Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Jede Kultur hat mithin ihre eigene Art, seelisch zu verlöschen, und nur die eine, die aus ihrem ganzen Leben mit tiefster Notwendigkeit folgt. Deshalb sind Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus morphologisch gleichwertige Ausgangserscheinungen.

Auch der Buddhismus, dessen letzten Sinn man bisher immer mißverstanden hat. Das ist keine puritanische Bewegung wie etwa der Islam und der Jansenismus, keine Reformation wie die dionysische Strömung gegenüber dem Apollinismus, keine neue Religion, überhaupt keine Religion wie die der Veden und des Apostels Paulus,Erst nach Jahrhunderten ist aus der buddhistischen Lebensbetrachtung, die weder einen Gott noch eine Metaphysik anerkennt, durch Zurückgreifen auf die längst erstarrte brahmanische Theologie und darüber hinaus auf die ältesten Volkskulte eine Fellachenreligion entstanden. Vgl. Bd. II, S. 937, 944f. sondern eine letzte rein praktische Weltstimmung müder Großstadtmenschen, die eine abgeschlossene Kultur im Rücken und keine innere Zukunft mehr vor sich haben; er ist das Grundgefühl der indischen Zivilisation und deshalb mit dem Stoizismus und Sozialismus »gleichzeitig« und gleichwertig. Die Quintessenz dieser durchaus weltlichen, nicht metaphysischen Gesinnung findet sich in der berühmten Predigt von Benares, den »vier heiligen Wahrheiten vom Leiden«, durch welche der philosophierende Prinz seine ersten Anhänger gewann. Ihre Wurzeln liegen in der rationalistisch-atheistischen Sankhyaphilosophie, deren Weltanschauung stillschweigend vorausgesetzt wird, ganz wie die Sozialethik des 19. Jahrhunderts aus dem Sensualismus und Materialismus des 18. und die Stoa trotz ihrer flachen Verwertung Heraklits von Protagoras und den Sophisten stammt. Die Allmacht der Vernunft ist in jedem Falle der Ausgangspunkt aller moralischen Überlegung. Von Religion, sofern man darunter den Glauben an Metaphysisches versteht, ist keine Rede. Nichts kann religionsfremder sein als diese Systeme in ihrer ursprünglichen Gestalt. Was aus ihnen in den späteren Stadien der Zivilisation geworden ist, steht hier nicht in Frage.

Der Buddhismus lehnt alles Nachdenken über Gott und die kosmischen Probleme ab. Nur das Selbst, nur die Einrichtung des wirklichen Lebens ist ihm wichtig. Auch eine Seele wird nicht anerkannt. Wie der westeuropäische Psychologe der Gegenwart – und mit ihm der »Sozialist« – den innern Menschen als Empfindungsbündel und als Häufung chemisch-elektrischer Energien abtut, so der indische der Buddhazeit. Der Lehrer Nagasena beweist dem König Milinda, daß die Teile des Wagens, auf dem er fährt, nicht der Wagen selbst, und »Wagen« nur ein Wort ist – ebenso stehe es mit der Seele. Die seelischen Elemente werden als Skandhas, Haufen, bezeichnet, die vergänglich sind. Das entspricht durchaus den Vorstellungen der Assoziationspsychologie. Es ist viel Materialismus in der Lehre Buddhas.Es versteht sich, daß jede Kultur auch ihre eigne, durch ihr gesamtes Weltgefühl in allen Einzelheiten bedingte Art von Materialismus besitzt. Wie sich der Stoiker den heraklitischen Begriff des Logos aneignet, um ihn materiell zu verflachen, wie der Sozialismus in seinen darwinistischen Grundlagen Goethes tiefen Begriff der Entwicklung (durch Hegels Vermittlung) mechanisch veräußerlicht, so der Buddhismus den brahmanischen Begriff des karman, einer unserem Denken fast unvollziehbaren Vorstellung von einem tätig sich vervollkommnenden Sein, das man oft genug ganz materialistisch wie einen in Veränderung begriffenen Weltstoff behandelt findet.

Wir haben drei Formen des Nihilismus vor uns, das Wort im Sinne Nietzsches gebraucht. Die Ideale von gestern, die seit Jahrhunderten herangewachsenen religiösen, künstlerischen, staatlichen Formen sind abgetan, nur daß selbst dieser letzte Akt der Kultur, ihre Selbstverneinung, noch einmal das Ursymbol ihres ganzen Daseins zum Ausdruck bringt. Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale; der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück. Der Stoizismus ist auf ein Sichverhalten des einzelnen gerichtet, auf ein statuenhaftes, rein gegenwärtiges Sein, ohne Beziehung auf Zukunft und Vergangenheit, oder auf andre. Der Sozialismus ist die dynamische Behandlung des gleichen Themas: dieselbe Verteidigung nicht auf die Haltung, sondern die Auswirkung des Lebens, aber mit einem mächtig angreifenden Zug ins Ferne auf die gesamte Zukunft und die gesamte Masse der Menschen erstreckt, die einer einzigen Methode unterworfen werden sollen; der Buddhismus, den nur ein Dilettant von Religionsforscher mit dem Christentum vergleichen kann,Und es müßte erst gesagt werden, ob mit dem Christentum der Kirchenväter oder mit dem der Kreuzzüge, denn dies sind zwei verschiedene Religionen unter derselben dogmatisch-kultischen Gewandung. Der gleiche Mangel an psychologischem Feingefühl tritt in dem beliebten Vergleich des heutigen Sozialismus mit dem Urchristentum zutage. ist durch die Worte abendländischer Sprachen kaum wiederzugeben. Aber es ist erlaubt, von einem stoischen Nirwana zu reden und auf die Gestalt des Diogenes zu verweisen; auch der Begriff eines sozialistischen Nirwana ist zu rechtfertigen, sofern man die Flucht vor dem Kampf ums Dasein ins Auge faßt, wie die europäische Müdigkeit sie in die Schlagworte Weltfriede, Humanität und Verbrüderung aller Menschen kleidet. Aber nichts von dem reicht an den unheimlich tiefen Begriff des buddhistischen Nirwana heran. Es scheint, daß die Seele alter Kulturen in den letzten Verfeinerungen und sterbend wie eifersüchtig auf ihr eigenstes Eigentum, ihren Gehalt an Form, auf das mit ihr geborene Ursymbol ist. Es gibt nichts im Buddhismus, das »christlich« sein könnte, nichts im Stoizismus, das im Islam von 1000 n. Chr. vorkommt, nichts was Konfuzius mit dem Sozialismus gemein hätte. Der Satz: si duo faciunt idem, non est idem, der an der Spitze jeder historischen Betrachtung stehen sollte, die es mit lebendigem, nie sich wiederholendem Werden und nicht mit logisch, kausal und zahlenmäßig ergreifbarem Gewordnen zu tun hat, gilt ganz besonders von diesen, eine Kulturbewegung abschließenden Äußerungen. In allen Zivilisationen wird ein durch seeltes Sein von einem durch geistigten abgelöst, aber dieser Geist ist in jedem einzelnen Falle von andrer Struktur und der Formensprache einer andern Symbolik unterworfen. Gerade bei aller Einzigkeit des Seins, das im Unbewußten wirkend diese späten Gebilde der historischen Oberfläche schafft, ist deren Verwandtschaft der historischen Stufe nach von entscheidender Bedeutung. Was sie zum Ausdruck bringen, ist verschieden, daß sie es so zum Ausdruck bringen, kennzeichnet sie als »gleichzeitig«. Stoisch wirkt der Verzicht Buddhas, buddhistisch der stoische Verzicht auf das volle resolute Leben. Auf das Verhältnis der Katharsis des attischen Dramas zur Idee des Nirwana war oben schon hingewiesen worden. Man hat das Gefühl, als befinde sich der ethische Sozialismus, obwohl ein ganzes Jahrhundert sich schon seiner Durchbildung widmete, noch heute nicht in der klaren, harten, resignierten Fassung, die seine endgültige sein wird. Vielleicht werden die nächsten Jahrzehnte ihm die reife Formel geben, wie sie Chrysipp der Stoa gab. Aber stoisch wirkt schon heute – in den höheren, sehr engen Kreisen – seine Tendenz zur Selbstzucht und Entsagung aus dem Bewußtsein einer großen Bestimmung heraus, das römisch-preußische, ganz unpopuläre Element in ihm, und buddhistisch seine Geringschätzung eines augenblicklichen Behagens, des carpe diem; epikuräisch erscheint sicherlich das populäre Ideal, dem er ausschließlich die Wirksamkeit nach unten und in die Breite verdankt, jener Kultus der ηδονε, nicht des einzelnen für sich, sondern einzelner im Namen der Ganzheit.

Jede Seele hat Religion. Das ist nur ein anderes Wort für ihr Dasein. Alle lebendigen Formen, in denen sie sich ausspricht, alle Künste, Lehren, Bräuche, alle metaphysischen und mathematischen Formenwelten, jedes Ornament, jede Säule, jeder Vers, jede Idee ist im Tiefsten religiös und muß es sein. Von nun an kann sie es nicht mehr sein. Das Wesen aller Kultur ist Religion; folglich ist das Wesen aller Zivilisation Irreligion. Auch das sind zwei Worte für ein und dieselbe Erscheinung. Wer das nicht im Schaffen Manets gegen Velasquez, Wagners gegen Haydn, Lysippos gegen Phidias, Theokrits gegen Pindar herausfühlt, der weiß nichts vom Besten der Kunst. Religiös ist noch die Baukunst des Rokoko selbst in ihren weltlichsten Schöpfungen. Irreligiös sind die Römerbauten, auch die Tempel der Götter. Mit dem Pantheon, jener Urmoschee mit dem eindringlich magischen Gottgefühl ihres Innenraums, ist das einzige Stück echt religiöser Baukunst in das alte Rom geraten. Die Weltstädte selbst sind den alten Kulturstädten gegenüber, Alexandria gegen Athen, Paris gegen Brügge, Berlin gegen Nürnberg, in allen Einzelheiten bis in das Straßenbild, die Sprache, den trocken intelligenten Zug der GesichterMan beachte die auffallende Ähnlichkeit vieler Römerköpfe mit denen heutiger Tatsachenmenschen amerikanischen Stils und, wenn auch nicht so deutlich, mit manchen ägyptischen Porträtköpfen des Neuen Reichs. Vgl. Bd. II, S. 677f. hinein irreligiös (was man nicht mit antireligiös zu verwechseln hat). Und irreligiös, seelenlos sind demnach auch diese ethischen Weltstimmungen, die durchaus zur Formensprache der Weltstädte gehören. Der Sozialismus ist das irreligiös gewordene faustische Lebensgefühl; das besagt auch das vermeintliche (»wahre«) Christentum, das der englische Sozialist so gern im Munde führt und unter dem er etwas wie eine »dogmenlose Moral« versteht. Irreligiös sind Stoizismus und Buddhismus im Verhältnis zur orphischen und vedischen Religion, und es ist ganz Nebensache, ob der römische Stoiker den Kaiserkult billigt und ausübt, der spätere Buddhist seinen Atheismus mit Überzeugung bestreitet, der Sozialist sich freireligiös nennt oder auch »weiterhin an Gott glaubt«.

Dies Erlöschen der lebendigen inneren Religiosität, das allmählich auch den unbedeutendsten Zug des Daseins gestaltet und erfüllt, ist es, was im historischen Weltbild als die Wendung der Kultur zur Zivilisation erscheint, als das Klimakterium der Kultur, wie ich es früher nannte, als die Zeitwende, wo die seelische Fruchtbarkeit einer Art von Mensch für immer erschöpft ist und die Konstruktion an Stelle der Zeugung tritt. Faßt man das Wort Unfruchtbarkeit in seiner ganzen ursprünglichen Schwere, so bezeichnet es das volle Schicksal des weltstädtischen Gehirnmenschen, und es gehört zum Bedeutsamsten der geschichtlichen Symbolik, daß diese Wendung sich nicht nur im Erlöschen der großen Kunst, der gesellschaftlichen Formen, der großen Denksysteme, des großen Stils überhaupt, sondern auch ganz körperlich in der Kinderlosigkeit und dem Rassetod der zivilisierten, vom Lande abgelösten Schichten ausspricht, eine Erscheinung, die in der römischen und chinesischen Kaiserzeit viel bemerkt und beklagt, aber notwendigerweise nicht gemildert worden ist.Vgl. Bd. II, S. 678 ff.


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