Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Einige gewagte, aber doch nicht mehr mißzuverstehende Beispiele mögen zur Verdeutlichung dienen. Man denke sich Kolumbus von Frankreich statt von Spanien unterstützt. Das war eine Zeitlang sogar das Wahrscheinliche. Franz I. als Herr Amerikas hätte ohne Zweifel die Kaiserkrone an Stelle des Spaniers Karl V. erhalten. Die frühe Barockzeit vom Sacco di Roma bis zum Westfälischen Frieden, nunmehr in Religion, Geist, Kunst, Politik und Sitte das spanische Jahrhundert – das dem Zeitalter Ludwigs XIV. in allem und jedem zur Grundlage und Voraussetzung diente – wäre nicht von Madrid, sondern von Paris aus in Gestalt gebracht worden. Statt der Namen Philipp, Alba, Cervantes, Calderon, Velasquez würden wir heute diejenigen großer Franzosen nennen, die nun – so läßt sich das schwer zu Fassende wohl ausdrücken – ungeboren blieben. Der Stil der Kirche, damals durch den Spanier Ignaz von Loyola und das von seinem Geist beherrschte Tridentiner Konzil endgültig bestimmt, der politische Stil, damals durch spanische Kriegskunst, durch die Kabinettsdiplomatie spanischer Kardinäle und den höfischen Geist des Escorial bis zum Wiener Kongreß und in wesentlichen Zügen noch über Bismarck hinaus festgelegt, die Architektur des Barock, die große Malerei, das Zeremoniell, die vornehme Gesellschaft der großen Städte wären durch andere tiefe Köpfe in Adel und Geistlichkeit, durch andere Kriege als die Philipps II., einen anderen Baumeister als Vignola, einen anderen Hof vertreten worden. Der Zufall wählte die spanische Geste für die abendländische Spätzeit; die innere Logik des Zeitalters, das in der großen Revolution – oder einem Ereignis von analogem Gehalt – seine Vollendung finden mußte, blieb davon unberührt.

Die französische Revolution konnte durch ein Ereignis von anderer Gestalt und an anderer Stelle, in England oder Deutschland etwa, vertreten werden. Ihre »Idee« (wie wir später sehen werden), der Übergang der Kultur in die Zivilisation, der Sieg der anorganischen Weltstadt über das organische Land, das nun »Provinz« in geistigem Sinne wird, war notwendig, und zwar in diesem Augenblick. Hierfür soll das Wort Epoche im alten, heute verwischten – mit Periode verwechselten – Sinne angewandt werden. Ein Ereignis macht Epoche, das heißt: es bezeichnet im Ablauf einer Kultur eine notwendige, schicksalshafte Wendung. Das zufällige Ereignis selbst, ein Kristallisationsgebilde der historischen Oberfläche, konnte durch entsprechende andre Zufälle vertreten werden; die Epoche ist notwendig und vorbestimmt. Ob ein Ereignis den Rang einer Epoche oder einer Episode in bezug auf eine Kultur und deren Gang einnimmt, das hängt, wie man sieht, mit den Ideen vom Schicksal und Zufall und also auch mit dem Unterschied der »epochalen« abendländischen und der »episodischen« antiken Tragik zusammen.

Es mögen ferner anonyme und persönliche Epochen unterschieden werden, je nach ihrem physiognomischen Typus im Geschichtsbilde. Zu den Zufällen ersten Ranges gehören die großen Personen mit der Gestaltungskraft ihres Privatschicksals, welches das Schicksal von Tausenden, ganzer Völker und Zeitalter seiner Form einverleibt. Aber es unterscheidet doch die Glücksritter und Erfolgreichen ohne innere Größe – wie Danton und Robespierre – von den Heroen der Geschichte, daß ihr persönliches Schicksal nur die Züge des allgemeinen trägt. Trotz der klangvollen Namen waren die »Jakobiner« im ganzen und nicht einzelne von ihnen der Typus, welcher die Zeit beherrscht hat. Der erste Teil jener Epoche, die Revolution, ist deshalb durchaus anonym, der zweite, napoleonische, im höchsten Grade persönlich gehalten. Die ungeheure Wucht dieser Erscheinungen hatte in einigen Jahren vollendet, was die entsprechende antike Epoche (etwa 386-322), verschwommen und unsicher, in ganzen Jahrzehnten unterirdischen Abbaus zu leisten hatte. Es gehört zum Wesen aller Kulturen, daß in jedem Stadium zunächst die gleiche Möglichkeit vorhanden ist, daß sich das Notwendige in Gestalt einer großen Einzelperson (Alexander, Diokletian, Mohammed, Luther, Napoleon), eines fast namenlosen Geschehens von bedeutender innerer Form (peloponnesischer, dreißigjähriger, spanischer Erbfolgekrieg) oder einer undeutlichen und unvollkommenen Entwicklung (Diadochenzeit, Hyksoszeit, deutsches Interregnum) vollzieht. Welche Form die Wahrscheinlichkeit für sich hat, ist bereits eine Frage des historischen – und also das tragischen – Stils.

Das Tragische im Leben Napoleons – noch unentdeckt für einen Dichter, der groß genug wäre, es zu begreifen und zu gestalten– liegt darin, daß er, dessen Dasein im Kampf gegen die englische Politik, die vornehmste Repräsentantin des englischen Geistes, aufging, eben durch diesen Kampf den Sieg dieses Geistes auf dem Kontinent vollendete, der dann mächtig genug war, in der Gestalt »befreiter Völker« ihn zu überwältigen und in St. Helena sterben zu lassen. Nicht er war der Begründer des Expansionsprinzips. Das stammte aus dem Puritanismus der Umgebung Cromwells, die das britische Kolonialreich ins Leben gerufen hatte,Ich erinnere an das Wort Cannings aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts: »Südamerika frei – und womöglich englisch!« Reiner ist der expansive Instinkt niemals zum Ausdruck gelangt. und es war seit dem Tage von Valmy, den Goethe allein begriff, wie sein berühmtes Wort am Abend der Schlacht beweist, unter Vermittlung englisch geschulter Köpfe wie Rousseau und Mirabeau auch die Tendenz der Revolutionsheere, die durchaus von den Ideen englischer Philosophen vorwärts getrieben wurden. Nicht Napoleon hat diese Ideen, sie haben ihn geformt, und als er den Thron bestieg, mußte er sie weiter verfolgen, gegen die einzige Macht, England nämlich, die dasselbe wollte. Sein Empire ist eine Schöpfung von französischem Blute, aber englischem Stil. In London war durch Locke, Shaftesbury, Clarke, vor allem Bentham, die Theorie der »europäischen Zivilisation«, des abendländischen Hellenismus ausgebildet und von Bayle, Voltaire, Rousseau nach Paris getragen worden. Im Namen dieses England des Parlamentarismus, der Geschäftsmoral und des Journalismus kämpfte man bei Valmy, Marengo, Jena, Smolensk und Leipzig, und englischer Geist hat in all diesen Schlachten gesiegt – – über die französische Kultur des Abendlandes.Die reife abendländische Kultur war eine durchaus französische, die seit Ludwig XIV. aus der spanischen erwachsen war. Aber schon unter Ludwig XVI. siegte in Paris der englische Park über den französischen, die Empfindsamkeit über den esprit, Kleidung und gesellschaftliche Formen von London über die von Versailles, Hogarth über Watteau, Möbel von Chippendale und Porzellan von Wedgwood über Boulle und Sèvres. Der Erste Konsul hatte keineswegs den Plan, Westeuropa Frankreich einzuverleiben; er wollte zunächst – der Alexandergedanke an der Schwelle jeder Zivilisation! – an Stelle des englischen ein französisches Kolonialreich setzen, durch welches er das politisch-militärische Übergewicht Frankreichs über das abendländische Kulturgebiet auf eine kaum angreifbare Basis gestellt hätte. Es wäre das Reich Karls V. gewesen, in dem die Sonne nicht unterging, trotz Kolumbus und Philipp II. von Paris aus geleitet und nunmehr nicht als ritterlich-kirchliche, sondern als wirtschaftlich-militärische Einheit organisiert. So weit – vielleicht – lag Schicksal in seiner Mission. Aber der Pariser Friede von 1763 hatte bereits die Frage gegen Frankreich entschieden, und seine mächtigen Pläne sind jedesmal an winzigen Zufällen gescheitert; zuerst vor St. Jean d'Acre durch ein paar rechtzeitig von den Engländern gelandete Geschütze; dann nach dem Frieden von Amiens, als er das ganze Mississippital bis zu den großen Seen besaß und mit Tippo Sahib, der damals Ostindien gegen die Engländer verteidigte, Beziehungen anknüpfte, an einer irrtümlichen Flottenbewegung seines Admirals, die ihn zum Abbruch einer sorgfältig vorbereiteten Unternehmung zwang; endlich, als er zum Zweck einer neuen Landung im Orient das Adriatische Meer durch die Besetzung von Dalmatien, Korfu und ganz Italien zu einem französischen gemacht hatte und mit dem Schah von Persien über eine Aktion gegen Indien unterhandelte, an Launen des Kaisers Alexander, der zu Zeiten einen Marsch nach Indien wohl – und dann mit sicherem Erfolg – unterstützt hätte. Erst indem er nach dem Scheitern aller außereuropäischen Kombinationen die Einverleibung von Deutschland und Spanien als ultima ratio im Kampfe gegen England wählte, Ländern, in denen sich nun gerade seine englisch-revolutionären Ideen gegen ihn, ihren Vermittler, erhoben, hatte er den Schritt getan, der ihn überflüssig machte.Hardenberg hat Preußen in streng englischem Geiste reorganisiert, was ihm Friedrich August v. d. Marwitz zum schweren Vorwurf machte. Ebenso ist die Heeresreform Scharnhorsts eine Art »Rückkehr zur Natur« im Sinne Rousseaus und der Revolution gegenüber den Berufsheeren der Kabinettskriege zur Zeit Friedrichs des Großen.

Ob das weltumfassende Kolonialsystem, einst von spanischem Geist entworfen, jetzt englisch oder französisch umgeprägt wurde, ob die »Vereinigten Staaten von Europa«, das Seitenstück damals der Diadochenreiche und nun in Zukunft des Imperium Romanum, durch ihn als romantische Militärmonarchie auf demokratischer Basis oder im 21. Jahrhundert durch einen cäsarischen Tatsachenmenschen als wirtschaftlicher Organismus Wirklichkeit wurden – das gehört zum Zufälligen des Geschichtsbildes. Seine Siege und Niederlagen, in denen immer ein Sieg Englands, ein Sieg der Zivilisation über die Kultur verborgen war, sein Kaisertum, sein Sturz, die grande nation, die episodische Befreiung Italiens, die 1796 wie 1859 eigentlich nur das politische Kostüm eines längst bedeutungslos gewordenen Volkes änderte, die Zerstörung des Deutschen Reiches, einer gotischen Ruine, sind Oberflächenbildungen, hinter denen die große Logik der eigentlichen, unsichtbaren Geschichte steht, und in ihrem Sinne vollzog damals das Abendland den Abschluß der in französischer Gestalt, im ancien régime zur Vollendung gelangten Kultur durch die englische Zivilisation. Als Symbole »gleichzeitiger« Zeitwenden entsprechen also die Erstürmung der Bastille, Valmy, Austerlitz, Waterloo und der Aufschwung Preußens den antiken Tatsachen der Schlachten von Chäronea und Gaugamela, dem Zug nach Indien und dem römischen Sieg bei Sentinum, und man begreift, daß in Kriegen und politischen Katastrophen, dem Grundstoff unserer Geschichtsschreibung, der Sieg nicht das Wesentliche eines Kampfes und der Friede nicht das Ziel einer Umwälzung ist.


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