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Alle Kunst ist Ausdruckssprache.Vgl. Bd. II, S. 691 f. Und zwar in den allerfrühesten Ansätzen, die tief in die Tierwelt hinabreichen, die Sprache eines bewegten Wesens nur für sich selbst. Man denkt gar nicht an den Zeugen, obwohl in seiner Abwesenheit der Ausdruckstrieb von selbst verstummen würde. Noch in sehr späten Zuständen gibt es oft statt Künstler und Zuschauer nur eine Menge von Kunsterzeugenden. Alle tanzen, mimen und singen, und der »Chor« als Inbegriff der Anwesenden ist nie ganz aus der Kunstgeschichte verschwunden. Erst die höhere Kunst ist entschieden »Kunst vor Zeugen«, vor allem, wie Nietzsche einmal bemerkt hat, vor dem höchsten Zeugen: Gott.Auch die monologische Kunst sehr einsamer Naturen ist in Wirklichkeit Zwiesprache mit sich selbst als einem Du. – Nur in der Geistigkeit der großen Städte wird der Ausdruckstrieb vom Mitteilungstrieb überwältigt (Bd. II, S. 691). Daraus entsteht jene Tendenzkunst, die belehren, bekehren und beweisen will, seien es politisch-soziale oder moralische Ansichten, und gegen die sich in der Formel » l'art pour l'art« dann wieder weniger eine Übung als eine Meinung auflehnt, die sich der ursprünglichen Bedeutung des künstlerischen Ausdrucks wenigstens erinnert.
Dieser Ausdruck ist entweder Ornament oder Imitation. Das sind hohe Möglichkeiten, deren Gegensatz in den Anfängen kaum fühlbar wird. Und zwar ist Imitation unbedingt das ursprünglichere, der Rasse näherstehende. Die Imitation geht von dem physiognomisch erfaßten Du aus, das unwillkürlich zum Mitschwingen im Lebenstakte lockt; das Ornament zeugt von einem seiner Eigenart bewußten Ich. Jene ist in der Tierwelt weit verbreitet, dieses gehört dem Menschen fast allein.
Die Imitation ist aus dem geheimen Rhythmus alles Kosmischen geboren. Für ein waches Wesen erscheint das Eine zerdehnt und ausgespannt: ein Hier und ein Dort, ein eignes und ein fremdes Etwas; ein Mikrokosmos in bezug auf einen Makrokosmos als den Polen des Sinnenlebens, und diese Entzweiung wird durch den Rhythmus des Nachahmens überbrückt. Jede Religion ist ein Hinüberwollen der wachen Seele zu den Mächten der Umwelt, und ganz dasselbe will die in ihren weihevollsten Momenten ganz religiöse Imitation. Denn es ist ein und dieselbe innerliche Bewegtheit, in welcher Leib und Seele hier und die Umwelt dort zusammenschwingen und eins werden. Wie ein Vogel sich im Sturme wiegt und ein Schwimmer dem schmeichelnden Wellenschlag nachgibt, so fährt bei den Klängen einer Marschmusik ein unwiderstehlicher Takt in die Glieder, und ebenso ansteckend wirkt das Nachmachen fremder Mienen und Bewegungen, worin gerade Kinder Meister sind. Das kann sich bis zu jener »hinreißenden« Wirkung gemeinsamer Gesänge, Marschbewegungen und Tänze steigern, die aus vielen einzelnen eine Einheit des Fühlens und Ausdrucks, ein »Wir« macht. Aber auch ein »gut getroffenes« Bildnis eines Menschen oder einer Landschaft entsteht aus dem gefühlten Einklang der zeichnenden Bewegung mit dem geheimen Schwingen und Weben des lebendigen Gegenüber. Das ist physiognomischer Takt, der wirksam wird, der einen Kenner voraussetzt, welcher im Spiel der Oberfläche die Idee, die Seele des Fremden entschleiert. In gewissen, hingegebenen Augenblicken sind wir alle Kenner dieser Art, und dann offenbaren sich uns, indem wir der Musik oder einem Mienenspiel mit unmerklichem Rhythmus folgen, plötzlich Geheimnisse von jäher Tiefe. Alle Nachahmung will täuschen, und täuschen kommt von Tausch. Dieses Sich-hinein-versetzen in ein fremdes »es«, das Vertauschen des Ortes und Wesens, wonach der eine nun im andern lebt, ihn darstellend oder schildernd, weckt ein Vollgefühl des Einklangs, das sich von schweigendem Selbstvergessen bis zu ausgelassenstem Gelächter steigert und bis in die letzten Gründe des Erotischen hinabgreift, das von künstlerischer Schöpferkraft nicht zu trennen ist. So entstehen die kreisenden Volkstänze – als Nachahmung der Liebeswerbung des Auerhahns ist der bayerische Schuhplattler entstanden; aber ganz dasselbe meinte auch Vasari, wenn er Cimabue und Giotto lobt, weil sie als erste wieder »die Natur« nachgeahmt hätten, jene Natur früher Menschen nämlich, von der damals Meister Eckart sagte: »Gott fließt in alle Kreaturen aus, und darum ist alles Geschaffene Gott.« Was wir als Bewegung in dieser Umwelt schauen und damit in seiner innern Bedeutung erfühlen, das geben wir durch Bewegung wieder. Deshalb ist alle Imitation ein Schau-spielen im umfassendsten Sinne. Wir geben ein Schauspiel durch die Bewegung des Pinselstrichs oder Meißels, durch die Stimmführung des Gesangs, den Erzählerton, den Vers, die Darstellung, den Tanz. Aber was wir mit und unter dem Sehen und Hören erleben, ist immer eine fremde Seele, mit der wir uns vereinigen. Erst die zerdachte und entseelte Kunst der Weltstädte geht zum Naturalismus im heutigen Sinne über: Nachahmung der Reize des Augenscheins, des wissenschaftlich feststellbaren Bestandes von sinnlichen Kennzeichen.
Von der Imitation hebt sich nun deutlich das Ornament ab, das dem Flusse des Lebens nicht folgt, sondern starr entgegentritt. Statt physiognomischer Züge, die dem fremden Dasein abgelauscht werden, gibt es feststehende Motive, Symbole, die man ihm aufprägt. Man will nicht täuschen, sondern beschwören. Das Ich überwältigt das Du. Nachahmen ist nur ein Sprechen, dessen Mittel aus dem Augenblick geboren sind und sich nicht wiederholen; die Ornamentik aber bedient sich einer vom Sprechen abgelösten Sprache, eines Formenschatzes, der Dauer besitzt und der Willkür des einzelnen entzogen ist.Vgl. Bd. II, S. 695f. Z. folg. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, S. 66ff.
Nachahmen, nachbilden läßt sich nur Lebendiges, und zwar in Bewegungen, durch die es sich für die Sinne von Künstlern und Zuschauern offenbart. Insofern gehört die Imitation der Zeit und Richtung an; all dieses Tanzen, Zeichnen, Darstellen, Schildern für Auge und Ohr ist unwiderruflich gerichtet, und die höchsten Möglichkeiten der Imitation liegen deshalb im Nachbilden eines Schicksals, sei es in Tönen, Versen, im Bildnis oder in einer gespielten Szene.Weil Nachahmung Leben ist, so ist sie im Augenblick ihrer Vollendung auch schon vergangen – der Vorhang fällt – und verfällt entweder der Vergessenheit oder, wenn ein dauerhaftes Kunstwerk das Ergebnis war, der Kunstgeschichte. Von den Gesängen und Tänzen alter Kulturen bleibt nichts erhalten, von ihren Bildern und Dichtungen wenig, und auch dieses Wenige enthält beinahe nur die ornamentale Seite der ursprünglichen Imitation, von einem großen Schauspiel nur den Text, nicht das Bild und den Klang, von einem Gedicht nur die Worte, nicht den Vortrag, von aller Musik bestenfalls die Noten, nicht die Tonfarben der Instrumente. Das Wesentliche ist unwiderruflich vergangen, und jede »Wiederholung« ist etwas Neues und anderes. Dagegen ist ein Ornament etwas Zeitentrücktes, reine, gefestigte, verharrende Ausdehnung. Während eine Imitation etwas ausdrückt, indem sie sich vollzieht, kann es ein Ornament nur, indem es fertig vor den Sinnen steht. Es ist das Seiende selbst, unter gänzlichem Absehen von seiner Entstehung. Jede Imitation besitzt Anfang und Ende, ein Ornament besitzt nur Dauer. Deshalb kann nur ein Einzelschicksal nachgebildet werden wie das der Antigone oder Desdemona. Durch ein Ornament, ein Symbol bezeichnen läßt sich nur die Schicksalsidee überhaupt, die antike etwa durch die dorische Säule. Jene setzt ein Talent voraus, diese auch noch ein erlernbares Wissen.
Es gibt eine Grammatik und Syntax der Formensprache aller strengen Künste, mit Regeln und Gesetzen, mit innerer Logik und Tradition. Das gilt nicht nur von den Bauhütten der dorischen Tempel und gotischen Dome, von den Bildhauerschulen Ägyptens,Über die Werkstatt des Thutmes in Tell el Amarna vgl. Mitt. d. Deutsch. Orient-Ges. N. 52, S. 28 ff.9 Athens und der nordfranzösischen Kathedralplastik, von den chinesischen und antiken Malerschulen und denen in Holland, am Rhein und in Florenz, sondern auch von den festen Regeln der Skalden und Minnesänger, die handwerksmäßig gelernt und geübt wurden, und zwar nicht nur in Satzgliederung und Versbau, sondern auch in Gebärdensprache und Bilderwahl,K. Burdach, Deutsche Renaissance, S. 11. Ebenso besitzt die gesamte bildende Kunst der gotischen Zeit eine feste Typik und Symbolik. von der Erzählungstechnik des vedischen, homerischen und keltisch-germanischen Epos, vom Satzbau und Tonfall der gotischen Predigt, der deutschen wie der lateinischen, und endlich von der antiken rednerischen ProsaE. Norden, Antike Kunstprosa, S. 8 ff. und den Regeln des französischen Dramas. Im Ornamentalen eines Kunstwerks spiegelt sich die heilige Kausalität des Makrokosmos wider, wie sie dem Empfinden und Verstehen einer Art Mensch erscheint. Beides hat System. Beides ist durchdrungen von den Grundgefühlen der religiösen Seite des Lebens: Fürchten und Lieben.Vgl. Bd. II, S. 880. Ein echtes Symbol kann Furcht einflößen oder von Furcht befreien. Das »Richtige« erlöst, das »Falsche« quält und drückt nieder. Dagegen steht die nachahmende Seite der Künste den eigentlichen Rassegefühlen näher: Hassen und Lieben. Hier entspringt der Gegensatz von häßlich und schön. Er bezieht sich durchaus auf Lebendiges, dessen innerer Rhythmus abstößt oder mit sich zieht, auch wenn es sich um Wolken im Abendrot oder um den verhaltenen Atem einer Maschine handelt. Eine Nachahmung ist schön, ein Ornament ist bedeutend. Darin liegt der Unterschied von Richtung und Ausdehnung, organischer und anorganischer Logik, Leben und Tod. Was man schön findet, ist »nachahmenswert«. Es verlockt in leisem Mitschwingen zum Nachbilden, Mitsingen, Wiederholen; es »läßt das Herz höher schlagen« und die Glieder zucken. Es berauscht bis zum jauchzenden Überschwang, aber weil es zur Zeit gehört, so hat es auch »seine Zeit«. Ein Symbol dauert; alles Schöne aber vergeht mit dem Lebenspulsschlag dessen, der es aus dem kosmischen Takt heraus als solches empfindet, sei es ein einzelner, ein Stand, Volk oder Rasse. Nicht nur ist »die Schönheit« antiker Bildwerke und Dichtungen in antiken Augen etwas anderes als für uns, und mit der antiken Seele unwiederbringlich erloschen – denn was wir daran »schön finden«, ist wiederum ein nur für uns vorhandener Zug; nicht nur ist, was für eine Art von Leben schön ist, für eine andre gleichgültig oder häßlich, wie unsre gesamte Musik für Chinesen oder die mexikanische Plastik für uns; sondern für ein und dasselbe Leben ist das Gewohnte, das Gewöhnliche, als etwas Dauerndes niemals schön.
Damit erst erscheint der Gegensatz dieser beiden Seiten jeder Kunst in seiner vollen Tiefe: die Nachahmung beseelt und belebt, die Ornamentik bannt und tötet. Jene »wird«, diese »ist«. Jene ist deshalb der Liebe verwandt, vor allem – in Lied, Rausch und Tanz der Geschlechtsliebe, in welcher sich das Dasein der Zukunft entgegenwendet, diese der Sorge um Vergangenes, der Erinnerung,Daher der ornamentale Charakter der Schrift. der Bestattung. Das Schöne wird sehnsüchtig gesucht, das Bedeutende flößt Angst ein. Deshalb gibt es keinen innerlicheren Gegensatz als das Haus der Lebenden und das der Toten.Vgl. Bd. I, S. 241f. Das BauernhausVgl. Bd. II, S. 660. und von ihm aus der Edelhof, die Pfalz und Burg sind Gehäuse des Lebens, unbewußter Ausdruck strömenden Blutes, den keine Kunst schuf oder ändern kann. Die Idee der Familie erscheint im Grundriß des Urhauses, die innere Form des Stammes im Grundriß der Dörfer, der noch nach Jahrhunderten und nach manchem Wechsel der Bewohner die Rasse der Gründer erkennen läßt,So die slawischen Ringdörfer und die germanischen Straßendörfer östlich der Elbe. Ebenso läßt sich aus der Verbreitung der Rundhütten und Rechteckhäuser im antiken Italien auf manche Ereignisse der homerischen Zeit schließen. das Leben einer Nation und ihre gesellschaftliche Gliederung im Grundriß – nicht im Aufriß, der Silhouette! – der Stadt.Vgl. Bd. II, S. 663f. Auf der andern Seite entwickelt sich die Ornamentik großen Stils an den starren Symbolen des Todes, der Graburne, dem Sarkophag, dem Grabdenkmal und Totentempel,Vgl. Bd. I, S. 215. und darüber hinaus an den Göttertempeln und Domen, die durch und durch Ornament sind, Ausdruck nicht einer Rasse, sondern die Sprache einer Weltanschauung, durch und durch reine Kunst, so wie das Bauernhaus und die Burg mit Kunst gar nichts zu tun haben.Vgl. Bd. II, S. 698.
Beide sind vielmehr Gebäude, in denen Kunst gemacht wird, und zwar die eigentlich nachbildende Kunst: das vedische, homerische, germanische Epos, der Heldensang, der bäuerliche und ritterliche Tanz, das Spielmannslied. Der Dom dagegen ist nicht nur Kunst, sondern auch die einzige, durch die nichts nachgeahmt wird. Sie allein ist ganz Spannung verharrender Formen, ganz dreidimensionale Logik, die sich in Kanten, Flächen und Räumen ausspricht. Die Kunst der Dörfer und Burgen stammt aus der Laune des Augenblicks, aus Gelächter und Übermut an der Tafel und beim Spiel, und haftet an der Zeit bis zu dem Grade, daß der Troubadour seinen Namen vom Erfinden hat und die Improvisation – wie heute noch in der Zigeunermusik – nichts ist als Rasse, die sich unter der Macht der Stunde fremden Sinnen offenbart. Dieser freien Gestaltungskraft setzt alle geistliche Kunst die strenge Schule entgegen, in welcher der einzelne der Logik zeitloser Formen dient, im Hymnus wie im Bauen und Bilden. Deshalb ist in allen Kulturen der frühe Kultbau der eigentliche Sitz der Stilgeschichte. In den Burgen hat das Leben Stil, nicht der Bau. In den Städten ist der Grundriß ein Abbild der Schicksale eines Volkes; nur die in der Silhouette aufragenden Türme und Kuppeln reden von der Logik im Weltbild ihrer Erbauer, den letzten Ursachen und Wirkungen in ihrem All.
Der Stein dient im Bau der Lebenden einem weltlichen Zweck; im Kultbau ist er ein SymbolVgl. Bd. I, S. 167f. Die Geschichte der großen Architekturen hat durch nichts schwerer gelitten als dadurch, daß man sie für die Geschichte von Bautechniken hielt statt für die von Baugedanken, die ihre technischen Ausdrucksmittel nahmen, wo sie sie fanden. Es ist wie in der Geschichte der Musikinstrumente,Vgl. Bd. I, S. 84. die ebenfalls auf eine Tonsprache hin entwickelt wurden. Ob das Keilschnittgewölbe, der Strebepfeiler und die Trompenkuppel für einen großen Baustil eigens herausgebildet wurden oder ob man sie in der Nähe oder Ferne irgendwie vorfand und in Verwendung nahm, ist für die Kunstgeschichte ebenso gleichgültig wie die Frage, ob die Streichinstrumente technisch aus Arabien oder einem keltischen Britannien stammen. Mag die dorische Säule handwerksmäßig den Tempeln des ägyptischen Neuen Reiches, der spätrömische Kuppelbau den Etruskern, der florentinische Hallenhof den nordafrikanischen Mauren entlehnt sein – der dorische Peripteros, das Pantheon, der Palazzo Farnese gehören trotzdem einer ganz andern Welt an; sie dienen dem künstlerischen Ausdruck des Ursymbols dreier Kulturen.