Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Kein antikes Kunstwerk sucht eine Beziehung zum Betrachter. Das hieße den unendlichen Raum, in den das einzelne Werk sich verliert, durch dessen Formensprache bejahen, ihn in die Wirkung einbeziehen. Eine attische Statue ist vollkommen euklidischer Körper, zeitlos und beziehungslos, durchaus in sich abgeschlossen. Sie schweigt. Sie hat keinen Blick. Sie weiß nichts vom Zuschauer. Wie sie im Gegensatz zu den plastischen Gebilden aller andern Kulturen ganz für sich steht und sich in keine größere architektonische Ordnung einfügt, so steht sie unabhängig neben dem antiken Menschen, Körper neben Körper. Er empfindet ihre bloße Nähe, nicht ihre herandringende Macht, keine den Raum durchdringende Wirkung. So äußert sich das apollinische Lebensgefühl.

Die erwachende magische Kunst kehrte alsbald den Sinn dieser Formen um. Das Auge der Statuen und Porträts konstantinischen Stils richtet sich groß und starr auf den Betrachter. Es repräsentiert die höhere der beiden Seelensubstanzen, das Pneuma. Die Antike hatte das Auge blind gebildet; jetzt wird die Pupille gebohrt, das Auge wendet sich, unnatürlich vergrößert, in den Raum hinein, den es in der attischen Kunst nicht als seiend anerkannt hatte. Im antiken Freskogemälde waren die Köpfe einander zugewendet; jetzt, in den Mosaiken von Ravenna und schon in den Reliefs der altchristlichspätrömischen Sarkophage, wenden sie sich sämtlich dem Betrachter zu und heften den durchgeistigten Blick auf ihn. Eine geheimnisvoll eindringende Fernwirkung geht, ganz unantik, von der Welt im Kunstwerk in die Sphäre des Zuschauers hinüber. Noch in den frühflorentinischen und frührheinischen Bildern auf Goldgrund ist etwas von dieser Magie zu spüren.

Und nun betrachte man die abendländische Malerei, von Lionardo an, wo sie zum vollen Bewußtsein ihrer Bestimmung gelangt ist. Wie begreift sie den einen unendlichen Raum, dem das Werk und der Zuschauer, beide bloße Schwerpunkte räumlicher Dynamik, angehören? Das volle faustische Lebensgefühl, die Leidenschaft der dritten Dimension ergreift die Form des »Bildes«, einer farbig behandelten Fläche, und gestaltet sie in unerhörter Weise um. Das Gemälde bleibt nicht für sich, es richtet sich nicht auf den Zuschauer; es nimmt ihn in seine Sphäre auf. Der durch den Bildrahmen begrenzte Ausschnitt – das Guckkastenbild, ein getreues Seitenstück des Bühnenbildes – repräsentiert den Weltraum selbst. Vordergrund und Hintergrund verlieren ihre stofflich-nahe Tendenz und schließen auf, statt abzugrenzen. Ferne Horizonte vertiefen das Bild ins Unendliche; die farbige Behandlung der Nähe löst die ideale Scheidewand der Bildfläche auf und erweitert den Bildraum so, daß der Betrachter in ihm weilt. Nicht er wählt den Standort, von dem aus das Bild am günstigsten wirkt; das Bild weist ihm Ort und Entfernung an. Die Überschneidungen durch den Rahmen, die seit 1500 immer häufiger und kühner werden, entwerten auch die seitliche Grenze. Der hellenische Betrachter eines polygnotischen Fresko stand vor dem Bilde. Wir »versenken« uns in ein Bild, das heißt, wir werden durch die Gewalt der Raumbehandlung in das Bild gezogen. Damit ist die Einheit des Weltraumes hergestellt. In dieser durch das Bild nach allen Seiten hin entwickelten Unendlichkeit herrscht nun die abendländische Perspektive, und von ihr aus führt ein Weg zum Verständnis unseres astronomischen Weltbildes mit seiner leidenschaftlichen Durchdringung unendlicher Raumfernen.

Der apollinische Mensch hatte den weiten Weltraum nie bemerken wollen; seine philosophischen Systeme schweigen sämtlich von ihm. Sie kennen nur Probleme der greifbar wirklichen Dinge, und dem »zwischen den Dingen« haftet nichts irgendwie Positives und Bedeutsames an. Sie nehmen die Erdkugel, auf der sie stehen und die selbst bei Hipparch von einer festen Himmelskugel umschichtet ist, als die schlechthin gegebene ganze Welt, und nichts wirkt für den, der hier noch die innersten und geheimsten Gründe zu sehen vermag, seltsamer als die immer wiederholten Versuche, dieses Himmelsgewölbe der Erde theoretisch so zuzuordnen, daß deren symbolischer Vorrang in keiner Weise angetastet wird.Vgl. Bd. I, S. 92f.

Damit vergleiche man die erschütternde Vehemenz, mit welcher die Entdeckung des Kopernikus, dieses »Zeitgenossen« des Pythagoras, die Seele des Abendlandes durchdrang, und die tiefe Ehrfurcht, mit welcher Kepler die Gesetze der Planetenbahnen entdeckte, die ihm als eine unmittelbare Offenbarung Gottes erschienen; er wagte bekanntlich nicht an ihrer kreisförmigen Gestalt zu zweifeln, weil jede andre ihm ein Symbol von zu geringer Würde darzustellen schien. Hier kam das altnordische Lebensgefühl, die Wikingersehnsucht nach dem Grenzenlosen zu ihrem Rechte. Dies gibt der echt faustischen Erfindung des Fernrohrs einen tiefen Sinn. Indem es in Räume eindringt, die dem bloßen Auge verschlossen bleiben, an denen der Wille zur Macht über den Weltraum eine Grenze findet, erweitert es das All, das wir »besitzen«. Das wahrhaft religiöse Gefühl, das den heutigen Menschen ergreift, der zum erstenmal diesen Blick in den Sternenraum tun darf, ein Machtgefühl, dasselbe, das Shakespeares größte Tragödien erwecken wollen, wäre Sophokles als der Frevel aller Frevel erschienen.

Eben deshalb muß man wissen, daß die Verneinung des »Himmelsgewölbes« ein Entschluß ist, keine sinnliche Erfahrung. Alle modernen Vorstellungen über das Wesen des sternerfüllten Raumes, oder vorsichtiger gesagt einer durch Lichtzeichen angedeuteten Ausgedehntheit beruhen durchaus nicht auf einem sicheren Wissen, das uns das Auge mittels des Fernrohrs liefert, denn im Fernrohr sehen wir nur kleine helle Scheiben verschiedener Größe. Die photographische Platte liefert ein sehr verschiedenes Bild, kein schärferes, sondern ein andres, und beide zusammen müssen erst durch viele und sehr gewagte Hypothesen, das heißt, selbstgeschaffene Bildelemente wie Abstand, Größe und Bewegung umgedeutet werden, um ein geschlossenes Weltbild zu liefern, wie es uns Bedürfnis ist. Der Stil dieses Bildes entspricht dem Stil unsrer Seele. In Wirklichkeit wissen wir nicht, wie verschieden die Leuchtkraft der Sterne ist und ob sie nach verschiedenen Richtungen variiert; wir wissen nicht, ob das Licht in den ungeheuren Räumen verändert, vermindert, ausgelöscht wird. Wir wissen nicht, ob unsre irdischen Vorstellungen vom Wesen des Lichts mit allen daraus abgeleiteten Theorien und Gesetzen außerhalb der Erdnähe noch Geltung haben. Was wir »sehen«, sind lediglich Lichtzeichen; was wir »verstehen«, sind Symbole unsrer selbst.

Das Pathos des kopernikanischen Weltbewußtseins, das ausschließlich unsrer Kultur angehört und – ich wage hier eine Behauptung, die heute noch paradox erscheinen wird – in ein gewaltsames Vergessen der Entdeckung umschlagen würde und wird, sobald sie der Seele einer künftigen Kultur bedrohlich erscheint,Vgl. Bd. II, S. 921, Anm. dies Pathos beruht auf der Gewißheit, daß nunmehr dem Kosmos das Körperlich-Statische, das sinnbildliche Übergewicht des plastischen Erdkörpers genommen ist. Bis dahin befand sich der Himmel, der ebenfalls als substanzielle Größe gedacht oder mindestens empfunden war, im polaren Gleichgewicht zur Erde. Jetzt ist es der Raum, der das All beherrscht; »Welt« bedeutet Raum, und die Gestirne sind kaum mehr als mathematische Punkte, winzige Kugeln im Unermeßlichen, deren Stoffliches das Weltgefühl nicht mehr berührt. Demokrit, der im Namen der apollinischen Kultur hier eine Körpergrenze schaffen wollte und mußte, hatte sich eine Schicht hakenförmiger Atome gedacht, die wie eine Haut den Kosmos abschließt. Demgegenüber sucht unser nie gestillter Hunger nach immer neuen Weltfernen. Das System des Kopernikus hat, zuerst durch Giordano Bruno, der Tausende solcher Systeme im Grenzenlosen schweben sah, in den Jahrhunderten des Barock eine unermeßliche Erweiterung gefunden.

Wir »wissen« heute, daß die Summe aller Sonnensysteme – etwa 35 Millionen – ein geschlossenes Sternensystem bildet, das nachweisbar endlich ist Nach dem Rande zu nimmt bei wachsender Stärke des Fernrohres die Zahl der neuerscheinenden Sterne rasch ab. und die Gestalt eines Rotationsellipsoids besitzt, dessen Äquator mit dem Bande der Milchstraße annähernd zusammenfällt. Schwärme von Sonnensystemen durchziehen wie Züge von wandernden Vögeln mit gleicher Richtung und Geschwindigkeit diesen Raum. Eine solche Schar, deren Apex im Sternbild des Herkules liegt, bildet unsre Sonne mit den hellen Sternen Capeila, Wega, Atair und Beteigeuze. Die Achse des ungeheuren Systems, dessen Mitte unsre Sonne gegenwärtig nicht sehr fern steht, wird 470 Millionen mal so groß als der Abstand von Sonne und Erde angenommen. Der nächtliche Sternenhimmel gibt uns gleichzeitig Eindrücke, deren zeitlicher Ursprung bis zu 3700 Jahren auseinanderliegt; so viel beträgt der Lichtweg von der äußersten Grenze bis zur Erde. Im Bilde der Historie, das sich vor unsren Augen entfaltet, entspricht das einer Dauer über die gesamte antike und arabische Kultur zurück bis zum Höhepunkt der ägyptischen, zur Zeit der 12. Dynastie. Dieser Aspekt – ich wiederhole: ein Bild, keine Erfahrung – ist für den faustischen Geist erhaben; Das Berauschende großer Zahlen ist ein bezeichnendes Erlebnis, das nur der Mensch des Abendlandes kennt. In der gegenwärtigen Zivilisation spielt gerade dies Symbol, die Leidenschaft für Riesensummen, für unendlich große und unendlich kleine Messungen, für Rekorde und Statistiken eine ungewöhnliche Rolle. für den apollinischen wäre er grauenvoll gewesen, eine vollkommene Vernichtung der tiefsten Bedingungen seines Daseins. Daß eine endgültige Grenze des für uns Gewordnen und Vorhandnen mit dem Rande des Sternenkörpers statuiert wird, wäre ihm als Erlösung erschienen. Wir aber haben mit innerster Notwendigkeit die unausweichliche neue Frage: Gibt es außerhalb dieses Systems etwas? Gibt es Mengen solcher Systeme in Entfernungen, denen gegenüber die hier festgestellten Dimensionen außerordentlich klein sind? Für die sinnliche Erfahrung erscheint eine absolute Grenze erreicht; durch diese massenleeren Räume, die eine bloße Denknotwendigkeit für uns sind, kann weder das Licht noch die Gravitation ein Existenzzeichen geben. Die seelische Leidenschaft, das Bedürfnis nach restloser Verwirklichung unsrer Daseinsidee in Symbolen aber leidet unter dieser Grenze unsrer Sinnesempfindungen.


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