Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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So hat es jede der großen Kulturen zu einer geheimen Sprache des Weltgefühls gebracht, die nur dem ganz vernehmlich ist, dessen Seele dieser Kultur angehört. Denn täuschen wir uns nicht. Wir können vielleicht in der antiken Seele ein wenig lesen, weil deren Formensprache fast die Umkehrung der abendländischen ist; von der sehr schwierigen Frage, in welchem Grade das möglich und bis jetzt erreicht worden ist, hat jede Kritik der Renaissance auszugehen. Aber wenn wir hören, daß wahrscheinlich – das Umdenken so fremdartiger Daseinsäußerungen bleibt unter allen Umständen ein zweifelhafter Versuch – die Inder Zahlen konzipiert hatten, die nach unsren Begriffen weder Wert noch Größe noch Beziehungsqualität besaßen, die erst durch ihre Stellung zu positiven, negativen, großen, kleinen Einheiten wurden, so müssen wir zugeben, daß uns die Möglichkeit fehlt, das exakt nachzuerleben, was seelisch dieser Zahlenart zugrunde liegt. 3 ist für uns immer etwas, sei es positiv oder negativ; für die Griechen war es unbedingt eine Größe, + 3; für die Inder bezeichnet es aber eine wesenlose Möglichkeit, für die das Wort »etwas« noch nicht gilt, jenseits von Sein und Nichtsein, die beide erst hinzutretende Eigenschaften sind. +3, – 3, 1/3 sind also emanierende Wirklichkeiten geringeren Grades, die in der rätselhaften Substanz (3) in einer uns völlig verschlossenen Art ruhen. Es gehört eine brahmanische Seele dazu, diese Zahlen als selbstverständlich, als ideale Abzeichen einer in sich vollkommenen Weltform zu empfinden; uns sind sie so unverständlich wie das brahmanische Nirwana, das jenseits von Leben und Tod, Schlaf und Wachsein, Leiden, Mitleiden und Leidlosigkeit dennoch etwas Wirkliches ist, für das uns selbst die sprachlichen Mittel fehlen. Nur aus diesem Seelentum konnte die großartige Konzeption des Nichts als einer echten Zahl, der Null, hervorgehen, und zwar als indische Null, für die wesenhaft und wesenlos gleich äußerliche Bezeichnungen sind.Diese Null, die vielleicht eine Ahnung von der indischen Idee des Ausgedehnten, von jener in den Upanishaden behandelten, unserem Raumbewußtsein völlig fremden Räumlichkeit der Welt gibt, fehlte selbstverständlich der Antike. Sie wurde auf dem Weg über die arabische Mathematik, gänzlich umgedeutet, erst 1544 durch Stifel bei uns eingeführt, und zwar, was ihr Wesen grundlegend veränderte, als die Mitte zwischen + 1 und - 1, als Schnitt im linearen Zahlenkontinuum; das heißt, sie wurde in einem gänzlich unindischen Beziehungssinne von der abendländischen Zahlenwelt assimiliert.

Wenn arabische Denker der reifsten Zeit – und es waren Köpfe ersten Ranges wie Alfarabi und Alkabi darunter – in ihrer Polemik gegen die Seinslehre des Aristoteles bewiesen, daß der Körper als solcher den Raum zur Existenz nicht notwendig voraussetze, und das Wesen dieses Raumes, der arabischen Art der Ausgedehntheit also, aus dem Merkmal des »sich an einer Stelle Befindens« herleiten, so beweist das nicht, daß sie gegen Aristoteles und Kant im Irrtum waren oder – wie wir das gern bezeichnen, was nicht in unsre Köpfe eingeht – daß sie unklar dachten, sondern daß der arabische Geist andere Weltkategorien besaß. Sie hätten Kant aus ihrer Begriffssprache heraus mit derselben Feinheit der Beweisführung widerlegen können, wie Kant sie, und beide wären von der Richtigkeit ihrer Aspekte überzeugt geblieben.

Wenn wir heute vom Raume reden, so denken wir sicherlich alle in annähernd demselben Stil, so wie wir uns derselben Sprachen und Wortzeichen bedienen, mag es sich um den Raum der Mathematik, der Physik, der Malerei oder der Wirklichkeit handeln, obgleich alles Philosophieren, das an Stelle dieser Verwandtschaft der Bedeutungsgefühle eine Identität des Verstehens behaupten will (und muß), etwas Fragwürdiges bleibt. Aber kein Hellene, kein Ägypter, kein Chinese hätte etwas davon gleichartig nachgefühlt, und kein Kunstwerk oder Gedankensystem hätte ihnen unzweideutig zeigen können, was »Raum« für uns bedeutet. Die antiken Urbegriffe, aus einem ganz anders gearteten Innenleben stammend wie αρχη, υλη, μορφη, erschöpfen den Gehalt einer anders angelegten Welt, die uns fremd und fern bleibt. Was wir mit unseren eigenen Sprachmitteln als Ursprung, Stoff, Form aus dem Griechischen übersetzen, ist eine flache Anähnlichung, ein matter Versuch, in eine Gefühlswelt einzudringen, die in ihrem Feinsten und Tiefsten doch stumm bleibt; es ist, als wollte man die Parthenonskulpturen für Streichmusik setzen oder den Gott Voltaires in Bronze gießen. Die Grundzüge des Denkens, Lebens, Weltbewußtseins sind so verschieden wie die Gesichtszüge der einzelnen Menschen; auch in bezug darauf gibt es »Rassen« und »Völker«, und sie wissen so wenig darum, wie sie bemerken, ob »rot« oder »gelb« für andre dasselbe oder etwas ganz andres ist; die gemeinsame Symbolik vor allem der Sprache nährt die Illusion eines gleichartig angelegten Innenlebens und einer identischen Weltform. Die großen Denker der einzelnen Kulturen sind hierin den Farbenblinden ähnlich, die ihren Zustand nicht kennen und von denen einer über die Irrtümer des andern lächelt.

Und nun ziehe ich die Folgerung. Es gibt eine Vielzahl von Ursymbolen. Das Tiefenerlebnis, durch das die Welt wird, durch das die Empfindung sich zur Welt dehnt, bedeutsam für die Seele, der es angehört, und für sie allein, anders im Wachen, Träumen, Hinnehmen und Beobachten, anders bei Kind und Greis, Städter und Bauer, Mann und Weib, verwirklicht und zwar mit tiefster Notwendigkeit für jede hohe Kultur die Möglichkeit der Form, auf der ihr gesamtes Dasein beruht. Alle Grundworte wie Masse, Substanz, Materie, Ding, Körper, Ausdehnung und die Tausende in den Sprachen andrer Kulturen aufbewahrten Wortzeichen entsprechender Art sind wahllose, vom Schicksal bestimmte Zeichen, welche aus der unendlichen Fülle von Weltmöglichkeiten im Namen der einzelnen Kultur die einzig bedeutende und deshalb notwendige herausheben. Keines ist in das Erleben und Erkennen einer andern Kultur genau übertragbar. Keines dieser Urworte kehrt nochmals wieder. Die Wahl des Ursymhols in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat, entscheidet alles.

Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen Ausdrucks der Seele in Gebärden und Werken, als ihr Leib, sterblich, vergänglich, dem Gesetz, der Zahl und der Kausalität verfallen; Kultur als historisches Schauspiel, als Bild im Gesamtbilde der Weltgeschichte; Kultur als Inbegriff großer Sinnbilder des Lebens, Fühlens und Verstehens: das ist die Sprache, durch welche allein eine Seele sagen kann, was sie leidet.

Auch der Makrokosmos ist Eigentum einer einzelnen Seele, und wir werden nie wissen, wie es um den der andern steht. Was – über alle Möglichkeiten begrifflicher Verständigung hinausgreifend – »der unendliche Raum«, diese schöpferische Deutung des Tiefenerlebnisses durch uns Menschen des Abendlandes und uns allein, besagen will, diese Art von Ausdehnung, welche die Griechen das Nichts nannten und wir das All, taucht unsre Welt in eine Farbe, welche die antike, die indische, die ägyptische Seele nicht auf ihrer Palette hatten. Die eine Seele erlauscht das Welterlebnis in As-Dur, die andere in F-Moll; die eine empfindet es euklidisch, die zweite kontrapunktisch, die dritte magisch. Vom reinsten analytischen Raume und vom Nirwana führt eine Reihe von Ursymbolen bis zur leibhaftigsten attischen Körperlichkeit, deren jedes fähig ist, eine vollkommene Weltform aus sich zu bilden. So fern, seltsam und flüchtig die indische oder babylonische Welt ihrer Idee nach für die Menschen der fünf oder sechs ihnen folgenden Kulturen war, so unbegreiflich wird einst die abendländische Welt für die Menschen noch ungeborener Kulturen sein.

II. Apollinische, faustische, magische Seele


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