sie die unbestimmten Farben vor. Davon abgesehen, finde ich an der Wahl meines Großvaters nichts auszusetzen. Sein Zimmer lag nach Süden, er las sehr viel und wollte seine Augen schonen, über die er manchmal klagte. Aber der Leser – wenn ich je Leser für diese »Abgeschmacktheiten« finde – wird leicht erkennen, daß alle meine Warums, alle meine Erklärungen sehr falsch sein können. Meine Erinnerungsbilder sind sehr deutlich, aber die Erklärungen finde ich erst jetzt bei der Niederschrift, fünfundvierzig Jahre nachher.
Mein trefflicher Großvater war tatsächlich mein wahrer Vater und mein Busenfreund bis zum Jahre 1796, wo ich beschloß, durch die Mathematik von Grenoble fortzukommen. Er erzählte mir oft eine wunderbare Geschichte.
An meinem ersten Geburtstag, dem 23. Januar 1784, ließ meine Mutter mich in ihr grünes Zimmer bringen und hielt mich stehend am Fenster. Mein Großvater, der am Bette stand, rief mich, und ich entschloß mich zu gehen und kam bis zu ihm. Dann redete ich ein paar Worte und sagte: »Atös« (Adieu). Mein Oheim neckte meine Mutter (seine Schwester) mit meiner Häßlichkeit. Anscheinend hatte ich einen riesigen haarlosen Kopf und ähnelte dem Pater Brulard,Gemeint ist Chérubin Beyle (geb. 1709), Franziskanermönch in Grenoble, der Oheim von Henris Vater Chérubin Beyle. einem schlauen, lebenslustigen Mönch, der großen Einfluß in seinem Kloster besaß. Er war ein Oheim oder Großoheim von mir und ist vor mir gestorben.
Ich war sehr unternehmend. Daher zwei Ereignisse, die mein Großvater mit Schrecken und Trauer erzählte. In der Nähe des Felsens bei der Porte de France stach ich mit einem zugespitzten Stecken auf ein Maultier los, das so unverschämt war, mir mit seinen zwei Hufen gegen die Brust zu schlagen. Ich fiel hin. »Etwas stärker, und er war tot«, sagte mein Großvater. Ich stelle mir den Vorgang deutlich vor, aber wahrscheinlich ist es keine unmittelbare Erinnerung, sondern nur ein Erinnerungsbild, das ich mir davon machte, als man mir die Sache zum erstenmal erzählte.
Das zweite tragische Ereignis war, daß ich zwischen meinem Großvater und meiner Mutter gegen eine Stuhlkante fiel und mir zwei Zähne ausschlug. Mein guter Großvater konnte sich von seinem Erstaunen gar nicht erholen. »Zwischen der Mutter und mir!« sagte er, wie um dies übermächtige Schicksal zu beklagen ...
Der gesunde Dauphineser Verstand lehnte sich allmählich gegen den Hof auf. Ich entsinne mich sehr deutlich der Abreise meines Großvaters zu den Generalständen in Romans. Er war damals ein hoch geachteter Patriot, aber sehr gemäßigt, etwa wie Fontenelle als Volkstribun. Am Tage seiner Abreise herrschte eine Kälte, daß die Steine barsten. Es war der strenge Winter 1788-89; auf der Place Grenette lag ein Fuß hoch Schnee.
Im Kamin meines Großvaters brannte ein mächtiges Feuer. Seine Freunde waren in Menge gekommen, um ihn den Wagen besteigen zu sehen, unter andern der berühmteste Advokat von Grenoble, das Orakel der Rechtskunde, eine schöne Stellung in einer Parlamentsstadt, Herr Barthélemy d'Orbane, ein Hausfreund der Familie. Ich stand vor dem knisternden Feuer als Held des Augenblicks, denn ich war überzeugt, daß mein Großvater nur meinetwegen Grenoble ungern verließ und mich allein liebte. In dieser Situation brachte mir Herr Barthélemy d'Orbane das Fratzenschneiden bei. Ich sehe uns beide noch. In dieser Kunst machte ich rasche Fortschritte; ich lachte selbst über die Fratzen, die ich schnitt, um die andern zum Lachen zu bringen.
Vergebens widersetzte man sich alsbald meiner wachsenden Neigung zum Fratzenschneiden; ich habe sie noch und lache oft über meine Fratzen, wenn ich allein bin.
Geht auf der Straße ein Geck mit blasierter Miene vorüber, so ahme ich seine Miene nach und lache. Es treibt mich mehr dazu, das Mienenspiel oder die absichtlich angenommenen Mienen nachzuahmen, als die Körperbewegungen. Im Staatsrat ahmte ich ungewollt in sehr gefährlicher Weise die dünkelhafte Miene des berühmten Grafen Regnault de Saint Jean d'Angely nach, der drei Schritte vor mir saß, zumal wenn er seinen überhohen Halskragen herabschlug, um den cholerischen Abbé Louis, der auf der andern Seite des Saales ihm gegenüber saß, besser zu hören. Dieser Trieb oder diese Kunst, die ich Herrn d'Orbane verdanke, hat mir viele Feinde gemacht. Heute wirft mir der verständige di Fiore die versteckte oder vielmehr schlecht versteckte Ironie vor, die ungewollt in meinem rechten Mundwinkel zuckt.
In Romans fehlten meinem Großvater nur fünf Stimmen, um Abgeordneter zu werden. »Dann wäre ich jetzt tot«, wiederholte er oft und beglückwünschte sich, die Stimmen mehrerer Ackerbürger ausgeschlagen zu haben, die Vertrauen zu ihm hatten und ihn am Morgen aufsuchten. Seine Fontenellesche Vorsicht ließ ihn keinen ernstlichen Ehrgeiz empfinden. Trotzdem hielt er gern eine Rede vor einer gewählten Versammlung, zum Beispiel in der Bibliothek. Ich sehe mich noch dort als Zuhörer in dem ersten Saal. Er war voller Menschen und in meinen Augen riesengroß. Aber bei welcher Gelegenheit kamen die Menschen zusammen? Ich weiß es nicht. Nur das Bild ist geblieben ...
Ich hegte große Zuneigung zu Herrn d'Orbane und zu seinem Bruder, dem dicken Chorherrn. Ich besuchte sie auf der Place des Tilleuls oder in dem gewölbten Durchgang von der Place des Tilleuls zur Place Notre Dame. Dicht dabei lag die Kirche, in der der Chorherr sang. Mein Vater oder Großvater schickten dem berühmten Advokaten zu Neujahr Truthähne.
Ich liebte auch den Pater Ducros sehr, einen früheren Cordelier aus dem Kloster zwischen dem Stadtgarten und dem de Franquièresschen Hause, ebenso den liebenswürdigen Pfarrer ChélanIhm hat Stendhal in seinem Roman »Rot und Schwarz« (Bd. I dieser Ausgabe) ein Denkmal liebevoller Erinnerung gesetzt. in Risset bei Claix. Das war ein kleiner, hagerer, nerviger, feuriger, geistsprühender Mann in reiferen Jahren, der mir alt vorkam, obwohl er erst vierzig bis fünfundvierzig Jahre zählen mochte. Seine Tischgespräche belustigten mich höchlichst. Er speiste stets bei meinem Großvater, wenn er nach Grenoble kam; die Mahlzeit war dann weit lustiger als gewöhnlich.
Eines Tages beim Abendessen sprach er dreiviertel Stunden lang und hielt dabei einen Löffel Erdbeeren in der Hand. Schließlich führte er ihn an den Mund.
»Abbé,« sagte mein Großvater, »Sie werden Ihre Messe morgen nicht lesen.«
»Ich werde sie morgen lesen, aber nicht heute. Denn es ist schon Mitternacht durch.«
Dies Zwiegespräch belustigte mich einen Monat lang. Es schien mir geistsprühend. So ist der Geist in der Vorstellung des Volkes oder der Jugend: die Bewunderung steckt in ihnen. Man sehe die bewunderten geistreichen Antworten von Boccaccio oder Vasari.
In jenen glücklichen Zeiten nahm mein Großvater die Religion von der heiteren Seite, und man teilte seine Ansicht. Schwermütig und etwas fromm wurde er erst nach dem Tode meiner Mutter (1790), wohl auch in der unbestimmten Hoffnung, sie in der anderen Welt wiederzusehen, wie Herr von Broglie von seinem mit dreizehn Jahren verstorbenen liebenswürdigen Töchterchen sagte: »Mir ist, als sei meine Tochter in Amerika.«
Ich glaube, der Abbé Chélan speiste bei uns an dem Tage der sogenannten »Ziegelschlacht«. Damals sah ich das erste, von der Revolution vergossene Blut fließen. Ein unglücklicher Hutmachergeselle bekam einen tödlichen Bajonettstich in den Rücken. Man stand mitten während der Mahlzeit vom Tische auf. Das Bild steht mir noch deutlich vor Augen; es mag dreiundvierzig Jahre her sein.7. Juni 1788.
Der Kommandierende im Dauphiné, Herr von Clermont-Tonnère, hatte das Regierungsgebäude besetzt, ein einzelnes Haus, das auf die Wälle ging (mit prachtvollem Blick auf die Höhen von Eybens, einem stillen, schönen Blick, Claude Lormins würdig) und von der Rue Neuve aus einen schönen Hofeingang hatte. Er wollte wohl einen Menschenauflauf zerstreuen. Das Volk verteidigte sich gegen seine zwei Regimenter, indem es von den Dächern herab Ziegel warf: daher der Name »Ziegelschlacht«.
Einer der Unteroffiziere dieses Regiments war Bernadotte, der jetzige König von Schweden, eine edle Seele wie Murat, der Vizekönig von Neapel, aber weit geschickter. Der Friseur Lefèvre, ein Freund meines Vaters, hat uns oft erzählt, wie er dem General Bernadotte (so sagte er 1804) das Leben gerettet hätte, als er am Ende einer Allee scharf bedrängt wurde. Lefèvre war ein schöner, sehr tapferer Mann; der Marschall Bernadotte hatte ihm ein Geschenk gesandt. Aber das alles gehört der Geschichte an. Es ist zwar von Augenzeugen berichtet, aber ich habe es nicht gesehen. Ich will künftig nur das erzählen, was ich selbst gesehen habe.
Meine Eltern waren während der Mahlzeit vom Tisch aufgestanden, und ich stand allein am Fenster des Eßzimmers im Erdgeschoß. Ich sah ein altes Weib, seine alten Schuhe in den Händen schwingend, und hörte sie rufen: »Ich empöre mir! Ich empöre mir!« Sie lief von der Place Grenette zur Hauptstraße. Die Lächerlichkeit dieses Aufruhrs machte mir großen Eindruck. Ein altes Weib gegen ein Regiment!
Ich dachte noch an die Alte, als ich durch einen traurigen Anblick abgelenkt wurde. Der Hutmachergeselle, der, wie man sagte, einen Bajonettstich bekommen hatte, ging mit großer Mühe vorbei, von zwei Männern gestützt, auf deren Schultern er seine Arme gelegt hatte. Er war ohne Rock; sein Hemd und seine weiße Hose waren blutüberströmt. Ich sehe ihn noch. Seine heftig blutende Wunde war unten im Rücken, gegenüber dem Nabel. Man führte ihn mit Mühe in sein Zimmer im sechsten Stock des Périerschen Hauses; als er dort ankam, starb er.
Meine Verwandten schalten mich aus und schickten mich von dem Fenster fort, damit ich diesen scheußlichen Anblick nicht sähe, aber ich ging immer wieder hin. Ich sah den Ärmsten durch die großen Treppenfenster in allen Stockwerken des Périerschen Hauses. Diese Erinnerung ist, wie begreiflich, die deutlichste, die mir aus jener Zeit geblieben ist.
Dagegen habe ich nur undeutliche Erinnerungen an das Freudenfeuer in Le Fontail (an der Straße von Grenoble nach Voreppe), wo LamoignonGroßsiegelbewahrer (Justizminister), der 1789 die absolutistische Erklärung des Königs an das Parlament unterschrieb. verbrannt wurde. Mir tat es sehr leid, die große bekleidete Strohpuppe nicht zu sehen, aber meine »wohlgesinnten« Eltern, denen alles zuwider war, was gegen die Ordnung verstieß– »die Ordnung herrscht in Warschau«, sagte 1832 der General Sebastiani –, wollten nicht, daß ich Zeuge des Zornes und der Kraft des Volkes würde. Schon in diesem Alter war ich der gegenteiligen Ansicht, jedenfalls stand sie mit zehn Jahren fest.
Eines Tages war bei meinem Großvater viel die Rede von der baldigen Ankunft des Marschalls de Vaux.. Er starb (1788); der majestätische Glockenklang bewegte mich tief. Man führte mich zu dem erleuchteten Katafalk. Der Anblick dieses schwarzen Sarges, den am hellen Tage zahlreiche brennende Kerzen umgaben, machte mir Eindruck. Zum erstenmal begriff ich den Tod. Der Kammerdiener meines Großvaters, namens Lambert, ein hübscher, sehr munterer junger Bursche, führte mich hin.
Der folgende Tag war für mich ein Schlachttag. Mit großer Mühe erlangte ich die Erlaubnis, daß Lambert mit mir ausging, um den Trauerzug zu sehen. Die Menschenmenge war gewaltig. Der dumpfe Klang der mit schwarzem Tuch verkleideten Trommeln bewegte mich sehr. Ich stand am äußersten linken Flügel des Regiments Austrasien (glaube ich), das weiße Uniform mit schwarzen Aufschlägen trug. Ich stand dicht neben dem letzten Mann des Regiments. Plötzlich sagte er zu mir:
»Etwas zurück, damit ich Ihnen beim Schießen keinen Schaden tue.«
Es sollte also geschossen werden! Und so viele Soldaten! Sie trugen das Gewehr unterm Arm.
Ich kam vor Angst um. Von weitem sah ich den schwarzen Wagen kommen. Er fuhr langsam über die Steinbrücke, von sechs oder acht Pferden gezogen. Zitternd wartete ich auf das Feuern. Endlich stieß der Offizier einen Ruf aus, und sofort krachte die Salve. Wie Bergeslast fiel es mir von der Seele. In diesem Augenblick drängte sich die Menge um den schwarz verhängten Leichenwagen, den ich mir in Muße ansah. Ich glaube, es waren Kerzen dabei. Dann folgte eine zweite und wohl auch eine dritte Salve außerhalb des Stadttors, aber ich hatte meine Feuertaufe erhalten.
Ich glaube mich auch noch der Reise nach Vizille zu erinnern. (Die Provinzialstände tagten im Schlosse von Vizille, das vom Konnetabel LesdiguièresDer Herzog von Lesdignières (1543-1626), einer der berühmtesten Kriegsmänner unter Heinrich IV. und Ludwig XIII. erbaut war.) Mein Großvater war ein großer Altertumsfreund und machte mir durch seine Erzählungen einen großen Begriff von diesem Schloß. Ich war im Begriff, Verehrung für den Adel zu lernen, aber meine Kameraden de Saint-Ferréol und de Sinard heilten mich davon ...
Der junge Mounier, wie mein Großvater ihn nannte, kam ins Haus ... Mein Großvater, der ein zärtlicher und eifriger Freund aller bildungshungrigen jungen Leute war, lieh ihm Bücher und nahm ihn gegen die Vorwürfe seines Vaters in Schutz. Wenn er durch die Hauptstraße ging, trat er bisweilen in dessen Laden und sprach mit ihm über seinen Sohn. Der alte Tuchhändler, der zahlreiche Kinder hatte und nur an das Nützliche dachte, war verzweifelt, daß sein Sohn seine Zeit mit Bücherlesen vertat ...
Das kleine, steife, schlechte Bild in einem Nebenzimmer der Bibliothek von Grenoble, das ihn als PräfektenEr wurde 1802 Präfekt in Rennes. Vgl. Seite 241, Anm. darstellt, ist sehr ähnlich. Ein entschlossenes Gesicht, aber eine enge Stirn. Mouniers Stärke war sein Charakter, aber seine Einsicht stand nicht auf gleicher Höhe. Sein Sohn Eduard, mit dem ich 1803 und 1812 viel verkehrte, ist ein platter, verschlagener Fuchs, ein echter Dauphineser, genau wie der Minister Casimir Périer. Eduard Mounier ist jetzt Pair von Frankreich und Präfekt und verurteilt munter am Pariser Gerichtshof. Wird der Leser mir glauben, wenn ich sage, ich möchte nicht an Stelle der Herren Felix FaureLouis Joseph Felix Faure, geb. 1780 in Grenoble. und Munier sein, die jetzt Pairs von Frankreich sind und einst meine Freunde waren? ...
Mein Großvater, der arbeitsfrohe junge Leute unterstützte, was ihm heute zum Verbrechen angerechnet würde, nahm auch den jungen BarnavePierre Joseph Barnave, geb. 1761 in Grenoble, Begründer des Jakobinerklubs, 1793 wegen seiner Parteinahme für Ludwig XVI. und seiner Beziehungen zum Hofe guillotiniert. in Schutz. Er war unser Nachbar auf dem Lande, er in Saint-Robert, wir in Saint-Vincent. Seraphie konnte ihn nicht ausstehen und freute sich bald darauf über seinen Tod und das geringe Erbteil, das seinen Schwestern hinterblieb. Mein Großvater, der sich mit dem Adel gut stand, war auch das Orakel des Bürgertums, und ich glaube, die Mutter des unsterblichen Barnave, die mit Schmerzen sah, wie er seine Prozesse über der Lektüre von MablyGabriel Monnot de Mably, geb. 1709 in Grenoble, Geistlicher, Aufklärungsschriftsteller, von großem Einfluß auf die Ideen der französischen Revolution († 1785). und Montesquieu vernachlässigte, wurde von meinem Großvater beschwichtigt. Damals galt unser Landsmann Mably nicht wenig, und zwei Jahre darauf erhielt die Rue des Clercs seinen Namen.