Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Ich wähle als Beispiel für die Art, wie eine Seele sich im Bilde ihrer Umwelt zu verwirklichen sucht, inwiefern also gewordene Kultur Ausdruck und Abbild einer Idee menschlichen Daseins ist, die Zahl, die aller Mathematik als schlechthin gegebenes Element zugrunde liegt. Und zwar deshalb, weil die Mathematik, in ihrer ganzen Tiefe den wenigsten erreichbar, einen einzigartigen Rang unter allen Schöpfungen des Geistes behauptet. Sie ist eine Wissenschaft strengsten Stils wie die Logik, aber umfassender und bei weitem gehaltvoller; sie ist eine echte Kunst neben der Plastik und Musik, was die Notwendigkeit einer leitenden Inspiration und die großen Konventionen der Form in ihrer Entwicklung angeht; sie ist endlich eine Metaphysik von höchstem Range, wie Plato und vor allem Leibniz beweisen. Jede Philosophie ist bisher in der Verbundenheit mit einer zugehörigen Mathematik erwachsen. Die Zahl ist das Symbol der kausalen Notwendigkeit. Sie enthält wie der Gottesbegriff den letzten Sinn der Welt als Natur. Deshalb darf man das Dasein von Zahlen ein Mysterium nennen und das religiöse Denken aller Kulturen hat sich diesem Eindruck nie entzogen.Vgl. Bd. II, S. 885f.

Wie alles Werden das ursprüngliche Merkmal der Richtung (Nichtumkehrbarkeit), so trägt alles Gewordene das Merkmal der Ausdehnung, und zwar so, daß nur eine künstliche Trennung der Bedeutung dieser Worte möglich erscheint. Das eigentliche Geheimnis alles Gewordenen und also (räumlich-stofflich) Ausgedehnten aber verkörpert sich im Typus der mathematischen im Gegensatz zur chronologischen Zahl. Und zwar liegt in ihrem Wesen die Absicht einer mechanischen Grenzsetzung. Die Zahl ist darin dem Worte verwandt, das – als Begriff, »begreifend«, »bezeichnend« – ebenfalls Welteindrücke abgrenzt. Das Tiefste ist hier allerdings unfaßlich und unaussprechlich. Die wirkliche Zahl, mit welcher der Mathematiker arbeitet, das exakt vorgestellte, gesprochene, geschriebene Zahlzeichen – Ziffer, Formel, Zeichen, Figur – ist wie das gedachte, gesprochene, geschriebene Wort bereits ein Symbol dafür, versinnlicht und mitteilbar, ein greifbares Etwas für das innere und äußere Auge, in welchem die Grenzsetzung abgebildet erscheint. Der Ursprung der Zahlen gleicht dem Ursprung des Mythos. Der primitive Mensch erhebt unbestimmbare Natureindrücke (»das Fremde«) zu Gottheiten, numina, indem er sie durch einen Namen, sie begrenzend, bannt. Ebenso sind Zahlen etwas, das Natureindrücke abgrenzt und damit bannt. Mit Namen und Zahlen gewinnt das menschliche Verstehen Macht über die Welt. Die Zeichensprache einer Mathematik und die Grammatik einer Wortsprache sind letzten Endes von gleichem Bau. Die Logik ist immer eine Art Mathematik und umgekehrt. Mithin liegt auch in allen Akten menschlichen Verstehens, welche zur mathematischen Zahl in Beziehung stehen – messen, zählen, zeichnen, wägen, ordnen, teilenDazu gehört auch das »Denken in Geld«, vgl. Bd. II, S. 1162ff. –, die sprachliche, durch die Formen des Beweises, Schlusses, Satzes, Systems dargestellte Tendenz auf Abgrenzung von Ausgedehntem, und erst durch kaum noch bewußte Akte dieser Art gibt es für den wachen Menschen durch Ordnungszahlen eindeutig bestimmte Gegenstände, Eigenschaften, Beziehungen, Einzelnes, Einheit und Mehrheit, kurz die als notwendig und unerschütterlich empfundene Struktur desjenigen Weltbildes, das er »Natur« nennt und als solche »erkennt«. Natur ist das Zählbare. Geschichte ist der Inbegriff dessen, was zur Mathematik kein Verhältnis hat. Daher die mathematische Gewißheit der Naturgesetze, die staunende Einsicht Galileis, daß die Natur » scritta in lingua matematica« sei und die von Kant hervorgehobene Tatsache, daß die exakte Naturwissenschaft genau so weit reicht wie die Möglichkeit der Anwendung mathematischer Methoden.

In der Zahl als dem Zeichen der vollendeten Begrenzung liegt demnach, wie Pythagoras oder wer es sonst war, infolge einer großartigen, durchaus religiösen Intuition mit innerster Gewißheit begriff, das Wesen alles Wirklichen, das geworden, erkannt, begrenzt zugleich ist. Indes darf man Mathematik, wenn man darunter die Fähigkeit, in Zahlen praktisch zu denken, versteht, nicht mit der viel engeren wissenschaftlichen Mathematik, der mündlich oder schriftlich entwickelten Lehre von den Zahlen verwechseln. Die geschriebene Mathematik repräsentiert so wenig wie die in theoretischen Werken niedergelegte Philosophie den ganzen Besitz dessen, was im Schoße einer Kultur an mathematischem und philosophischem Blick und Denken vorhanden war. Es gibt noch ganz andere Wege, das den Zahlen zugrunde liegende Urgefühl zu versinnlichen. Am Anfang jeder Kultur steht ein archaischer Stil, den man nicht nur in der frühhellenischen Kunst hätte geometrisch nennen können. Es liegt etwas Gemeinsames, ausdrücklich Mathematisches in diesem antiken Stil des 10. Jahrhunderts, im Tempelstil der 4. Dynastie Ägyptens mit seiner unbedingten Herrschaft der geraden Linie und des rechten Winkels, im altchristlichen Sarkophagrelief und im romanischen Bau und Ornament. Jede Linie, jede menschliche oder Tierfigur mit ihrer gar nicht imitativen Absicht offenbart hier ein mystisches Zahlendenken in unmittelbarer Beziehung auf das Geheimnis des Todes (des Starren).

Gotische Dome und dorische Tempel sind steingewordne Mathematik. Gewiß hat erst Pythagoras die antike Zahl als das Prinzip einer Weltordnung greifbarer Dinge, als Maß oder Größe, wissenschaftlich erfaßt. Aber sie wurde eben damals auch als schöne Ordnung von sinnlich-körperhaften Einheiten durch den strengen Kanon der Statue und die dorische Säulenordnung zum Ausdruck gebracht. Alle großen Künste sind ebensoviel Arten zahlenmäßiger bedeutungsvoller Grenzgebung. Man denke an das Raumproblem in der Malerei. Eine hohe mathematische Begabung kann auch ohne jede Wissenschaft technisch produktiv sein und in dieser Form zum vollen Bewußtsein ihrer selbst gelangen. Man wird doch angesichts des gewaltigen Zahlensinnes, den die Raumgliederung der Pyramidentempel, die Bau-, Bewässerungs- und Verwaltungstechnik, vom ägyptischen Kalender ganz zu schweigen, schon im Alten Reiche voraussetzt, nicht behaupten wollen, daß das wertlose »Rechenbuch des Ahmes« aus dem Neuen Reich das Niveau der ägyptischen Mathematik bezeichne. Die Eingebornen Australiens, deren Geist durchaus der Stufe des Urmenschen angehört, besitzen einen mathematischen Instinkt oder, was dasselbe ist, ein noch nicht durch Worte und Zeichen mitteilbar gewordenes Denken in Zahlen, das in bezug auf die Interpretation reiner Räumlichkeit das griechische bei weitem übertrifft. Sie haben als Waffe den Bumerang erfunden, dessen Wirkung auf eine gefühlsmäßige Vertrautheit mit Zahlenarten schließen läßt, die wir der höheren geometrischen Analysis zuweisen würden. Sie besitzen dementsprechend – aus einem später zu erläuternden Zusammenhange – ein äußerst kompliziertes Zeremoniell und eine so feine sprachliche Abstufung der Verwandtschaftsgrade, wie sie nirgends, selbst in hohen Kulturen nicht wieder beobachtet worden ist. Dem entspricht es, daß die Griechen in ihrer reifsten Zeit unter Perikles in Analogie zur euklidischen Mathematik weder einen Sinn für das Zeremoniell des öffentlichen Lebens noch für die Einsamkeit besaßen, sehr im Gegensatz zum Barock, das neben der Analysis des Raumes den Hof des Sonnenkönigs und ein auf dynastischen Verwandtschaften beruhendes Staatensystem entstehen sah.

Es ist der Stil einer Seele, der in einer Zahlenwelt, aber nicht in ihrer wissenschaftlichen Fassung allein zum Ausdruck kommt.


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