Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Nun hat die Tendenz des menschlichen, stets kausal angelegten Denkens, das Naturbild auf möglichst einfache quantitative Formeinheiten zurückzuführen, welche ein kausales Auffassen, Messen, Zählen, kurz mechanische Unterscheidungen gestatten, in der antiken, abendländischen und jeder andern überhaupt möglichen Physik mit Notwendigkeit zu einer Atomlehre geführt. Die indische und chinesische sind uns nur als einst vorhanden bekannt; die arabische ist so kompliziert, daß ihre Darstellung heute noch ganz unmöglich erscheint. Zwischen der apollinischen und faustischen aber besteht ein tiefsymbolischer Gegensatz.

Die antiken Atome sind Miniaturformen, die abendländischen sind Minimalquanta, und zwar von Energie; dort ist die Anschaulichkeit, die sinnliche Nähe Grundbedingung des Bildes, hier ist es die Abstraktion. Die atomistischen Vorstellungen der modernen Physik, zu denen auchNachdem schon Helmholtz die Erscheinungen der Elektrolyse durch die Annahme einer atomistischen Struktur der Elektrizität zu erklären versucht hatte. die Elektronentheorie und die Quantentheorie der Thermodynamik gehören, setzen mehr und mehr jene – rein faustische – innere Anschauung voraus, die auch auf manchen Gebieten der höheren Mathematik wie den nichteuklidischen Geometrien oder der Gruppentheorie gefordert wird und die dem Laien nicht zur Verfügung steht. Ein dynamisches Quantum ist ein Ausgedehntes abgesehen von jeder sinnlichen Beschaffenheit, das jede Beziehung auf Auge und Tastsinn meidet, für das der Ausdruck Gestalt keinen Sinn besitzt, also etwas, das dem antiken Naturforscher gar nicht vorstellbar ist. Das gilt bereits von den Monaden Leibnizens und dann im höchsten Grad von dem Bilde, das Rutherford von der Feinstruktur der Atome – mit einem Kern von positiver Elektrizität und einem Planetensystem negativer Elektronen – entworfen hat, und das Niels Bohr mit dem elementaren Wirkungsquantum Plancks zu einem neuen Bild vereinigte.M. Born, Aufbau der Materie (1920), S. 27. Die Atome des Leukipp und Demokrit waren nach Gestalt und Größe verschieden, rein plastische Einheiten also und nur in dieser Auffassung, wie der Name sagt, »unteilbar«. Die Atome der abendländischen Physik, deren »Unteilbarkeit« einen ganz andern Sinn hat, gleichen den Figuren und Themen der Musik. Ihr »Wesen« besteht in Schwingung und Strahlung; ihr Verhältnis zu den Naturvorgängen ist das des Motivs zum Satz.Vgl. Bd. I, S. 297. Der antike Physiker prüft das Aussehen, der abendländische die Wirkung dieser letzten Bildelemente des Gewordnen. Das bedeuten die Grundbegriffe dort von Stoff und Form, hier von Kapazität und Intensität.

Es gibt einen Stoizismus und einen Sozialismus der Atome. Das ist die Definition der statisch-plastischen und der dynamisch-kontrapunktischen Atomvorstellung, die ihrer Verwandtschaft zu den Gebilden der zugehörigen Ethik in jedem Gesetz, in jeder Definition Rechnung trägt. Die Menge der verworrenen Atome Demokrits, hingelagert, duldend vom blinden Zufall, den er wie Sophokles ἀνάγκη genannt hat, gestoßen und vertrieben – wie Ödipus –, und im Gegensatz dazu die als Einheit wirkenden Systeme abstrakter Kraftpunkte, aggressiv, den Raum energetisch (als »Feld«) beherrschend, Widerstände überwindend – wie Macbeth –: aus diesem Grundgefühl sind die beiden mechanischen Naturbilder entstanden. Nach Leukippos fliegen die Atome »von selbst« im Leeren herum; Demokrit nimmt lediglich Stoß und Gegenstoß als Form der Ortsveränderung an; Aristoteles erklärt die Einzelbewegungen für zufällig; bei Empedokles findet sich die Bezeichnung Liebe und Haß, bei Anaxagoras Zusammentreten und Auseinandertreten. Das alles sind auch Elemente der antiken Tragik. So verhalten sich die Figuren auf der Szene des attischen Theaters. Das sind also auch Daseinsformen der antiken Politik. Da finden wir diese winzigen Städte, politische Atome, in langer Reihe auf Inseln und an Küsten hingelagert, jede eifersüchtig für sich bestehend und doch ewig der Anlehnung bedürftig, abgeschlossen und launisch bis zur Karikatur, von den planlosen, ordnungslosen Ereignissen der antiken Geschichte hin und her gestoßen, heute gehoben, morgen vernichtet – und ihnen gegenüber die dynastischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts, politische Kraftfelder, von den Wirkungszentren der Kabinette und großen Diplomaten aus weitschauend, planmäßig gelenkt und beherrscht. Man versteht den Geist der antiken und abendländischen Geschichte nur aus diesem Gegensatz zweier Seelen; man versteht auch das atomistische Grundbild beider Physiken nur aus diesem Vergleich. Galilei, der den Kraftbegriff, und die Milesier, die den Begriff der ἀρχή schufen, Demokrit und Leibniz, Archimedes und Helmholtz sind »Zeitgenossen«, Glieder derselben geistigen Stufe ganz verschiedener Kulturen.

Aber die innere Verwandtschaft von Atomtheorie und Ethik geht weiter. Es war gezeigt worden, wie die faustische Seele, deren Sein Überwindung des Augenscheins, deren Gefühl Einsamkeit, deren Sehnsucht Unendlichkeit ist, dies Bedürfnis nach Alleinsein, Ferne, Absonderung in all ihre Wirklichkeiten legt, in ihre öffentliche, geistige und künstlerische Formenwelt. Dies Pathos der Distanz, um Nietzsches Ausdruck zu gebrauchen, ist gerade der Antike fremd, in der alles Menschliche der Nähe, Anlehnung und Gemeinsamkeit bedarf. Das unterscheidet den Geist des Barock von dem der Ionik, die Kultur des ancien régime von der des perikleischen Athen. Und dies Pathos, welches den heroischen Täter vom heroischen Dulder trennt, erscheint im Bilde der abendländischen Physik wieder: als Spannung. Das ist es, was in der Anschauung Demokrits nicht enthalten war. Das Prinzip von Stoß und Gegenstoß enthält die Verneinung einer raumbeherrschenden, mit dem Raum identischen Kraft. Im Bilde der antiken Seele fehlt dementsprechend das Element des Willens. Zwischen antiken Menschen, Staaten, Weltanschauungen besteht keine innere Spannung, trotz Zank, Neid und Haß, kein tiefes Bedürfnis nach Abstand, Alleinsein, Überlegenheit – folglich besteht sie auch nicht zwischen den Atomen des antiken Kosmos. Das Prinzip der Spannung – entwickelt in der Potentialtheorie – in antike Sprachen und also Gedanken vollkommen unübertragbar, ist für die moderne Physik grundlegend geworden. Es enthält eine Folgerung aus dem Begriff der Energie, des Willens zur Macht in der Natur, und ist deshalb für uns ebenso notwendig wie für antike Menschen unmöglich.


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