Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Die Verwandlung des Freskogemäldes der Renaissance in das Ölbild Venedigs ist ein Stück Seelengeschichte. Hier hängen alle Einblicke von den zartesten und verborgensten Zügen ab. Fast in jedem Bilde, von Masaccios »Zinsgroschen« in der Brancaccikapelle an über Piero della Francescas schwebenden Hintergrund auf den Bildnissen des Federigo und der Battista von Urbino bis zur »Schlüsselübergabe« Peruginos, ringt das Freskenhafte mit der andringenden neuen Form. Raffaels malerische Entwicklung während seiner Arbeit in den Stanzen des Vatikan ist fast das einzige übersichtliche Beispiel. Das florentinische Fresko sucht die Wirklichkeit in einzelnen Dingen und gibt innerhalb der architektonischen Umrahmung eine Summe von ihnen. Das Ölbild erkennt mit steigender Sicherheit des Ausdrucks nur die Ausgedehntheit als Ganzes an und jeden Gegenstand nur als ihren Repräsentanten. Das faustische Weltgefühl schuf die neue Technik für sich. Es verwarf den zeichnerischen Stil, wie es die Koordinatengeometrie aus der Zeit des Oresme verwarf. Es verwandelte die an Architekturmotive gebundene Linearperspektive in eine rein atmosphärische, die mit unwägbaren Tonunterschieden arbeitet. Aber die ganze künstliche Lage der Renaissancekunst, ihr Nichtverstehen der eignen tieferen Tendenz, die Unmöglichkeit, das antigotische Prinzip zu verwirklichen, erschwerte und verdunkelte den Übergang. Jeder Künstler hat ihn auf andre Weise versucht. Der eine malt mit Ölfarben auf die nasse Wand. Lionardos Abendmahl ist deshalb der Zerstörung anheimgefallen. Andre malen Tafelbilder, als ob sie Fresken wären. Das ist der Fall Michelangelos. Kühne Schritte, Ahnungen, Niederlagen, Verzichte finden sich. Der Kampf zwischen der Hand und der Seele, zwischen Auge und Werkzeug, zwischen der vom Künstler und der von der Zeit gewollten Form ist immer derselbe – der zwischen Plastik und Musik.

Hier verstehen wir endlich Lionardos riesenhaft gedachten Entwurf zur Anbetung der heiligen drei Könige in den Uffizien, das größte malerische Wagnis der Renaissance. Bis auf Rembrandt ist ähnliches nie auch nur geahnt worden. Über alles optische Maß hinaus, über alles, was man damals Zeichnung, Kontur, Komposition, Gruppe nannte, will er zur Anbetung des ewigen Raumes vordringen, in dem alles Körperliche schwebt wie die Planeten im kopernikanischen System, wie die Töne einer Bachschen Orgelfuge in der Dämmerung alter Kirchen, ein Bild von solcher Dynamik der Ferne, daß es innerhalb der technischen Möglichkeiten dieser Zeit Torso bleiben mußte.

In der Sixtinischen Madonna resümiert Raffael die gesamte Renaissance durch die Linie des Umrisses, die den ganzen Gehalt des Werkes in sich saugt. Es ist die letzte große Linie der abendländischen Kunst. Ihre gewaltige Innerlichkeit, die den geheimen Widerspruch mit der Konvention bis zur äußersten Spannung treibt, macht Raffael zu dem am wenigsten verstandenen Künstler der Renaissance. Er kämpfte nicht mit Problemen. Er ahnte sie nicht einmal. Aber er führte die Kunst bis an deren Schwelle, wo der Entscheidung nicht mehr ausgewichen werden konnte. Er starb, als er innerhalb ihrer Formenwelt das letzte vollendet hatte. Der Menge erscheint er flach. Sie wird niemals empfinden, was in seinen Entwürfen vor sich geht. Aber hat man wohl die Morgenwölkchen bemerkt, die, sich in Kinderköpfe verwandelnd, die ragende Gestalt umgeben? Es sind die Scharen der Ungebornen, welche die Madonna ins Leben zieht. Diese lichten Wolken erscheinen im gleichen Sinne auch in der mystischen Schlußszene des zweiten Faust. Gerade das Abweisende, die Unpopularität im schönsten Sinne schließt hier die innere Überwindung des Renaissancegefühls in sich. Perugino versteht man beim ersten Blick; bei Raffael glaubt man es nur. Obwohl zunächst gerade die Linie, das Zeichnerische eine antike Tendenz ankündigt, ist es doch im Raum verschwebend, überirdisch, beethovenartig. Raffael ist in diesem Werk verschlossener als jeder andre, viel mehr selbst als Michelangelo, dessen Wollen durch das Fragmentarische seiner Arbeiten deutlich wird. Fra Bartolommeo hatte die stoffliche Umrißlinie noch ganz in seiner Gewalt; sie ist ganz Vordergrund; ihr Sinn erschöpft sich in der Abgrenzung von Körpern. Bei Raffael schweigt sie, wartet sie, verhüllt sie sich. Sie steht, bei äußerster Spannung, unmittelbar vor ihrer Auflösung im Unendlichen, in Raum und Musik.

Lionardo steht jenseits der Grenze. Der Entwurf zur Anbetung der drei Könige ist schon Musik. Es liegt ein tiefer Sinn in dem Umstande, daß er hier wie bei seinem Hieronymus bei der braunen Untermalung stehen blieb, dem »Rembrandtstadium«, dem atmosphärischen Braun des nächsten Jahrhunderts. Für ihn war in diesem Zustande die äußerste Vollendung und Deutlichkeit der Intention erreicht. Jeder Schritt weiter in eine Farbenbehandlung, deren Geist damals noch in den metaphysischen Bedingungen des Freskostils befangen war, hätte die Seele des Entwurfs zerstört. Gerade weil er die Symbolik der Ölmalerei in ihrer ganzen Tiefe vorfühlte, fürchtete er das Freskenhafte der »Fertigmaler«, das seine Idee verflachen mußte. Die Studien zu dem Gemälde beweisen, wie sehr ihm die Radierung in der Art Rembrandts verwandt war, eine Kunst aus der Heimat des Kontrapunkts, die man in Florenz nicht kannte. Erst die Venezianer, außerhalb der florentinischen Konvention stehend, haben erreicht, was er hier suchte: eine Farbenwelt, die dem Raume, nicht den Dingen dient.

Aus demselben Grunde hat Lionardo – nach unendlichen Versuchen – den Christuskopf des Abendmahls unvollendet gelassen. Auch für ein Porträt in der großen Auffassung Rembrandts, für eine aus bewegten Pinselstrichen, Lichtern und Tönen aufgebaute Seelengeschichte war der Mensch dieser Zeit nicht reif. Aber nur Lionardo war groß genug, um diese Schranke als Schicksal zu erleben. Die andern hatten nur den Kopf malen wollen, wie ihn die Schule vorschrieb. Lionardo, der hier zum erstenmal auch die Hände sprechen ließ, und zwar mit einer physiognomischen Meisterschaft, die später zuweilen erreicht, aber nie übertroffen worden ist, wollte unendlich viel mehr. Seine Seele war weit in die Zukunft verloren, aber sein Menschliches, sein Auge, seine Hand gehorchten dem Geiste seiner Zeit. Sicherlich war er in einer verhängnisvollen Weise der Freieste von den drei Großen. Vieles von dem, womit Michelangelos mächtige Natur vergebens rang, hat ihn gar nicht mehr berührt. Probleme der Chemie, der geometrischen Analysis, der Physiologie – Goethes »lebendige Natur« war auch die seine –, der Fernwaffentechnik sind ihm vertraut. Tiefer als Dürer, kühner als Tizian, umfassender als irgendein Mensch der Zeit, ist er der eigentlich fragmentarische Künstler geblieben,In Renaissancewerken wirkt das Allzufertige oft genug peinlich. Wir fühlen da einen Mangel an »Unendlichkeit«. Es gibt in ihnen keine Geheimnisse und Entdeckungen. aber aus einem anderen Grunde als Michelangelo, der verspätete Plastiker, und im Gegensatz zu Goethe, für den alles schon zurücklag, was dem Schöpfer des Abendmahls unerreichbar blieb. Michelangelo wollte eine erstorbene Formenwelt noch einmal zum Leben zwingen, Lionardo fühlte eine neue in der Zukunft, Goethe ahnte, daß es keine mehr gab. Zwischen ihnen liegen die drei reifen Jahrhunderte faustischer Kunst.


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