Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Viertes Kapitel: Musik und Plastik

I. Die bildenden Künste

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Das Weltgefühl des höheren Menschen hat seinen symbolischen Ausdruck, wenn man von den mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungskreisen und der Symbolik ihrer Grundbegriffe absieht, am deutlichsten in den bildenden Künsten gefunden, deren es unzählige gibt. Auch die Musik gehört dazu, und hätte man ihre sehr verschiedenen Arten in die Untersuchungen über den Gang der Kunstgeschichte einbezogen, statt sie vom Gebiet der malerisch-plastischen Künste zu trennen, so wäre man im Verstehen dessen, um was es sich in dieser Entwicklung auf ein Ziel hin handelt, sehr viel weiter gekommen. Aber man wird den Gestaltungsdrang, der in den wortlosenSobald das Wort, ein Mitteilungszeichen des Verstehens, zum Ausdrucksmittel von Künsten wird, hört das menschliche Wachsein auf, als Ganzes etwas auszudrücken oder Eindrücke zu empfangen. Auch die künstlerisch gebrauchten Wortklänge – um vom gelesenen Wort hoher Kulturen, dem Medium der eigentlichen Literatur, zu schweigen – trennen unvermerkt Hören und Verstehen, denn die gewohnte Wortbedeutung spielt mit, und unter der immer zunehmenden Macht dieser Kunst sind auch die wortlosen Künste zu Ausdrucksweisen gelangt, welche die Motive mit Wortbedeutungen verknüpfen. So entsteht die Allegorie, ein Motiv, das ein Wort bedeutet, wie in der Barockskulptur seit Bernini; so wird die Malerei sehr oft zu einer Art Bilderschrift wie in Byzanz seit dem 2. Konzil von Nikäa (787), das den Künstlern Auswahl und Anordnung der Bilder entzog, und so unterscheidet sich auch die Arie Glucks, deren Melodie aus dem Sinn des Textes emporblüht, von derjenigen des Allessandro Scarlatti, dessen an sich gleichgültige Texte die Singstimme nur tragen sollen. Ganz frei von der Wortbedeutung ist der hochgotische Kontrapunkt des 13. Jahrhunderts, eine reine Architektur von Menschenstimmen, in welcher mehrere Texte, selbst verschiedensprachige, geistliche und weltliche, gleichzeitig gesungen wurden. Künsten am Werke ist, niemals begreifen, wenn man die Unterscheidung optischer und akustischer Mittel für mehr als äußerlich hält. Das ist es nicht, was Künste von einander scheidet. Die Kunst des Auges und Ohres – damit ist gar nichts gesagt. Die physiologischen Bedingungen gar des Ausdrucks, der Empfängnis, der Vermittlung hat nur das 19. Jahrhundert überschätzen können. So wenig ein »singendes« Bild von Lorrain oder Watteau sich im eigentlichen Sinn an das leibliche Auge wendet, so wenig die raumspannende Musik seit Bach an das leibliche Ohr. Das antike Verhältnis zwischen Kunstwerk und Sinnesorgan, an das hier immer, und zwar durchaus nicht in richtiger Weise, gedacht wird, ist ein ganz anderes, viel einfacheres und stofflicheres als das unsrige. Wir lesen Othello und Faust, wir studieren Partituren, das heißt, wir wechseln den Sinn, um den Geist dieser Werke ganz rein auf uns wirken zu lassen. Hier wird von den äußeren Sinnen immer an die »inneren«, an die echt faustische und ganz unantike Einbildungskraft appelliert. Der unendliche Szenenwechsel Shakespeares gegenüber der antiken Einheit des Ortes ist nur so zu verstehen. Im äußersten Falle, wie gerade beim Faust, ist eine den Gehalt des Ganzen erschöpfende, wirkliche Darstellung gar nicht möglich. Aber auch in der Musik, schon im A-cappella-Vortrag des Palestrinastils und dann im höchsten Maße in den Passionen von Heinrich Schütz, den Fugen Bachs, den letzten Quartetten Beethovens und dem Tristan erleben wir hinter dem sinnlichen Eindruck eine ganze Welt andrer, in der erst alle Fülle und Tiefe zum Vorschein kommt und über die sich nur in übertragenen Bildern – denn die Harmonik zaubert uns da blonde, braune, düstre, goldige Farben, Dämmerungen, Gipfelreihen ferner Gebirge, Gewitter, Frühlingslandschaften, versunkene Städte, seltsame Gesichter hin – reden und etwas mitteilen läßt. Es ist kein Zufall, daß Beethoven seine besten Werke geschrieben hat, als er taub war. Damit hatte sich gleichsam die letzte Fessel gelöst. Für diese Musik sind Sehen und Hören gleichmäßig eine Brücke zur Seele, nicht mehr. Dem Griechen ist diese visionäre Art des Kunstgenießens ganz fremd. Er betastet den Marmor mit dem Auge; er wird von dem pastosen Klang des Aulos fast körperlich berührt. Auge und Ohr sind für ihn Empfänger des ganzen gewollten Eindrucks. Uns waren sie es schon in der Gotik nicht mehr.

In Wirklichkeit sind Töne etwas Ausgedehntes, Begrenztes, Zahlenmäßiges so gut wie Linien und Farben; Harmonie, Melodie, Reim, Rhythmus so gut wie Perspektive, Proportion, Schatten und Kontur. Der Abstand zwischen zwei Arten von Malerei kann unendlich viel größer sein als der zwischen einer gleichzeitigen Malerei und Musik. Gegenüber einer Statue des Myron gehören eine Landschaft von Poussin und die pastorale Kammerkantate seiner Zeit, gehören Rembrandt und die Orgelwerke von Buxtehude, Pachelbel und Bach, Guardi und die Opern Mozarts zu ein und derselben Kunst. Ihre innere Formensprache ist in dem Grade identisch, daß der Unterschied optischer und akustischer Mittel dagegen verschwindet.

Der Wert, welchen die Kunstwissenschaft von jeher auf eine zeitlose begriffliche Abgrenzung der einzelnen Kunstgebiete gelegt hat, beweist lediglich, daß man in die Tiefe des Problems nicht eingedrungen ist. Künste sind Lebenseinheiten, und Lebendiges läßt sich nicht zerstückeln. Nach den alleräußerlichsten Kunstmitteln und Techniken das unendliche Gebiet in vermeintlich ewige Einzelstücke – mit unwandelbaren Formprinzipien! – zu zerlegen, das war immer der erste Schritt gelehrter Pedanten. Man trennte »Musik« und »Malerei«, »Musik« und »Drama«, »Malerei« und »Plastik«, dann definierte man »die« Malerei, »die« Plastik, »die« Tragödie. Aber die technische Formensprache ist nicht viel mehr als die Maske des eigentlichen Werkes. Stil ist nicht, wie der flache Semper – ein echter Zeitgenosse Darwins und des Materialismus – meinte, das Produkt von Material, Technik und Zweck. Er ist im Gegenteil das, was dem Kunstverstand gar nicht zugänglich ist, die Offenbarung von etwas Metaphysischem, ein geheimnisvolles Müssen, ein Schicksal. Er hat mit den materiellen Grenzen der Einzelkünste nicht das geringste zu schaffen.

Eine Einteilung der Künste nach den Bedingungen der Sinnenwirkung an die Spitze stellen, heißt also, das Problem der Form von vornherein verderben. Wie konnte man »die Plastik« ganz allgemein als Gattung annehmen und aus ihr allgemeine Grundgesetze entwickeln wollen? Was ist »Plastik«? »Die« Malerei – das gibt es nicht. Wer nicht fühlt, daß Handzeichnungen von Raffael und Tizian, von denen der eine mit Umrissen, der andre mit Licht- und Schattenflecken arbeitet, zu zwei verschiedenen Künsten gehören, daß die Kunst Giottos oder Mantegnas und die Vermeers oder Van Goyens kaum etwas miteinander zu tun haben, daß der eine mit dem Pinselstrich eine Art Relief, der andre eine Art Musik auf der farbigen Fläche ins Leben rief, während ein Fresko Polygnots und ein ravennatisches Mosaikgemälde nicht einmal durch das Werkzeug der Gattung eingefügt werden können, der wird die tieferen Fragen nie begreifen. Und was hat eine Radierung mit der Kunst Fra Angelicos, was ein protokorinthisches Vasenbild mit einem gotischen Domfenster, was ein ägyptisches Relief mit einem solchen des Parthenon zu tun?

Wenn eine Kunst Grenzen hat – Grenzen ihrer formgewordenen Seele –, so sind es historische, nicht technische oder physiologische.Die Folge unserer gelehrten Methoden ist eine Kunstgeschichte unter Ausschluß der Musikgeschichte. Jene gehört zum Bestand der höheren Bildung, diese ist eine Angelegenheit von Fachkreisen geblieben. Das ist nicht anders, als wollte man eine griechische Geschichte unter Ausschluß Spartas schreiben. Aber damit wird die Theorie »der« Kunst zu einer gutgläubigen Fälschung. Eine Kunst ist ein Organismus, kein System. Es gibt keine Kunstgattung, die durch alle Jahrhunderte und Kulturen geht. Selbst wo vermeintliche technische Traditionen – wie im Falle der Renaissance – den Blick zunächst täuschen und von einer ewigen Gültigkeit antiker Kunstgesetze zu zeugen scheinen, herrscht in der Tiefe völlige Verschiedenheit. Es gibt nichts in der griechisch-römischen Kunst, was mit der Formensprache einer Statue Donatellos, einem Gemälde Signorellis, einer Fassade Michelangelos verwandt wäre. Innerlich verwandt mit dem Quattrocento ist ausschließlich die gleichzeitige Gotik. Wenn ägyptische Bildnisse auf den archaischen griechischen Apollotypus oder etruskische Grabmalereien auf frühtoskanische Darstellungen »gewirkt« haben, so bedeutet das nichts anderes, als wenn Bach eine Fuge über ein fremdes Thema schreibt, um zu zeigen, was er damit ausdrücken kann. Jede Einzelkunst, die chinesische Landschaft wie die ägyptische Plastik und der gotische Kontrapunkt, ist einmal da und kehrt mit ihrer Seele und Symbolik nie wieder.


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